Als es gegen 6:37 Uhr heute morgen in der Kölner Straße 11c klingelte war Siegfried zunächst etwas verärgert. Gerade und zu früh für den heutigen Tag wach geworden weil die Blase nervte, noch nicht gefrühstückt und eigentlich geneigt, noch einmal ins Bett zu steigen, warf er sich doch den Bademantel über und schlurfte zur Haustür. Der schlanke, hochgewachsene, trotzdem nicht zu große Mann mit der markanten, nach links gekämmten Stirnlocke kam ihm irgendwie bekannt vor. Dazu die alte, schon etwas abgetragene Kleidung. So etwas zog man heute doch nicht mehr an?!
»Herr König … oder darf ich Siegfried sagen? Schließlich sind wir ja alte Bekannte …«
»Ich wüsste nicht«, grummelte Siegfried.
»Doch, doch. Schon lange. Erkennst du mich den wirklich nicht?«
Siegfried schüttelte den Kopf. Lange nachzugrübeln, dazu war er noch nicht wach genug. Da begann der Fremde Verse zu deklamieren:
»Im Mondenglanze ruht das Meer,
Die Wogen murmeln leise;
Mir ward das Herz so bang und schwer,
Ich denk der alten Weise,«
Jetzt verklärte sich Siegfrieds Gesicht, sein vorhin noch ratloser Blick änderte sich in einen wissenden. Der Mann sprach weiter:
»Der alten Weise, die uns singt
Von den verlornen Städten,
Wo aus dem Meeresgrunde klingt
Glockengeläut und Beten –«
Siegfried fiel ein und übernahm:
»Das Läuten und das Beten, wißt,
Wird nicht den Städten frommen,
Denn was einmal begraben ist,
Das kann nicht wiederkommen.«
Er hielt ihm die Hand hin:
»Mensch Heinrich, alter Schwede, dass du noch mal vorbeikommst hätte ich nicht gedacht. Komm rein, ich koch uns einen Kaffee. Es ist noch alles ruhig, da können wir in Ruhe ein Schwätzchen halten.«
H.H. winkte ab.
»Nein, leider muss ich ablehnen. Zu lange kann ich nicht fortbleiben von meiner Gruft sonst kommen die alten Leiden wieder und ich bin ja froh, dass ich die los bin. Das wäre sehr unangenehm, wenn ich im Grab auch noch so leiden müsste wie in meiner Matratzengruft. Zum Geburtstag wollte ich aber allemal gratulieren. Deshalb bin ich hier.«
Er drückte Siegfrieds Hand, kräftig, fast zu kräftig, ließ dann los und verblasste langsam. Im Verblassen winkte er noch einmal und ließ einen verdutzten Siegfried im Bademantel in der offenen Tür zurück.
Nachdem Siegfried sich inzwischen angezogen hat und richtig wach ist, können auch wir ihm gratulieren und für seinen Geburtstag, für das kommende Lebensjahr und sicherheitshalber auch gleich für die mindestens zweiundvierzig folgenden alles gute Wünschen.
Herzliche Geburtstagsgrüße aus dem Taubertal
Horst-Dieter