Ehrfurcht und Dankbarkeit

  • So, wie die Frage gestellt ist, ist sie kaum zu beantworten.

    Dankbarkeit wird von den meisten Menschen vermutlich als eine positive Eigenschaft empfunden. Bei der Ehrfurcht käme es für mich auf deine genaue Definition an.

    Aber um deine Frage zu beantworten, bräuchte es zumindest eine Kurzcharakterisierung der entsprechenden Person sowie ein paar Angaben zum Kontext, in welchem diese Person besagte Eigenschaften zeigt. Unter "einer konkreten, öffentlichen, medienwirksamen und reichweitenstarken Situation" kann ich mir alles Mögliche vorstellen.

  • Ich denke auch, das ist so ohne weitere Fixpunkte nicht zu beantworten.


    Wenn Putin äußerst, dass er Stalin gegenüber Ehrfurcht empfindet und ihm seine gesamte Haltung / Linie quasi zu verdanken hat (und beide Aussagen gab es tatsächlich), ist das nicht positiv.


    Wenn das ein Newcomer über einen Künstler sagt, der ihn zur Kunst inspirierte und dem er immer noch nicht das Wasser reichen könne, wäre das sympathisch.


    Und wenn es jemand sagt, der eigentlich nur Lächerliches erreicht hat, ist die ganze Aussage so eventuell sogar unfreiwillige Ironie, weil peinlicher Pathos.

  • Danke für eure Antworten und ich habe es geahnt, die Infos sind zu wenig. Ich muss die Situation genauer beschreiben, denn nur in dieser konkreten Situation werden meiner Protagonistin Bärbel die Ehrfuchrt und Dankbarkeit zugeordnet.


    Das Kapitel handelt in Wien im Ernst-Happel-Stadion beim Konzert der österreichischen (fiktiven) Rocksängerin Petra Thal. Sie ist Mitte 50, und kam über Musical, Schlager und Pop, mit mäßigem Erfolg, Mitte der 90iger zum Hardrock und Metal und hat damit internationalen Erfolg. Sie hat ein Faible für Klassikadaptionen von Rocktiteln; sie bringt das Instrument Geige mit, und auf der Bühne sind an diesem Abend nicht nur ihre Band und sie, sondern auch ein Sinfonieorchester. In der Realität würde man Petra Thal mit Doro Pesch vergleichen können.

    Petra Thal gilt, was ihre Texte und Musikvideos betrifft, in dem sie immer wieder den Zeitgeist angreift, als "umstritten".


    Bärbel gehört zur "schweigenden Generation". Ein Begriff, der im Text zum allgemeinen Sprachwortschatz gehört, auf das Ende des ersten Kapitels in Jana Hensels "Zonenkinder" zurückzuführen ist und eine Generation beschreibt, die dadurch charakterisiert ist, dass das Narrativ eines Teiles ihres Lebens auf Unwissenheit, Rechtfertigungsdruck und Vorwurf der Opportunität stößt und um das zu umgehen, lieber schweigt.


    Bärbel wird aus dem Zuschauerraum im Stadion heraus von Petra Thal auf ihre Bühne eingeladen. Warum, wie wird sie unter den mehreren zehntausend Menschen gefunden, tut hier nichts zur Sache. Sie nimmt die Einladung an, denn sie ahnt, was für einen Song sie singen werden und dieser Auftritt der Schritt aus der "schweigenden Generation" heraus sein kann. Beide performen den Song "Steh' auf, Kopf hoch, geh' los" vom gleichnamigen 2017 erschienen Album., Der Song wiederum ist eine Adaption aus zwei anderen Songs, die Bärbel wie folgt charaktiersiert.

    Zitat

    Der Metal-Ritt auf dem Agitpropsong, den jeder kennen muss, geht los - Sag mir, wo du stehst

    ...

    Petra steht ein paar Schritte neben mir und lächelt mich an. Sie, ihre Geige, ihre Band, dass Orchester und ich sind im Song – Als ich fortging Ich gebe dem Song meine Stimme – rau, rauchig, tief.

    Beide Songs gehören zu ihrem Leben in der Zeit vor 1990,

    Der erste Song, am Genre erkennbar, wird, anders als das Original, aggressiv und und laut interpretiert Bärbel bezeichnet den Song als ein Stück ihrer Seele, als sie diese "an den Teufel verkauft hat, um zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält" und in ihrer Jugendzeit zu verorten ist. Der Song hat für sie etwas Faustisches. Sag mir, wo du stehst ist die Gretchenfrage in anderen Worten.

    Der zweite Song ist eine Ballade, die von ihr optimistisch gesungen wird und beschreibt ihre Nachdenklichkeit in dieser Zeit. Es bleibt offen, wie der Begriff 'Fortgehen' zu interpretieren ist - fortgehen in Bezug auf einen Ort oder eine Person oder fortgehen in Bezug auf Veränderungen im Denken und Handeln.


    Am Ende des zweiten Songs, er hat ein langes Outro, kniet sie mit dem linken Knie auf der Bühne, der rechte Fuß steht daneben, der Oberkörper aufgerichtet und die Arme breit. Den Beifall aus dem Stadion empfindet sie als riesig groß, überwältigend für das sie keine Worte hat und als Bestätigung, ihre Geschichte erzählen zu können, ohne dem Vorwurf der Opportunität oder Rechtfertigungsdruck ausgesetzt zu sein.

    Zitat

    Ich nehme das Mikro in die linke Hand, strecke den Arm weit von mir, fasse mit der rechten auf meine Brust, da wo mein Herz ist – links. Ich verbeuge mich vor dem Publikum – ich habe die schweigende Generation von mir abgeworfen, Ich spüre Hände auf meinem Rücken. Ich habe alles richtig gemacht; im Leben und in Wien. Warum auf keiner Bühne in Dresden, Leipzig oder Köln?

    Es gibt eine Besonderheit an ihr - sie ist barfuß auf der Bühne, was sie diese besonders intensiv spüren lässt.


    In nächsten Kapitel bekommt sie ein Feedback von einem christlich geprägten Kollegen, der, das wusste sie nicht, auch im Stadion war.

    Zitat

    „Du stehst barfuß auf der Bühne, das hat niemand erwartet. Du warst der Hingucker auf der Bühne, du hast den Focus auf dich gezogen.

    ...

    Und, vor allem deine Geste nach den beiden Titeln, sich bei dem Publikum zu bedanken. Du kniest mit einem Bein auf der Bühne, das andere steht davor, die rechte Hand auf deiner Brust auf der Seite des Herzens - links, die andere Hand mit dem Mikro weit von dir gestreckt und verbeugst dich. Auf der einen Seite hast du selbstbewusst das Stadion gerockt, bist nicht im Schatten Petras verschwunden, du hast sie herausgefordert. Das war eindeutig zu sehen und zu hören. Dann, auf der anderen Seite, kam da was rüber“, er macht eine Pause, „was ich nur mit Ehrfurcht und Dankbarkeit beschreiben kann. Der Song Steh auf ist ganz laut und ganz leise, versöhnlich und aggressiv; dein Kniefall hatte in diesem Moment was von großer Friedfertigkeit.“

  • Das ist mir viel zu drüber, sorry.


    Zum einen klafft imA zwischen dem extremen Pathos, dem 'heroischen' Sprachstil und dem doch recht alltäglichen Setting bzw. der Figur: Musikbusiness / Sängerin ein zu großer Spalt. Die Diskrepanz zwischen Stil und Inhalt lässt Humor / Ironie entstehen - nach dem Prinzip funktionieren ja u.a. Monty Pythons. Vorsicht, dass das nicht unfreiwillig passiert.

    Zum anderen - und das ist nur mein Leseeindruck, keinesfalls eine Unterstellung an dich als Autor - hat es sehr starke Mary Sue-Vibes. Ich finde so ungebrochene Überhöhungen auch generell sehr unangenehm, noch viel mehr, wenn es heftige religiöse Konnotationen bzw. biblischen Stil gibt. Da clashen auch schnell zwei durch 2.000 (oder zuallermindest 500) Jahre getrennte Epochen, ggfs. sogar Kulturen.


    Würde auch gucken, ob du damit den Leser nicht viel zu stark lenkst, ihm eine Haltung zur Figur (durch die Reaktion und Beschreibung einer zweiten Figur) andienst oder vorgibst. My 5 Cent ...

  • @Tom/@KatIa: Aus meiner Sicht gehören Ehrfurcht und Pathos zusammen. Ehrfurcht ist das überhöhte Empfinden einer Person für ein Gegenüber, das als übergroß, übermächtig erscheint und mit rationalen Mitteln nicht erklärt werden kann. Pathos ist für mich ein Begriff, der nicht negativ besetzt ist.


    @KatIa:

    Zitat

    Würde auch gucken, ob du damit den Leser nicht viel zu stark lenkst, ihm eine Haltung zur Figur (durch die Reaktion und Beschreibung einer zweiten Figur) andienst oder vorgibst.

    Diesen Einwand kann ich nicht nachvollziehen. Eine Person gibt eine Wertung über eine andere ab, der kann der Leser folgen oder auch nicht. Es werden doch im Verlaufe einer Handlung immer wieder Wertungen von Personen untereinander abgegeben.

    Dieser Wertung erfolgt in einer Diskussion über Bärbels Auftritt; der Leser hat dort eine Vielzahl von kontroversen Wertungen zur Auswahl. Ich verstehe nicht ganz, was das mit Lenken des Lesers zu tun hat. Der Leser wird doch nicht gezwungen, sich irgendeiner Meinung, die die Figuren äußern, anzuschließen.

  • …. Pathos ist für mich ein Begriff, der nicht negativ besetzt ist.

    Für mich schon. Damit wird eine Sache oder Situation "aufgebauscht" oder "aufgeblasen".

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Pathos ist für mich ein Begriff, der nicht negativ besetzt ist.

    "Pathos" ist ein Werkzeug der Rhetorik, keine menschliche Eigenschaft. Du überzeichnest und verstärkst das, was Du für Aspekte der Leidenschaft und dessen, was Du "Ehrfurcht und Dankbarkeit" (wem gegenüber eigentlich?) nennst, und Du pulverisierst es damit. Es wird im Wortsinn zugekleistert. Deine Schilderungen erregen bei mir starken Widerwillen.

  • Davon abgesehen. Ehrfurcht und Dankbarkeit (quasi in einer Linie mit "Demut" stehend) sind komplexe, nicht selten ethisch fundamentierte Verhaltens- und Denkweisen, die sehr schwierig zu vermitteln sind, sie sind mit Persona und Situationen streng verknüpft, so sie denn echt sind. Es sind aber auch Mittel der Manipulation und der Selbstinszenierung, vor allem dann, wenn sie öffentlich zur Schau gestellt werden. Wenn ich ganz persönlich ehrfürchtig bin, teile ich das eigentlich nicht unmittelbar mit, und bei Dankbarkeit verhält es sich noch komplexer. Vor allem, wenn es sich um diese abstraktere Dankbarkeit handelt, ein allgemeines Dankbarkeitsgefühl, diese Begeisterung darüber, etwas sein, miterleben, fühlen zu dürfen, fast schon im Sinne von "gesegnet sein", ohne das notwendigerweise religiös konnotieren zu müssen.


    In meiner eigenen Schreibe kommt derlei eher selten vor.

  • Diesen Einwand kann ich nicht nachvollziehen. Eine Person gibt eine Wertung über eine andere ab, der kann der Leser folgen oder auch nicht. Es werden doch im Verlaufe einer Handlung immer wieder Wertungen von Personen untereinander abgegeben.

    Dieser Wertung erfolgt in einer Diskussion über Bärbels Auftritt; der Leser hat dort eine Vielzahl von kontroversen Wertungen zur Auswahl. Ich verstehe nicht ganz, was das mit Lenken des Lesers zu tun hat. Der Leser wird doch nicht gezwungen, sich irgendeiner Meinung, die die Figuren äußern, anzuschließen.

    Du als Autor solltest im Idealfall auf diese Art das Bild des Lesers lenken. Aus den unterschiedlichen Meinungen zu der Person ergibt sich für den Leser ein Bild der Figur, wie ein Puzzle. Und da sollest du als Autor dafür sorgen, dass die Puzzleteile zusammenpassen. Und das versuchst du ja im Grunde mit dem Ausschnitt auch, der mir allerdings auch etwas zu dick ist - ich frage mich, ob eine Person wirklich so reden würde. Das scheint mir wenig glaubwürdig. Es wirkt, als wolltest du in der wörtlichen Rede etwas unterbringen, was sich aus der Szene selbst für den Leser nicht ergibt.

  • Hallo Dietmar,


    nicht wenige Menschen neigen zu Pathos und dies umso mehr, wenn sie von etwas stark berührt sind und von ihren Emotionen überwältigt werden. Aber wenn es dabei bleibt, wirkt Pathos auf Außenstehende befremdlich, häufig auch einfach nur peinlich. Um Pathos erträglich werden zu lassen, braucht es einer nachfolgenden Abschwächung, am besten durch das Stilmittel der Selbstironie. Woody Allen zum Beispiel beherrscht diese Kunst.

    Bärbel hingegen zeigt nicht einmal ansatzweise Anzeichen von Ironie und Selbstironie.


    Bislang erfolglos suche ich in den vorgestellten Textbeispielen und deinen ergänzenden Kommentaren nach einem Bezug zu den titelgebenden Begriffen Dankbarkeit und Ehrfurcht. Zwar werden beide Begriffe von Bärbels zufällig anwesendem Kollegen benutzt, dennoch erschließt sich mir nicht, worin diese Dankbarkeit und Ehrfurcht besteht und worauf sie sich bezieht. Wer empfindet sie? Bärbels Kollege? Aus welchem Grund empfindet er so? Oder ist es Bärbel selbst, die so empfindet? Ist sie dankbar, unter zehntausenden Menschen von ihrem Idol ausgewählt und auf die Bühne geholt zu werden? Ist sie dankbar, die Hauptfigur in diesem für sie magischen Moment zu sein? Dankbar für die Begeisterung der anwesenden Menschen? Und was die Ehrfurcht anbelangt, tappe ich noch mehr im Dunkeln. Ehrfurcht vor wem oder vor was? Nur nebenbei bemerkt, sträuben sich bei einem Begriff, der aus den beiden Wörtern Ehre und Furcht zusammengesetzt ist, meine sämtlichen Nackenhaare. Respekt, Würde ... damit könnte ich etwas anfangen.


    Bärbels „christlich geprägter“ Kollege wirkt auf mich wie ein bestellter Claqueur, dessen einzige erkennbare Funktion darin zu bestehen scheint, das auszusprechen, was Bärbel vermutlich empfindet, es aber selbst nicht sagen kann, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Und wozu dient der Hinweis auf den christlichen Glauben von Bärbels Kollegen? Weil vermutlich nur ein Mensch mit einem von Schuld und Sünde imprägnierten Lustempfinden Schweißausbrüche bekommt, wenn eine Frau vor ihm und zehntausenden anderen Menschen barfuß(!) auf einer Bühne steht und singt?

    Bärbel wird aus dem Zuschauerraum im Stadion heraus von Petra Thal auf ihre Bühne eingeladen. Warum, wie wird sie unter den mehreren zehntausend Menschen gefunden, tut hier nichts zur Sache.

    Doch, das tut sehr wohl etwas zur Sache, denn mit dem Grad der Plausibilität des Anlasses für Bärbels „Auserwähltsein“ steht und fällt die Glaubhaftigkeit der gesamten Szene. Bärbel ist weder Frodo noch Neo oder Luke Skywalker. Die retten wenigstens die Welt oder gleich das ganze Universum. Bärbel hingegen versucht „nur“ sich selbst zu retten. Ich will damit nicht sagen, dass sie mir deshalb völlig unsympathisch ist, aber an „Heldinnen“ und „Helden“, die nur um sich selbst kreisen, verliere ich sehr schnell das Interesse. Immer geht es nur um Bärbel, Bärbel, Bärbel. Dieses ungebremste „sich wichtig nehmen“ und der damit korrelierende Drang zur Selbstüberhöhung schließen Bärbel für mich als Identifikationsfigur aus. Katla bringt diesen Aspekt mit dem Begriff „Mary Sue-Vibes“ exakt auf den Punkt.


    Wenig hilfreich sind auch die wiederkehrenden Verweise auf die „schweigende Generation“. Ich kenne viele „schweigende Individuen“, Menschen, die aufgrund erlittener Traumata – körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch, der frühkindliche Verlust eines Elternteils oder sogar beider Eltern, eines Bruders oder einer Schwester et cetera et cetera – zu einem solchen „schweigenden Individuum“ geworden sind, die die Verantwortung für das Geschehene oft bei sich selbst suchen und darüber nicht selten sogar Schuldgefühle entwickeln, die aber, falls sie ihr Trauma nicht weitgehend verdrängt haben, irgendwann damit beginnen, das Geschehene aufzuarbeiten und sich auch mit ihrer eigenen Reaktion darauf auseinanderzusetzen, sie im günstigen Fall die Fragen nach Schuld und Schuldhaftigkeit als maßgeblichen Kriterien an einem gewissen Punkt hinter sich lassen und sich stattdessen auf die Fragen konzentrieren Wer bin ich?, Wer will ich sein? und Was kann ich tun, um zu diesem Menschen zu werden?

    Und dann frage ich mich, ob die Identifikation mit einer „schweigenden Generation“ oder einer anderen Gruppe, der Unrecht widerfahren ist, eine solche Aufarbeitung auf einer persönlichen Ebene nicht hemmt oder gar verhindert. Ich sehe die Gefahr, dass dies zu einer einseitigen Fokussierung auf eine Tätergruppe oder auf „Umstände“ führt und dadurch zu der Vorstellung verleiten mag, dass die „Erlösung“ gleichfalls von außen kommen müsse.


    Bei Bärbel sehe ich diese Gefahr sehr deutlich. Sie wirkt auf mich wie eine nach Beifall und Anerkennung lechzende Jugendliche, beherrscht von Größen- und Allmachtsfantasien, die es ihr ermöglichen, die Realität sowie die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit auszuhalten. Und dazu braucht es dann die ganz große Bühne, so wie hier das Ernst-Happel-Stadium.


    Sorry, Dietmar, aber so wie die Figur angelegt ist, steht sie zwischen mir und der Geschichte.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Tom: Also Ehrfurcht und Demut sind auch für mich Begriffe, die aus dem religiösen Bereich kommen; aber Demut interpretiere ich mit "jemanden zu Diensten sein" und das mit einer gewissen Unterwürfigkeit. Bei Ehrfurcht trifft beides nicht zu. Bärbel ordnet sich die Eigenschaft Ehrfurcht nicht selber zu, das wäre unglaubwürdig, da sie atheistisch ist. Es ist eine Fremdzuweisung, die die Außenwirkung ihres Handelns auf eine andere Person beschreibt. Nein, Bärbel kann die Zuweisung der Eigenschaft Ehrfurcht durch ihren Kollegen nicht zurückweisen, relativieren oder womöglich ins Ironische ziehen. Sie würde damit die Weltanschauung des Kollegen und seine Person an sich, immerhin fallen diese Worte in einer großen Gruppe, klein machen oder sogar ins Lächerliche ziehen. Das ist eine Eigenschaft, die Bärbel völlig fremd ist. Es ist ein Hinweis darauf, das Bärbel gegenüber Menschen, die ganz anders denken als sie, Toleranz besitzt. Wäre der Kollege nicht religös, würde er sicher nicht den Begriff Ehrfurcht verwenden.


    @Juergen P:

    Wie und warum kommt Bärbel auf die Bühne? Sie ist 57, also ist jedes Teenagergehabe ist auszuschließen; im Gegenteil, sie wird in dieser großen Öffentlichkeit nichts tun, was sie ins Lächerliche ziehen könnte.

    Die Lösung ist ganz einfach - Petra Thal und ihre Band wollen Bärbel auf ihrer Bühne haben. Sie haben ein, zwei Tage vor dem Konzert Videos von Bärbel und Band gesehen, in dem sie genau den Titel covern, den sie nachher singen werden. Sie überzeugt im Video mit einer markanten und unverwechselbaren Stimme, die einen hohen Wiedererkennungswert. Petra Thal hat vor, für ein späteres Konzert, Bärbel und Band einzuladen.

    Petra, der Bassist und der Gitarrist kommen zu Konzertbegin aus verschiedenen Stellen des Publikums zur Bühne und sie singt ein Song, der dem Pop zu zuordnen ist. Findet sie jemand, bei dem sie der Meinung ist, der möchte den Refrain singen, bekommt er das Mikro in die Hand. Peter und Bärbel stehen in der vordersten Reihe im Inneraum unterhalb der Bühne, der Bassist kommt zur Konzertbegin vorbei, schaut Bärbel ins Gesicht und ist der Meinung, das muss die Sängerin der Coverband sein, instruiert über einen Techniker Petra sie für einen Refrain auszuwählen, falls sie zum Mikro greift, um sie zu hören. Genau das passiert dann, Petra bedankt sich mit "Danke, Bärbel!" die prompt zusammenzuckt und damit ist klar, zumindest die Sängerin der Coverband ist im Stadion. In der Konzertpause kommt die Band auf Bärbel zu, laden sie ein und sie sagt zu. Bärbel überzeugt Backstage die Band und damit steht sie auf der Bühne. Das war ganz kurz und emotionslos ihr Weg auf die Bühne - im Text passiert da noch etwas mehr.


    Ehrfurcht - mit dem Weltbild des Kollegen ist die Art des Handelns und der nonverbalen Kommunikation, zwischen Bärbel und Publikum zum Schluß ihres Auftrittes, ein Ausdruck von Ehrfurcht. Die Motivation des Kollegen wird nicht weiter vertieft, sie ist meiner Meinung nach auch unerheblich. Es ist seine Überzeugung in diesem Moment und die bringt er zum Ausdruck. Warum muss das Motiv seiner Äußerung hinterfragt werden? Er kennt Bärbel als Kollegin (und als Sängerin einer Coverband). Die Situation im Stadion ist eine ganz andere, als die Bühne auf dem Marktplatz beim Stadtfest. Aus seiner Sicht, meistert seine Kollegin einen Auftritt, der für ihn bis zu diesem Moment unvorstellbar war. Er hat hohen Respekt vor ihrem Mut und ihrer Leistung. Er empfindet ihre Position auf der Bühne, habe ich eingangs beschrieben, als eine Geste an das Publikum und die Musiker, die ihn beeindruckt und, die Interpretation wäre meiner Meinung nach möglich, auch etwas von Bescheidenheit hat. Ein Teenager, eine junge Frau würde sich so nicht von der Bühne verabschieden. Die würden eher den Bandmitgliedern um den Hals fallen. Eine 57-jährige Frau wird wiederum das nicht machen, das wirkt albern.


    "Schweigende Generation", meine Interpretation ist eine völlig andere und bezieht sich auf Jana Hensel, Zonenkinder, Ende 1.Kapitel. Die Beschreibung ist dort derartig präzise, dass es keine weiterer Erklärung bedarf.

    Es mag sein, dass Bärbel auf Leser nervig oder egozentrisch wirkt. Der Text ist aus ihrer Ich-Perspektive geschrieben, insofern zieht sie die Handlung immer wieder auf sich. Das ist ein Problem der Ich-Perspektive, dass eine sehr starke Zentrierung auf die Person vorhanden ist. Es gibt ja Leser, die grundsätzlich keine Ich-Perspektive lesen wollen, vielleicht gerade aus diesem Grund


    Das ganze Kapitel hat auch eine dramaturgische Bedeutung. Bärbel muss ja herausfinden, was hat es mit den beiden Frauen, die ihr ähnlich sehen, und den beiden Ringen auf sich hat. Bisher war ihr Suchen plan- und ziellos. Einzig ihre Kollegin Anja rückt mit ersten Infos raus, die Bärbel völlig überraschen.

    Bärbel muss etwas tun, vor was sie seit ihrer Jugend zurückschreckt - wer sind meine Eltern? Es stimmt da was nicht, weder Mutter nach Vater haben eine derartige Stimme wie sie; ihre schwarzen, vollen Haare und ein markantes Muttermal im Gesicht findet sie auch nicht bei ihnen. Und auf ihre Stimme wird sie nachdrücklich von Petra Thals Band hingewiesen.

    Alle um sie herum haben einen guten Grund zu schweigen, Bärbel muss jetzt Fakten finden. Ihr Auftritt beim Konzert gibt ihr so viel Kraft und Mut, dass sie sich zielgerichtet auf den Weg macht, Fakten zu finden.

  • Dieser Wertung erfolgt in einer Diskussion über Bärbels Auftritt; der Leser hat dort eine Vielzahl von kontroversen Wertungen zur Auswahl. Ich verstehe nicht ganz, was das mit Lenken des Lesers zu tun hat. Der Leser wird doch nicht gezwungen, sich irgendeiner Meinung, die die Figuren äußern, anzuschließen.

    Hallo Dietmar , ich als Leser - das mag dir selbstverständlich ganz anders gehen - will keine Wertungen, die der Autor direkt oder indirekt durch seine Figuren vorgibt. Ich möchte, dass der Autor Ambivalenz einbaut, auch eine deutliche Distanz zu seinen Figuren hat und mir Leser es überlässt, wie ich das alles einzuordnen habe. Dazu gehört, dass ich die Figuren interpretieren kann - das geht bei deinen Leseproben nicht. Ich bin in deinem Textbeispiel gezwungen, die Sängerin - wie mit Scheuklappen - durch die Beschreibung ihres Bewunderers zu sehen (was zu recht oder unrecht wie die Haltung des Autors zu seiner Protagonistin klingt).


    Gerade mit religiösen Konnotationen liest sich das auch schnell wie ein besserer Wachtum (auch dort geht es nicht um die freie Deutung des Lesers, sondern es ist Propaganda mittels Fiktion / Erzählen: Die Figuren dienen lediglich als Vehikel, eine bestimmte Haltung an den Leser zu bringen; ihm wird da keine andere Sichtweise ermöglicht oder zugestanden).

    Aus meiner Sicht gehören Ehrfurcht und Pathos zusammen. Ehrfurcht ist das überhöhte Empfinden einer Person für ein Gegenüber, das als übergroß, übermächtig erscheint und mit rationalen Mitteln nicht erklärt werden kann. Pathos ist für mich ein Begriff, der nicht negativ besetzt ist.

    Ich habe absolut nix gegen Pathos, im Gegenteil - in Beowulf. Oder Shakespeares Coriolanus, durchaus auch Shin Godzilla. Damit Pathos wirken kann, muss eine gewisse Gewichtigkeit und Bedeutungsschwere vorhanden sein - eine, die über die Empfindungen des Einzelnen (des Autors) hinausgehen. Funktionierendes Pathos hängt mit dem Erhabenen zusammen. Das ist bei z.B. einem Popkonzert wie beschrieben so nicht gegeben.

    Dann sehe ich das wie meine Alternative 3 (Ironie, egal ob freiwillig oder unfreiwillig). Das ist wie bei Monty Pythons wenn ein Antagonist mit donnernder Stimme deklamiert: "I demand ... I demand ... A SHRUBBERY!" Da greift: Diskrepanz zwischen Stil und Inhalt ergibt Humor.

    Wie wirkt auf euch eine Person,

    ... hast du gefragt. Deine Frage hab ich nicht als Pitch oder Marketing aufgefasst, sondern eben als offenes Interesse. Ich bin jetzt grad bissl verwirrt, weil du dich mit Händen und Füßen gegen die ehrlichen Antworten wehrst. Es ist dein Text, du kannst doch schreiben, was und wie du magst.

  • Ehrfurcht und Dankbarkeit sind durchaus religiös konnotierte Begriffe, aber Demut - abgleitet von "Gesinnung eines Dieners", Dienstmütigkeit - hat seit der Abschaffung von Knechtschaft und Sklaverei nur noch eine solche Konnotation.


    Aber - geschenkt. Du willst über Bärbel reden. 8)

  • Geht es hier eigentlich nicht eher um die Frage, ob Bärbel auf diesen religiösen, aus der Zeit gefallenen und seltsam daherredenden Kollegen ehrfürchtig und dankbar wirkt? Wenn du das so inszenieren möchtest, stellt sich die Frage doch wiederum gar nicht. Höchstens, ob das die passenden Attribute sind? Andererseits empfindet er es so. Ende.

    Mal davon abgesehen, dass das Wort "Ehrfurcht" durchaus auch von nicht-religiösen Menschen benutzt wird und benutzt werden darf.

    Wenn ich die beschriebene Situation auf der Bühne mit einem Wort zusammenfassen müsste, wär es "fremdschämen".

  • Wenn ich die beschriebene Situation auf der Bühne mit einem Wort zusammenfassen müsste, wär es "fremdschämen".

    Ich wollte es nicht ganz so hart formulieren, aber: Ja. :nick

  • Tom - Das bezieht sich natürlich nur auf das, was ich tatsächlich in diesem kurzen Abschnitt erfassen kann. Vielleicht würde ein bisschen davor und ein bisschen danach einiges deutlicher und/oder verständlicher machen.

    Mir fällt der Zugang vor allem wegen der gestelzten Sprache so schwer. Ich glaube Dorrit schrieb auch schon, dass so niemand spricht. Es soll ein modernes Setting sein, aber die Sprache liest sich, wie aus dem frühen 19. Jahrhundert.