Beiträge von Tom

    Als ich mit dem konsequent durchgegenderten Podcast „Wer hat Angst vorm Drachenlord“ des wirklich bemerkenswerten Khesrau Beroz angefangen habe, dachte ich auch, dass ich den Scheiß (also diesen Teil) kaum aushalten werde, aber dann habe ich‘s irgendwann fast nicht mehr bemerkt. Ich gehöre zwar nicht zu diesen Leuten, aber wem es wichtig ist, das zu tun, sollte man trotzdem zuhören, auch, wenn es schwerfällt. Das macht pluralistische Gesellschaften aus - zuzuhören, auch wenn es schwerfällt. Wobei das im genannten Fall nach zwei Folgen nicht mehr zutraf.

    Hier noch der Link zum Buch:


    ASIN/ISBN: 3446279369


    Mensch, "Dorfpunks" ist echt schon zwanzig Jahre her. Nicht zu fassen.


    Ich habe Rocko Schamoni jederzeit als eine Art "Strunk light" wahrgenommen, auch, was die Ausdrucksfähigkeit und Originalität anbetrifft (Rocko und der Heinzer sind bzw. waren ja Spezis). "Dorfpunks" war vor allem erzählerisch das lahmere "Fleisch ist mein Gemüse", und was einen mitnahm, das war die Authentizität daran (gilt für beide Texte). So verhält es sich mit "Pudels Kern" wohl auch. Aber Schamoni ist mir zu oft zu lapidar, das war auch in "Sternstunden" und in "Fünf Löcher" so. Nicht wirklich ein guter, tiefgehender Erzähler, jedenfalls im erkennbar fiktionalen Anteil seiner Sachen.

    Ich habe gerade noch einmal das zweite Kapitel von "Der Prozess" gelesen und finde darin ziemlich viel Humor, und zwar sehr direkten. K. wird telefonisch darum gebeten, am Sonntag zum Verhör zu kommen (es ginge auch nachts, aber da wäre K. möglicherweise nicht "so frisch"), und kurz nach dem Anruf bittet ihn der Stellvertretende Direktor, am Sonntag zu einem Ausflug mitzukommen, was wichtig wäre, um die Situation in der Behörde zu entspannen, aber K. hat gerade zugesagt, sich verhören zu lassen, und dabei übrigens vergessen, nach der Uhrzeit zu fragen usw. usf. Da ist viel Komik drin, fast schon Slapstick. Okay, der gesamte Text ist nicht komisch, das Thema ist nicht komisch, die Situation, in der sich K. befindet, auch nicht, aber auch ohne biografische Hinweise finde ich das ... nunwohl, nicht zum Schreien, aber doch teilweise durchaus lakonisch und amüsant (nicht zuletzt natürlich auch wegen der maniriert erscheinenden Sprache).

    Mmh. Seit seinem Tod spekulieren die Leute in unterschiedlichen Lesarten und unter Nutzung unterschiedlicher Quellen und Indizien (zuweilen auch derselben) über Kafkas psychischen Zustand, weil sie sich erhoffen, dadurch die "richtige" Perspektive auf sein Werk zu finden. Ich finde das eigenartig. Und ich frage mich, ob das wichtig ist, ob Kafka nun wirklich der Depressiv-Insichgekehrte war, als der er uns generationenlang verkauft wurde, oder ob er (auch) geulkt hat und das reine, freie Glück wenigstens zeitweise kannte. Ich habe "Der Prozess" in der elften Klasse lesen müssen und hatte da wenig Ahnung, hatte von Kafka kaum gehört, und ich empfand den Text (wir haben nur ein paar Kapitel gelesen, wenn ich mich recht erinnere) als mäßig bedrohlich und etwas verwirrend, aber auch als sehr trocken und irgendwie ... bürokratisch. Ich weiß tatsächlich noch, dass es darum ging, dass die Hauptfigur (K.?) sonntags zu seltsamen Verhören gehen sollte - ein Gedanke, der mich seinerzeit dazu gebracht hat, den ganzen Text abzulehnen. ;) Irgendwo in den Regalen steht die bei "Zweitausendeins" gekaufte Gesamtausgabe, und vielleicht versuche ich mich nochmal ausgerechnet an diesem Roman, aber was ich eigentlich sagen will: Ich frage mich, wozu das gut sein soll, wenn aus der Biografie des Schriftstellers eine Anleitung dafür abzuleiten versucht wird, wie sein Zeug zu verstehen und aufzufassen ist. Und die Art der Indiziensuche ist auch ein wenig befremdlich. Jeder Mensch hat seine Momente, in denen er Gemütszustände fast aller Art durchlebt, und nur der Hinweis darauf, dass es dieses und jenes zeitweise gegeben haben mag oder dass Kafka trotz der vermuteten schwierigen häuslichen Verhältnisse lange "freiwillig" bei seinem Vater gelebt hat, reicht zumindest mir nicht für ein psychologisches Gutachten. Mit dem ich auch nichts anzufangen wüsste. :achsel

    Dietmar: Das ist auch so. In dem Moment, wo Du das @-Zeichen tippst und direkt daran (und zwar in absolut übereinstimmender Schreibweise) einen Forennutzernamen, klappt sich eine Liste mit Vorschläge aus, und ganz wichtig ist, dass Du daraus dann einen dieser Vorschläge auswählst - nur so wird der Link zum Profil eingefügt. Wenn Du nur "@Dietmar" schreibst und das nicht machst, steht da nur "@Dietmar" im Text.

    Das Schema F darf ruhig mal aufgebrochen werden. Es muss eben nur gut gemacht sein.

    Es gibt ja auch überhaupt kein "Schema F", sondern hin und wieder etwas, das sich eingebürgert hat, das viele machen, wie mit dem klugen Zitat ganz am Anfang oder mit dem simplen Wort "Ende" am Ende, das eigentlich kein Mensch braucht, weil es sich schlicht aus der Physik der Situation ergibt: Es kommen keine Seiten mehr.


    Ich lese gerade "Unabhängigkeitstag" von Richard Ford, das - wie all seine Frank-Bascombe-Romane - auf einer sehr, sehr langen Strecke fast nichts erzählt, und das sprichwörtlich vom Hundertsten zum Tausendsten kommt, das seinen eigenen Erzählfluss immer wieder unterbricht, das manchmal die Leser und -innen unvermittelt direkt anspricht, das die wenigen Szenen, die es gibt, in fast schon unbegreiflicher Weise ausdehnt, und das trotzdem wahnsinnig spannend zu lesen ist, so ähnlich wie Stewart O'Nans "Abschied von Chautauqua" (okay, das ist etwas weniger spannend zu lesen, und O'Nan hat es selbst mal als "The big, fat boring one" bezeichnet, aber ich liebe es trotzdem), einfach weil es so gut und so klug gemacht ist, und weil man diesem Frank Bascombe gerne zuhört, diesem Durchschnittstypen, der keine Ambitionen hat, aber seine Mitmenschen aufs Genaueste beobachtet. Jeder Lektor, jeder Mensch im Literaturbetrieb würde Dir davon abraten, einen solchen Roman so zu schreiben, und wenn Du es trotzdem getan hast, werden Dir alle erzählen, dass das keiner lesen will, mit diesem Aufbau, dieser Erzählweise, dieser Handlung. Aber Ford hat dafür den Putlitzer und den Faulkner bekommen, als einziger Autor, dem dieses Double bislang gelungen ist. Was bitte nicht als Ratschlag misszuverstehen ist, denn nur wenn man mit allem bricht, was alle anderen tun, kommt dabei nicht automatisch ein bahnbrechendes Werk zustande.


    Romane haben keine vorgegebene Struktur. Das, was die Literaturwissenschaft macht, ist eine nachträgliche Betrachtung, ist Empirie. Wir, die Autoren und -innen, wir formen, wie sich das entwickelt. Wir können Strukturen verwenden, die andere schon erfolgreich eingesetzt haben, oder wir können es auch ganz anders machen. Völlig anders. Hauptsache, und das ist die entscheidende Wahrheit in Frieckos Anmerkung, es ist gut gemacht. Die Form, die wir wählen, und wenn sie noch so ungewöhnlich und originell ist, muss mit der Funktion des ganzen eine Einheit bilden, eine Symbiose. Nichts darf sich dem anderen unterwerfen. Aber auch das ist keine in Granit gemeißelte Wahrheit. Wie sagte schon der große Philosoph N. Ike? Just do it.

    Das geht alles, und alles hat seine Vor- und Nachteile. Man kann diese frühere oder Vor-Geschichte, wenn sie denn besonders wichtig ist und/oder sogar Aspekte einer Katharsis erfüllt, auch komplett ausklammern und dem gesamten Text als Prolog voranstellen, und dann ist die Szene, in der A B später im Text davon erzählt, sehr kurz, weil nur (indirekt) auf den Prolog verwiesen wird (also den Lesern und -innen klar gemacht wird, dass es jetzt um die Prologszene geht) und wir lediglich Bs Reaktion erleben können, falls das relevant ist. Die technische Umsetzung hängt davon ab, welche Bedeutung es im konkreten Projekt hat. Viele Wege führen nach Rom, aber Du kannst schnell fahren und wenig Landschaft erleben oder umgekehrt oder, oder, oder. Man kann Dich aber auch vorher anästhesieren und Du erfährst nie, wie Du hingekommen bist. ;)

    Lässt sich das Werk im E-Book-Format lesen?

    Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Es hat eine Kapiteleinteilung, einige Abschnitte sind komplett kursiv, und dann gibt es zwischendrin die Zeichnungen, aber damit hat es sich auch schon. Aber ich habe die Papierfassung gelesen, die übrigens etwas merkwürdig hergestellt ist - man muss fast Gewalt anwenden, um die Seiten bis zur Klebung aufzublättern.

    Anstrengend, aber sehr, sehr lesenswert


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    Im Jahr 1979 zieht eine knapp fünfundzwanzigjährige Frau (mit den Initialen „S. H.“) nach New York, weil sie Schriftstellerin werden und dort Motive und Figuren für ihren ersten Roman sammeln will. Im Jahr 2017 erinnert sich die zweiundsiebzig Jahre alte S. H. an jene Zeit. Dabei helfen ihr lange und sehr ausführliche Tagebucheinträge von damals, die die junge S. H. in ein Mead-Heft geschrieben und an „Liebe Seite“ adressiert hatte. Die dritte Textebene stellen Fragmente aus jenem Kriminalroman dar, an dem die junge Autorin gearbeitet hat. Es gibt auch noch eine vierte, denn Damals-S.H., die den Spitznamen „Minnesota“ trug, konnte durch die dünnen Wände ihres schäbigen Appartementhauses hören, was eine Nachbarin namens Lucy Brite von sich gab. Sie begann, auch das akribisch aufzuzeichnen, was etwas einfacher wurde, als sie ein Stethoskop zur Hilfe nahm und aus dem unfreiwilligen Zuhören ein aktives Belauschen wurde. Als es in S.H.s Wohnung zu einem dramatischen Vorfall kommt, greift die bislang unbekannte Nachbarin beherzt ein, und es stellt sich heraus, dass die Vermutungen nur marginal mit den Tatsachen korrelierten – was keinesfalls bedeutet, dass die Spekulationen ein Ende haben.


    Fast fünfzig Jahre nach den Geschehnissen versucht die Gegenwartsfigur, die Lücken zu füllen, die die Notizen lassen, zu interpretieren, was tatsächlich geschehen ist, und sich dem vergangenen Ich zu nähern, es zu verstehen, auch zu kritisieren, es mit dem Gegenwarts-Ich zu vergleichen. Es geht aber vor allem um Rollen, um Klischees und um patriarchalische Strukturen allüberall, in den Familien, in der Kunst, in der Bildung, in der Wirtschaft, der Wissenschaft und in allen sozialen Teilsystemen. Die junge S.H. wird bereits vom eigenen Vater auf ihr vermeintlich geschlechtsverursachtes Schicksal reduziert, und wie gebildet und kultiviert das Umfeld auch sein mag – eine attraktive junge Frau wird vor allem anderem als attraktive junge Frau wahrgenommen und behandelt, was letztlich auch die Selbstwahrnehmung stark beeinflusst, da es unmöglich scheint, sich dem zu entziehen, wenn man denn ein Sozialleben haben möchte.



    Neben dem bei Hustvedt jederzeit präsenten Thema Misogynie reflektiert die Autorin einen wesentlichen Abschnitt der eigenen Historie, stellt ihrem vergangenen Ich kritische Fragen, aber vor allem der Gesellschaft, die sich zum Zeitpunkt der Niederschrift nach acht Jahren Obama soeben anschickt, den organenen Donald zum Präsidenten zu küren, also eine Ikone der Rückwärtsgewandtheit, eine Symbolfigur vor allem für jene, die sich die „guten“ alten Zeiten zurückwünschen, und damit auch eine Welt der klareren (und für sie selbst vorteilhaften) Rollenverteilung.


    Wie immer bei Siri Hustvedt ist die Lektüre, die mit klugen Verweisen gespickt ist und voraussetzt, dass man entweder ebenfalls alles (einzuordnen) weiß oder (wie in meinem Fall) dazu bereit ist, sie zu unterbrechen, um Quellenforschung zu betreiben, vor allem Arbeit. Es ist eine Arbeit, die sich lohnt, die nachdenklich stimmt, die anregt, sich und das Umfeld und die Gesellschaft noch kritischer zu betrachten, aber diese Arbeit ist manchmal auch ein bisschen langweilig, wie ich zugeben muss, und nicht immer ist erkennbar, welchen Zweck die Autorin im Sinn hatte, als sie niederschrieb, was sie niederzuschreiben müssen meinte. Der nach meinem Gefühl zu lang geratene Text ist auch kein „Roman“, wie das verschämte kleine Wort unten am Rand des Covers suggeriert, sondern eine Collage und ein Gewebe, oft sogar dicht am Sachtext, und illustriert mit Zeichnungen aus Hustvedts Feder. „Damals“ ist aber auch ein im besten Sinne sehr leidenschaftliches Buch, gewürzt mit einer Prise Melancholie. Hustvedt zieht Bilanz, nicht nur in Bezug auf sich selbst, und kommt dabei nicht nur zu guten Ergebnissen.


    Notiz an mich selbst: Ich muss endlich was von Djuna Barnes lesen.


    ASIN/ISBN: 3498030418

    Ich bin noch unentschlossen, ob ich mir das anschauen will. Ich finde den Kehlmann-Hype inzwischen unerträglich, obwohl das, ich weiß, ein total feiner Typ ist und alles und so. Und ein Spezi von Glavinic, dessen Zeug ich mag (oder mochte). Und obwohl er ja auch ganz unterhaltsame Bücher schreibt. Aber keine "Geniestreiche", wie Denis Scheck fast reflexartig behauptet. Mal schauen. ;)