Was macht eine gute Geschichte aus?

  • Was macht eine gute Geschichte aus?


    Dass sie spannend ist?
    Dass man sich identifizieren kann?
    Liegt es vor allem an den Widerständen, die der Protagonist zu überwinden hat, wie es in Schreibratgebern oft gesagt wird?


    Und wie verhält sich die Geschichte zu der Art, wie sie präsentiert wird? Es gibt ja erzählende Prosa, bei denen vordergründig keine Geschichte erzählt wird, und trotzdem erzählen sie, z.B. Christa Wolfs "Kein Ort. Nirgends".


    Mich würde eure Meinung dazu interessieren.

  • Eine Geschichte ist gut, wenn sie etwas ungewöhnliches erzählt, oder etwas gewöhnliches so erzählt, dass es ungewöhnlich klingt. Die Gewohnheiten langweilen uns, aber alles, was davon abweicht, ist interessant. Vor der Diktatur der Medien waren es Fremde oder Heimkehrer, die Informationen aus der restlichen Welt mitbrachten, und deren Berichte für die Daheimgebliebenen so interessant waren, weil es sie über den Alltag hinausschauen ließ , egal wie gut oder schlecht die Berichte ausfielen. Hauptsache sie enthielten etwas neues, anderes.


    Spannung ist kein unwichtiges Element, aber sie entsteht nicht immer nur durch Handlung, sondern dadurch, dass eine Erwartungshaltung beim Leser geweckt und gesteigert wird. Ein unverzichtbarer Gegenpol der Spannung ist die Ent-spannung. Ohne sie würde Spannung nicht richtig funktionieren, sondern ins Leere laufen. Eine Geschichte ist gut, wenn das richtige Verhältnis von Spannung und Entspannung in ihr enthalten ist.


    Die Identifizierung mit einer Geschichte, bzw. mit den Prota- und Antagonisten wird überbewertet. Ja, es gibt eine gewisse Lesehaltung, die genau danach sucht und vermutlich ist sie jedem Lesenden immanent, aber sie dominiert keineswegs bei jedem Leser. Es schränkt auch ein, wenn man immer nur nach sich selbst - oder das, was man von sich selbst hält - in den Geschichten sucht.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Eine Geschichte ist gut, wenn sie etwas ungewöhnliches erzählt, oder etwas gewöhnliches so erzählt, dass es ungewöhnlich klingt.


    Das ist exakt eine Definition von Kreativität: Für neue Probleme eine Lösung finden oder aber für alte Probleme eine neue Lösung finden!


    Die Unterscheidung zwischen Spannung und Erwartungshaltung finde ich sehr wichtig.


    Danke :)

  • Gefühle. M. E. macht es eine gute Geschichte aus, dass dass sie Gefühle weckt und an sie appelliert. Als wichtigstes Kriterium. Erforderlich, aber natürlich nicht hinreichend.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Da fällt mir dann wieder Ralf Rothmann ein (sorry, dass ich den schon wieder erwähne): dass man Gefühle erzeugen kann, ohne welche zu benennen.

  • Wichtig finde ich auch eine bestimmte Atmosphäre. Ich denke da etwa an den Roman "Eis" von Ulla-Lena Lundberg, den ich vor Kurzem vorgestellt hatte. Es passiert eher wenig in dem Buch, trotzdem wird man in die Atmosphäre des Romans hineingezogen: in die Landschaft, die Lebensweise der Figuren.


    Das ist allerdings nur eine Ergänzung zu den vielen bereits genannten Punkten.


    Liebe Grüße


    Anja

  • Ich habe Ralf Rothmann immer noch nicht gelesen, will ich unbedingt, deshalb nochmal Danke für die Erinnerung, liebe Christiane.
    Ich stimme Alexander und dir zu, dass die Emotionen das Wichtigste sind. Ein gutes Buch ist ein Gefäß für unsere eigenen Emotionen oder sogar manchmal ein Spiegel für die Emotionen, zu denen ich vor der Lektüre noch gar keinen Zugang hatte. So gesehen ist das Buch dann "Die Axt für das gefrorene Meer in uns", wie Kafka so treffend sagte.
    Ein Buch sollte mir nicht, niemals sagen, was ich fühlen soll. Es soll mir nur genug "offene Sätze" stehen lassen, mit denen mein Innerstes etwas anfangen kann und mir so etwas Neues (über die Welt und/oder mich) erzählt.
    Dann bin ich drin im Buch und lege es nicht mehr aus der Hand.
    Dabei kann es traurig, lustig oder sonstwas sein. Spannend ist für mich die eigene Reise darin.
    Sogar, wenn mir ein Buch von Orten berichtet, die nie jemand erblickt hat, sind meine eigenen Emotionen dazu das eigentlich Spannende. Insofern ist Lesen eine sehr selbstbezogene Tätigkeit...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • möglich, dass mich in der Endphase einer Roman-ÜA sicher eher unbewusst, diese Diskussionen, also angefangen vom Selbstzweifel, begleitet haben.
    Ich habe nur in die Geschichte geschaut, war intensiv die Prota, und ebenso intensiv die weiteren Mitspieler. Spannung und Entspannung ergaben sich, und die Emotionen sind meines Erachtens da, ohne das A oder B extra trampeln oder nur heulen muss. Da, wo "Tapete" sein soll, steht die jeweilige Landschaft und erzählt indirekt auch etwas über das Auf- und Ab der Gefühle und Stimmungen. - während der Leser möglicherweise zunächst etwas anderes vermutet und sich dann aber überraschen lässt, mitziehen lässt.


    Und im Nachhinein merke ich, dass manchmal die Geschichten lange ruhen können, müssen, sollen. Abhängen. Und dann springen sie dir entgegen, wenn du noch einmal bereit bist, ganz in sie wie ein Fremder einzutauchen und wegzupfst, wieder und wieder, ergänzt, verschiebst ... Also, so meine ich, kann eine gute Geschichte entstehen - und wachsen.

  • Da muß man m.E. unterscheiden, was man mit "gut" meint. Die technische Finesse oder das Gefallen. Ersteres kann man objektiv beurteilen, letzteres nicht.
    Und ich persönlich gehe bei der Beurteilung, ob ich eine Geschichte gut finde, zu allererst davon aus, ob sie mir gefällt. Ob sie obendrein technisch brilliant ist, ist zweitrangig, erhöht aber mein Gefallen. Dennoch habe lieber ich eine Geschichte, deren Inhalt mir gefällt und deren sprachliche Ausgestaltung zu wünschen übrig läßt, als ein grammatikalisch, orthographisch und stilistisch perfektes Machwerk, das ich als stinklangweilig erachte oder dessen Inhalt bzw. Aussagen in meinen Augen der letzte Mist sind.
    Und in dem Spannungsfeld Inhalt/Machart wird es selbst in völlig subjektiver Manier ab und an schwierig, von gut oder schlecht zu reden. Bei gut/gut: Lesen (auch öfters). Bei schlecht/schlecht: Tonne. Bei gut/schlecht: Ist OK, hängt dann vom Einzelfall ab. Bei schlecht/gut: Interessiert mich nicht die Bohne.
    Beispiel zu gut/schlecht: Game of Thrones. Die Geschichte finde ich super (auch wenn's ein bißchen nach Denver-Clan in Mittelerde riecht). Die Bücher sind stellenweise fürchterlich, per Ctrl+C, Ctrl+V künstlich und unnötig in die Länge gezogen, weshalb das einer der extrem seltenen Fälle ist, wo mir eine Fernsehserie besser gefällt als das zugrundeliegende Geschriebene. Technisch am besten ist da Teil 4, welcher deutlich kürzer als die anderen ist (800 statt 1100 Seiten) und erzählerisch auf den Punkt kommt. Da war der Autor wohl krank und mußte abliefern (habe ich gehört). Wer sich über die hohen Seitenzahlen wundert: Der deutsche Verleger hat aus einem Band zwei gemacht.
    Beispiel zu schlecht/gut (nehme ich mal die Musik, was Niedergeschriebenes fällt mir auf Anhieb gerade nicht ein): Wenn ich sehe, wie Jazz-Musiker ihre Instrumente bedienen und damit improvisieren oder Rapper aus dem Stegreif in Reimform streiten, dann bewundere ich die technische Güte. Freiwillig anhören würde ich mir diese grausigen Beleidigungen meiner ästhetischen Ansprüche niemals.

    Περὶ θεῶν λέγε, ὡς εἰσἰν. Von den Göttern sage: sie sind. (Bias von Priene)
    [buch]3939459801[/buch]

  • Ich halte Gefühle auch für wichtig, aber nicht nur. Auch Erkenntnis kann eine gute Geschichte ausmachen, im Sinn von: "Ach, so kann das zusammenhängen, tatsächlich, da schließt sich ja ein Kreis, da habe ich etwas Wichtiges vom Menschen oder von der Welt verstanden." Damit meine ich jetzt keine Sachbücher, sondern wirklich Geschichten.
    Und natürlich die Sprache. Gute Sprache trägt mich manchmal über alles andere hinweg, gute Sprache kann spannend sein, Gefühle machen und etwas ganz Neues in mir erschaffen. Ich lese zur Zeit den neuen Michael Cunningham, die Geschichte ist okay, die Figuren taugen nicht so recht, sich mit ihnen zu identifizieren, ich liebe es, dass die Athmosphäre so New Yorkish ist, aber was mich völlig platt macht und worauf ich mich jeden Abend vor dem Zubettgehen freue, ist die Sprache.

  • das mit der besonderen Sprache - ja, dass ist etwas, das in mir Strudel-Gefühle auslöst.
    Ich lese derzeit abends, schön spät, schön im Bett: "Sperlingsommer" Erzählungen von J.Monika Walther: Diese fantastische Sprache, das auf den Punkt milimetergenau bringen - und die Dinge, die Geschichten, die in jeder ihrer Erzählungen und Sätze stecken - die lösen Gefühle wie 'aufwachen, genießen, Wut mit erleben, wie, so kann man es sagen, genau so ...
    Ja Heike, Sprache kann positiv platt machen.

  • Der Inhalt der Geschichte bestimmt die Form bzw. die Gewichtung der vielen hier genannten Punkte, wie Gefühl, Identifikationsmöglichkeit, Spannung, Atmosphäre ..... Das hat nicht nur etwas mit der Lesererwartung zu tun, sondern auch damit, dass die Geschichten ja ebenfalls unterschiedliche Kernthemen haben. Eine gute Geschichte ist für mich, wenn der Autor die der Geschichte angemessenen, ja optimalen Elemente berücksichtigt und das dann auch noch sprachlich gut hingekriegt hat.

  • Mag alles sein. Dennoch macht m.E. eine gute Geschichte einzig aus, wie sie erzählt wird. Man kann mit Special Effects um sich werfen oder die Tränendrüse mit der Dampfwalze bearbeiten, es muss dennoch keine gute/spannende/interessante/lesbare Geschichte werden. Und umgekehrt gibt es viele Fälle, in denen Autoren auf mittelbar wirkungsvolle Elemente verzichten und trotzdem etwas Brillantes abliefern. Wir erzählen alle die gleichen zwanzig, dreißig Masterplots. Es kommt auf das Wie an. Punkt.
    Viele Manuskripte wandern in den Giftschrank, obwohl die Verlage auf Basis von Leseprobe und/oder Exposé gekauft hatten, und im Filmbereich beträgt die Quote sogar deutlich über 50 Prozent: Fertige Filme, die nie ins Kino oder ins Fernsehen kommen, weil man nach dem Screening feststellt, dass zwar alle Elemente gestimmt haben, aber keine stimmige Geschichte daraus geworden ist. Das Was war in Ordnung, das Wie ein Griff ins Klo.
    Wer sich zu sehr darauf verlässt, dass die Zutaten die vermeintlich richtigen sind, kocht Ungenießbares. Demgegenüber kann ein brillanter Koch aus Küchenabfällen ein wohlschmeckendes Mahl zaubern.

  • Dennoch macht m.E. eine gute Geschichte einzig aus, wie sie erzählt wird. (...)
    Wer sich zu sehr darauf verlässt, dass die Zutaten die vermeintlich richtigen sind, kocht Ungenießbares. Demgegenüber kann ein brillanter Koch aus Küchenabfällen ein wohlschmeckendes Mahl zaubern.

    Yessir. Hätt´s nicht treffender sagen können. :klatsch

  • Zitat

    Mag alles sein. Dennoch macht m.E. eine gute Geschichte einzig aus, wie sie erzählt wird.

    Richtig, aber ich verstehe das "dennoch" nicht. Deine Aussage, lieber Tom, ist larifari. Denn niemand kann diese Aussage "wie sie erzählt ist", erfassen. Wenn doch, wird er das "wie" analysieren und als Ergebnis eben jede vielen Punkte finden, die in den Vorposting versucht wurde zu benennen. Es geht schon die ganze Zeit um das WIE ?!? Ohne "Wie" gibt es alle anderen, hier teilweise einzeln genannten Punkte nicht. Wenn jemand z.B. Spannung beim Leser erzeugt hat, dann hat er das "Wie" erfolgreich umgesetzt. Wenn der Leser den Eindruck hat, er steht selbst als der Klippe und hört das Meer rauschen, dann war der Autor gut, in dem "wie" er die Atmosphäre rüberbringt usw.

  • Liebe Cordula,
    was du sagst, ist richtig. Und es widerspricht ja auch nicht Toms Statement. Es drückt das, was er auf einen kurzen Nenner gebracht hat, nur detaillierter aus. Natürlich kann man das "wie" untersuchen - muss das vielleicht sogar. Dazu gibt es dann sehr verschiedene Herangehensweisen.
    Aber, bezogen auf die Eingangsfrage, gilt schon: Gutes Schreiben macht eine gute Geschichte aus.
    Und schon sind wir zurück im (logischerweise) oft in diesem Forum diskutierten Thema: Was macht eigentlich gutes Schreiben aus? ...

  • Hallo ihr,


    vielen Dank! Ich hab's mal zusammengestellt:


    - Ungewöhnliches erzählen


    - Spannung – besser: Erwartungshaltung wecken und steigern


    - Identifizierungsmöglichkeit bieten (wird überschätzt?)


    - Gefühle wecken


    - Atmosphäre erzeugen


    - Landschaft als Spiegel der Gefühle


    - „Offene Sätze“


    - Gute Sprache


    - Erkenntnisse bewirken


    - Das „Wie“ (= alle diese Punkte)


    ... mündend in die Frage: Was macht gutes Schreiben aus?


    Und interessant ist: Der Aspekt "Genre" wurde nicht einmal erwähnt. Was erstens bedeutet: Eine Geschichte kann man in vielen Genres erzählen, wenn man sie gut erzählt. Und was zweitens den Verdacht verstärkt, dass das Genrethema mehr mit dem Verkauf zu tun hat.