Skandalromane

  • In der arte-Mediathek sind aktuell Dokus abzurufen, die sich mit „Skandalromanen“ befassen, als da wären:

    • „Lolita“ von Vladimir Nabokov
    • „American Psycho“ von Bret Easton Ellis
    • „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess
    • „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell
    • „Die Nonne“ von Denis Diderot
    • „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert
    • „Die Kunst der Freude“ von Giliarda Sapienza


    Werke, mit denen ihre Autoren -


    bis auf eine Ausnahme männlich; „können“ Frauen keine Skandalromane? Doch können sie, mir fiele auf Anhieb zumindest noch Virginie Despentes ein … wer noch … Erica Jong? -


    Grenzen überschritten: der herrschenden Moral, des „guten Geschmacks“, Romane, die man (rückblickend) verkannte, fehlinterpretierte oder deren Verfasser man sogar in gewisser Weise akut fürchtete, weil sie womöglich subversives Gedankengut aufgeschrieben hatten, das sich tunlichst nicht verbreiten sollte.


    So wurde Diderots Geschichte einer Frau, die gegen ihren Willen in ein Kloster gesteckt wird, in Frankreich erst 1796 (davor in Deutschland), zwölf Jahre nach dem Tod des Autors, veröffentlicht, nachdem die Macht der Kirchen durch die Revolution (vorübergehend) ausgehebelt worden war. (Der Roman war damals übrigens einer von zwei Romanen überhaupt, der aus der Sicht einer Frau erzählt wurde.)


    Bret Easton Ellis ist einer der wenigen Autoren, die sich in einer anderen Zeit über eine andere Sicht auf ihr Werk erfreuen können; er kommt in der Doku am umfangreichsten, nicht nur im Rückblick persönlich zu Wort.


    Sexualität und Gewalt, verschärfend eine Kombination von beiden, scheinen demnach - wenig überraschend - am ehesten für einen Skandal getaugt zu haben/zu taugen. Diese Romane darauf zu reduzieren, wäre aber eine grobe Fehlinterpretation. Gewiss hat es viele, viele Romane gegeben, die diese Tabus gebrochen haben, die heute aber zurecht vergessen sind, weil sie darüber hinaus nichts zu bieten hatten: zum Beispiel berechtigte Gesellschaftskritik.


    Man kann sich leicht vertun, wenn man Romane, die man selbst nicht gelesen hat, nach ihrem Ruf beurteilt und demnach meidet: weil sie gewaltverherrlichend seien, zum Beispiel. Überbordende Gewalt ist bei mehreren der genannten Romane zweifellos vorhanden - bloß: Es hat diese Exzesse ja gegeben oder es gibt sie noch. In der Folge über Littell sagt ein Historiker, dass seine Zunft, die Wissenschaft, gewisse Aspekte des Holocaust nicht derart deutlich habe beschreiben können.


    „American Psycho“ müsste ich noch irgendwo haben; demnächst mache ich vielleicht einen zweiten Anlauf, den Roman zu lesen. Und auch auf die anderen Werke bin ich zumindest neugierig geworden.

  • „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess

    Ein wahres Meisterwerk! Es endet komplett anders als der Film. Für mein Empfinden versöhnlicher. Das Buch sollte meiner Auffassung nach in keinem Bücherschrank fehlen. Erschreckend ist, dass wir uns heute auf dem besten Weg zu einer Gesellschaft befinden, wie sie in dem Roman dargestellt wird.

    Brutal, kalt, gefährlich. Immer öfter denke ich, wenn ich die Nachrichten lese oder höre: Wie bei A clockwork Orange. Wir sind dort angekommen. Schrecklich.


    Das Buch müsste zwingend Bestandteil des Englischunterrichts werden oder zumindest in Deutsch an den Schulen besprochen werden. Doch ich befürchte, es wird wegen seiner Brutalität und der vermeintlichen Gewaltverherrlichung wohl aus dem Unterricht verbannt sein oder werden. Die Oberstufe an meinem Gymnasium hat sich jedenfalls Anfang der 1980er damit auseinandergesetzt. Ich gehörte leider nicht dazu und habe das Buch erst später, lange nach meiner Schulzeit - nachdem ich den Film gesehen hatte - gelesen. Die Schauspieler in dem Film sind übrigens herausragend, allen voran Malcolm McDowell.

  • Es endet komplett anders als der Film.

    Den Film kenne ich bisher nicht, aber über das Buch heißt es in der Doku, dass Burgess seinen Lektoren überlassen habe, wie der Roman endet, daher hatte die englische Ausgabe ein anderes Ende als die amerikanische. Ein Lektor neigte zu einem versöhnlicheren Ende, der andere zum düstereren (der Unterschied lag im Weglassen eines Kapitels).

  • Dazu fällt mir noch ein: Die Geschichte der O. von Pauline Reage. Erschien unter Pseudonym der Autorin. Viele dachten anfangs, es wäre ein männlicher Autor, unter weiblichem Pseudonym. :evil

    Kaum etwas wird gründlicher vorbereitet, als ein plötzlicher Kriegsausbruch!

    (Unbekannt)

    Einmal editiert, zuletzt von Manuela ()

  • Sehr cooler Faden! :klatsch


    D. H. Lawrence: Lady Chatterley's Lover (UK 1928, Dt. 1930 als Lady Chatterley).

    Sowohl ein Skandalwerk wie auch ein Bestseller. Problematisch war nicht nur die recht offen erzählte Sexualität / Begehren, sondern auch, dass eine Dame der Oberklasse ihren - dazu noch durch eine Versehrtheit wortwörtlich 'entmannten' - Gatten mit einem Arbeiter (einem Förster / Landarbeiter) hintergeht. Der Roman wartet mit einigen echt harten Klischees auf - vergeistigte Intellektuelle = kein Verständnis von Sex vs. Proletarier = grob und brutal, aber sexy und körperbewusst -, aber kann ebenfalls als emanzipatorisches Werk verstanden werden. Er ist zwar voller Klischees, aber diese sind teils oder insgesamt bewusst eingesetzt; das Ganze ist nicht unbedingt kitschig.


    Matthew Lewis: The Monk (UK, 1776, publ. 1795/96). Das Frühwerk - der Autor war Anfang zwanzig - war einer der genre-definierenden Erzählungen der Gothic Novel und kostete ihn eine vielversprechende Laufbahn in der Politik. Lewis hatte die heftigen Reaktionen nicht vorausgesehen, sondern war wohl etwas zu optimistisch, was die Fortschrittlichkeit seiner Gesellschaft betraf. Das Buch wäre durchaus als Bestseller einzuordnen und ist 1990 mit dem wunderbaren Paul McGann verfilmt worden.

    Steine des Anstoßes waren damals: Antikatholizismus / Bloßstellung moralischer Bigotterie, Inzest bzw. inzestuöse Vergewaltigung, Mord, Kirchendiener & Sexualität, keine durchgehende 'Moral von der Geschicht'.

    Der sehr freche, im positiven Sinne temporeiche Roman wirkt stark von Marquis de Sades Fiktionen inspiriert, wurde aber vor deren Veröffentlichungen verfasst und es war sogar umgekehrt de Sade, der Lewis rezipierte bzw. lobte. The Monk ist - anders als die romantischen Schinken der Schnarchnase Ann Radcliffe - exzellent gealtert; ein wilder Ritt voller augenzwinkernder Ironie und vorzeitiger Punk Rock!-Attitüde.



    Kathy Acker: Blood & Guts in High School (USA 1978, publ. 1984)

    Surrealistische, achronologische und stark assoziative Metafiktion der feministischen Essayistin / Theoretikerin, die darin Charles Dickens' Great Expectations neu erzählte. Referenzen gibt es auch zu Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter.

    Ob das Buch auch im englischsprachigen Raum ein Skandal war, kann ich nicht sagen, aber die Deutschen sahen das nicht so locker: Harte Mädchen weinen nicht kam 1985 auf den Index und konnte selbst von Erwachsenen nicht legal erworben werden (ich hatte es - gerade 18 geworden - damals selbst erfolglos versucht und dann einfach 1989 den wunderschönen Picador-Band von meinem Schottland-Urlaub mitgebracht). Es wurde auf Deutsch 1991 gekürzt neu aufgelegt. Ich denke vom Reinlesen eh, dass das Buch unübesetzbar ist, oder jedenfalls fürchterlich ins Deutsche übertragen wurde, jedenfalls klingt die deutsche Fassung einfach nur dumm und prollig, während das Original stilistisch echt Pfiff hat.


    Ich kann die Aufregung darum nicht verstehen. Ja, es gibt reichlich expliziten Sex und Gewalt (aus Sicht der weiblichen Erzählerin und auch teils mit ihr als Täterin), aber die Erzählung ist derart offensichtliches Kunstprodukt, offensichtlich aus dem radikalfeministischen und Punk-Kontext entstanden und sich auch ebenso an dieses Publikum wendend. Es geht um Transgression und daher ist das Buch nötigenfalls selbst transgressiv. Acker bricht nicht nur Tabus, sondern auch die Grenzen der Sprache, der Identität und auch des Copyrights (Autor als Inhaber geistigen Eigentums).

    That said: Ich war zum Zeitpunkt meiner Lektüre selbst feministische GothPunk und bereits pansexuell, zudem an Sprachexperimenten und dem Surrealismus in der Kunst interessiert - selbstverständlich fand ich das hochspannend. Wesentlich besser allerdings gefiel und gefällt mir Ackers Nachfolgewerk, das formell etwas konventioneller aufgezogene Empire of the Senseless, das ähnliche Themen mit einem Hauch ironischer Fantasy / Abenteuer (Piraten, Großstadtnomaden, Dystopie) behandelt und insgesamt lesbarer ist - zudem nicht so extrem 'in your face'.


    Abgesehen davon, dass ich gegen jede Zensur bin ( = Jugendschutz ja, Verbot für Erwachsene nein), muss ich über die Indizierung den Kopf schütteln. Wie bei ebenfalls indizierten Filmen wie Evil Dead / Tanz der Teufel oder Texas Chainsaw Massacre / Das Kettensägenmassaker geht es gerade um den Bruch mit traditionellen Rollenmodellen und einer Bedrohung, die auch von Frauen ausgeht oder zudem von Frauen erzählt wird. Hier mit einem Sexismusvorwurf Verbote zu begründen finde ich absolut zynisch und seinerseits frauenfeindlich.


    In dieser Reihung ( Petra weil du nach Autorinnen fragtest) könnte man auch Lydia Lunch: Paradoxia. A Predator's Diary (USA 1999; dt. Paradoxie: Tagebuch eines Raubtiers, 2000 ) sehen, das sicherlich ein Skandalbuch gewesen wäre, wenn es bekannter wäre. Der autofiktionale Roman erzählt von einigen gewalttätigen Beziehungen (Gewalt, die beide in ähnlichem und auch physischen Rahmen ausüben) und dabei auch Sex sowie sexueller Gewalt. Das Buch ist schonungslos - auch die Haltung der Autorin sich selbst gegenüber, was ich erfrischend finde.

    Bemerkung auf dem Vorblatt: "No names were changed to protect the innocent - they're all fucking guilty."

    Lunch hat in den späten 2000ern irgendwie komplett die Seiten gewechselt, aber wurde berühmt/ berüchtigt durch ihre Drehbücher und Filmauftritte (Beth B.s Fingered, The Right Side of My Brain) sowie ihre post-punk Alben Queen of Siam und 13:13.

    Falls das irgendwie ansatzweise deine kulturelle Richtung sein sollte oder Neugier da ist, kannst du dich da ja mal umschauen.


    Dann fällt mir noch ein:

    Georges Bataille: "Die Geschichte des Auges" (Histoire de l'œil, FR 1928) auf Deutsch in Das obszöne Werk (Dt. 1972). Klassischer Surrealismus, "blasphemisch", schräge Sexualität, sexuelle Gewalt u.a. gegen einen Priester. Ich war überzeugt, das müsste mir gefallen, fand es aber irgendwie sprachlich schwach, lasch konzipiert und wenig tabubrechend. Hatte sowas wie eine literarische Version des Ein andalusischer Hund erwartet, und das wohl irgendwie falsch eingeordnet. Habs im Laufe der Jahre drei Mal versucht (2x Englisch, 1x Deutsch) und werd damit nicht warm.


    Octave Mirbeau: Le Jardin des supplices (FR 1899, Dt. Der Garten der Qualen, 1901 / Der Garten der Foltern, 1967). Ein sehr schräges, proto-surrealistisches Werk, das mehr durch die Atmosphäre und Implikationen bzw. eingestreute Visionen wirkt, und gar nicht so derart explizit ist wie sein Ruf. Nichtsdestotrotz - oder eher gerade deshalb - ein extrem verstörendes Werk. Ich habs auf Englisch als The Torture Garden gelesen (RE/Search Books).


    Man kann sich leicht vertun, wenn man Romane, die man selbst nicht gelesen hat, nach ihrem Ruf beurteilt und demnach meidet: weil sie gewaltverherrlichend seien, zum Beispiel.

    Absolut. Und solche Urteile sind extrem subjektiv, z. B. abhängig, was die jeweiligen Leser für - ich sag mal - Genrekompetenzen haben und darin Subtexte / Symboliken / Querverweise und Ironie etc. sehen könnten, die anderen möglicherweise verschlossen bleiben.

    „American Psycho“ müsste ich noch irgendwo haben; demnächst mache ich vielleicht einen zweiten Anlauf, den Roman zu lesen. Und auch auf die anderen Werke bin ich zumindest neugierig geworden.

    Das einzig wirklich Gewalttätige an American Psycho ist die tödliche Langeweile und das extrem selbstzentrierte, hohle Narzisstengeschwätz, das Ellis einem zumutet. Soweit ich mich richtig erinnere, wird Gewalt auf genau vier Seiten erzählt. Drei zu sexueller und eine gegen einen Obdachlosen (alles auch incl. Mord, das teils aber nur angedeutet bzw. im Off). Allerdings sind diese Szenen reine Phantasien des Erzählers und nix davon tatsächlich passiert. (Das wird explizit klargestellt, ist keine Interpretation.)

    Das Buch war eine recht zynische Abrechnung mit den Yuppies, was heute in dem Sinne hinfällig geworden ist - daher mein Rat: Spar dir das Buch ... und auch sonst alles von Ellis. :renn

    Dann empfehle ich ausnahmsweise eher die Verfilmung: eine sehr schwarze Komödie, gut gespielt und echt peppig.

  • Vielen Dank, Katla, für diesen Beitrag!


    Ich habe von Easton Ellis vor gefühlt hundert Jahren „Unter Null“ gelesen. Es hat mich nicht vom Hocker gerissen, aber das kann auch andere Gründe gehabt haben. Mangelnder Zugang durch fehlenden Hintergrund zum Beispiel. So ging es mir u. a. auch mit „On the Road“ von Jack Kerouac. Manche Bücher liest man und ist bei Weitem nicht reif genug dafür, andere erschließen sich einem auch nie. Obwohl ich es für gut halte, Dingen auf den Grund zu gehen, treibt mich das nun auch nicht um: Mit manchen Wissenslücken kann ich leben.


    Ich kenne keines der genannten Bücher und bin, wenn man das so sagen kann, sehr viel zahmer unterwegs 🫣 Ich habe Bücher im Regal, die ich nicht weiterlesen mochte, weil sie so explizit unterwegs waren. Hierbei spreche ich nicht von „Weltliteratur“, sondern von „Unterhaltungsliteratur“ (!), die tatsächlich eher nicht in den Verdacht gerät, Literatur zu sein. Richard Laymon ist ein Autor, den ich früher gelesen habe und auch lesen konnte, wenn das Thema der Phantastik zuzuordnen war (der Gore ist teils so überzogen, dass es tatsächlich ins Lächerliche driftet), nicht aber, wenn es um realistische Dinge ging. Sonst bestimmt kein Befürworter von Zensur, gibt es Romane, für deren Verbot ich tatsächlich, ja, Verständnis habe. Weil es nur um platte Vermittlung von Gewalt geht, Gewalt als Selbstzweck. - Natürlich könnte man hier auch sagen, ich habe Laymon nicht verstanden. Ok.


    Dabei fällt mir ein weiteres „skandalöses Buch“ ein: „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Hierauf halte ich große Stücke, obwohl es schwer erträglich ist. Nicht nur, weil es gut geschrieben ist (was auch immer das bedeuten mag), sondern weil ich der Meinung bin, dass man manche Themen (hier Kindesmissbrauch) nicht nur mit distanzierten Worten beschreiben darf, sondern mitunter drastisch sein muss.


    „Frau findet sexuelle Erfüllung außerhalb der Ehe/ihres Standes“ ist fast (wahrscheinlich nicht nur fast) ein Topos für sich. Mir fallen da spontan ein „Das Piano“ (Film von Jane Campion), „Ryans Tochter“ (Film von David Lean und, wie ich jetzt lese, eine lose Adaption von „Madame Bovary“), „Salz auf unserer Haut“ von Benoîte Groul, „Der lange heiße Sommer“ (Verfilmungen, die lose basieren auf Kurzgeschichten von William Faulkner) oder auch „Die Dornenvögel“. (Ich sage ja, zahm 🙂). Allerdings erschöpft sich dieses Thema (derzeit): Je liberaler eine Gesellschaft ist, kann das Skandalöse hieran nur noch im Rückgriff auf frühere Zeiten oder in Kombination mit auch heute noch bestehenden (oder wieder aufflammenden) Tabus entstehen.

  • „Ryans Tochter“ (Film von David Lean und, wie ich jetzt lese, eine lose Adaption von „Madame Bovary“)

    Ob lose Adaption oder nicht. Ich gebe jenen Kritikern Recht, die diesen Film für ein übersehenes Meisterwerk halten.

    Kaum etwas wird gründlicher vorbereitet, als ein plötzlicher Kriegsausbruch!

    (Unbekannt)

  • Das ist ein spannendes, vielschichtiges Thema, unter das aber, wenn man will, hunderte, wenn nicht tausende Romane fallen. Es gibt Romane, die von Anfang an auf Krawall gebürstet waren (das war und ist bei Ellis, den ich jederzeit bewundert habe, Teil des Kalküls), bei denen der Skandal zum Programm gehörte, und andere, die Skandale quasi versehentlich ausgelöst haben, es gibt Skandalromane, bei denen sich der Skandal (zuweilen recht willkürlich heraufbeschworen) nur um einen Teilaspekt drehte, während wieder andere aus ganz überraschenden Gründen (z.B. aufgrund eines aufgedeckten Plagiats) Skandale auslösten. Es gibt Grauzonen-Skandalromane, die zwar viele aufgeregt und abgestoßen haben, aber nicht genügend Leute, um daraus ein gesellschaftliches Ereignis zu machen. Und, und, und.

  • Ein Beispiel für einen der vielen Skandalromane, in dem Fall aus dem Jahr 2008: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche. Gewiss keine Weltliteratur, aber: ein durchschlagender Erfolg. Ich habe mir grade den Wikipedia-Artikel durchgelesen: Indizierung geprüft und abgelehnt, 30 Wochen an der Spitze der Charts, Auflage 2 Millionen, verfilmt, Bühnenstück … Roche hat damit lebenslang ausgesorgt und musste noch nicht mal erfolgreich nachlegen … Man mag zu dem Roman stehen wie man will (ich fand ihn gut - nein, nicht wegen der Details, über die sich am besten zu echauffieren war, sondern trotzdem): Das, was dieser Roman ausgelöst hat, ist schon eine herausragende Story, eine absolute Ausnahmeerscheinung. Ein Erfolg, der so gewiss nicht vorstellbar gewesen wäre, wenn man die Autorin, zurecht oder nicht, nicht mit ihrer Figur hätte gleichsetzen können. Das - die Person des Autors/der Autorin - machte in diesem Fall viel aus - was bei den im Eingangs-Post genannten Werken, auch denen aus jüngerer Zeit, überhaupt nicht wichtig war.


    Ist es dafür ein „gemachter Skandal“ gewesen? Ich glaube eher nicht; wer dieses Manuskript alles abgelehnt haben mag, kann nicht gewusst haben, dass es dermaßen erfolgreich sein würde. Kann man überhaupt Skandale in der Buchbranche provozieren? Man muss ja immer mit Ächtung, Namensverlust und wirtschaftlichem Verlust rechnen, die Tabubrüche im Schlepptau haben könnten, viel wahrscheinlicher als so ein Publikumserfolg, wenn Leute letztendlich Bücher kaufen, die sie möglicherweise dann nur querlesen, weil sie „Stellen“ suchen, über die gerade jeder spricht.

  • Ich meine, das Skandalpotential in „Feuchtgebiete“ war durchaus kalkuliert, und der Verlag hat damals auch an allen Öffentlichkeitsarbeitsschrauben gedreht, die zur Verfügung standen, um den Titel ins Gespräch zu bringen - was außerordentlich gut funktioniert hat. Das Publikum ist atemlos keuchend auf den kleinen Tabubruch angesprungen; Leute wussten plötzlich, was eine „Analfissur“ ist, die vorher nicht mal genau wussten, wo ihr eigenes Arschloch eigentlich genau sitzt, und literarisch war das alles nahezu komplett bedeutungslos. Damit unterscheidet sich das ganz erheblich von der Art von Titeln, die in der arte-Reihe dokumentiert werden. Roches Roman war nach meinem Dafürhalten (ich habe allerdings höchstens vierzig Seiten gelesen) reiner Effekt.

  • Dass Bücher „gemacht“ werden, glaube ich unbesehen. Der Verlag, der „Feuchtgebiete“ ins Programm genommen hat, hat ja wahrscheinlich viel Geld damit verdient: Warum hat (ich glaube, es war) Kiepenheuer und Witsch (die einen Rückzieher gemacht haben) dann nicht genauso kalkulieren können - derselbe Verlag übrigens, der wahrscheinlich mittlerweile das Autorenporträt von Till Lindemann von der Wand genommen hat? Wie erfolgreich dessen Buch war, weiß ich nun nicht, aber ich glaube, es birgt ein Risiko, solche Titel zu verlegen, und letztendlich kann niemand wissen, ob man mit einem Roman/Gedichtband/whatever mit Skandalpotential Kasse macht oder fies auf die Nase fällt, über den wirtschaftlichen Verlust hinaus.


    Reiner Effekt? Sehe ich nicht so. Effekt, ja. Nur Effekt, nein. Da ist mehr als nur die unappetitliche Beschäftigung mit Körperflüssigkeiten, meine ich 🙂

  • Das Ausstrahlungsrisiko war und ist ganz unterschiedlich. Lindemann hatte ja als Person plötzlich "Skandalpotential" (von dem nicht viel übriggeblieben ist, und obwohl ich weder ein Freund meines Initialendoppelgängers, noch seiner Musik bin, hat mir die hastige Verurteilung ziemlich missfallen (das eine hat mit dem anderen auch nichts zu tun)), während es bei echten Skandalromanen hauptsächlich um die Texte geht. An einer skandalumwitterten Person festzuhalten, das zieht immer das Risiko nach sich, mit der Haltung und Vorgeschichte und Kellerleichensammlung der Person gleichgesetzt zu werden, und da bekommt die Loyalität schnell gravierende Risse. Mal für einen, äh, originellen Text abgestraft zu werden, das ist eine andere Sache. Das lässt sich auch leichter aushalten.


    Vier Jahre ist es her, da erschien Woody Allens Biografie "Ganz nebenbei". Das war und ist natürlich kein Roman, aber der jahrzehntealte und eigentlich abgeschlossene Skandal um Missbrauchsvorwürfe gegen Allen waren von seinem Stiefsohn Ronan Farrow wieder angefeuert worden, weshalb der amerikanische Originalverlag absprang und Allen einen anderen Verlag suchen musste. Nicht wenige Autoren bei Rowohlt, wo ich zu dieser Zeit war und der seit den Siebzigern Allens deutscher Hausverlag ist, wollten verhindern, dass die deutsche Fassung auch tatsächlich bei Rowohlt veröffentlicht wird, schrieben offene Briefe und distanzierten sich. Einige zogen sich dann wieder zurück (weil der offene Brief auch so dämliche Formulierungen wie "Es scheint keine Gründe dafür zu geben, Ronan Farrow nicht glauben zu können" enthielt, was ihnen beim Erstlesen wohl entgangen war, vor allem aber, weil einigen am Tag der Veröffentlichung klar wurde, wie sie sich selbst fühlen würden, erginge es ihnen wie Allen). Hätte Rowohlt den Titel nicht gemacht, hätte ich große Probleme damit gehabt, dort zu bleiben (bin ja auch nicht mehr lange geblieben, aber das hatte nix damit zu tun). In Deutschland spielte der Allen-Skandal aber keine so riesige Rolle wie in den Staaten, und ein Skandalbuch ist diese sehr leise und understatementmäßige Erzählung auch nicht, selbst angesichts der Tatsache, dass Allen zwei Drittel des Textes dafür verwendet hat, zu versuchen, die Hintergründe der Missbrauchsvorwürfe aus seiner Sicht zu schildern und diese damit zu widerlegen.


    Ich bin als Midlistautor nun über zwanzig Jahre am Markt und veröffentliche im Mai meinen immerhin schon dreizehnten Roman, womit ich es auf über 5.000 veröffentlichte Romanseiten bringe (plus kistenweise anderes Material). Einige dieser Titel waren ganz okay erfolgreich, einige weniger als erwartet, andere sind sehr, sehr hübsche Longseller, aber ich komme mit diesen dreizehn Romanen derzeit noch nicht annähernd an die verkaufte Auflage von Titeln wie "Feuchtgebiete". Das ist ein Gedanke, der mich zwar nicht ärgert, der aber doch einen Geschmack oder Geruch oder so zurücklässt, aber natürlich liegt es an mir selbst, dass ich noch nicht ganz vorne in einer Bestsellerliste war. Mit einem Skandalbuch wäre das vielleicht einfacher, statt ständig zu versuchen, gute Geschichten mit viel Substanz, glaubhaftem Personal, schillernden Dialogen, klugen Gedanken und all diesem Zeug zu schreiben. Geschichten, in die man sich einwickeln kann, statt sich über sie schreiend bei Insta auszutauschen.

  • Skandalbücher schreiben ist einfach. Schwieriger wird es, einen Verleger zu finden, der sie drucken möchte. Am besten hetzt man ein bißchen gegen die Religion. Die christliche natürlich. Die regen sich genug auf, um PR zu machen, aber nicht so sehr, um seines Lebens nicht mehr sicher zu sein. Beleidigt man die Juden, ist man Antisemit und die Karriere am Ende, geht es gegen die Buddhisten, versteht es keiner, und verdirbt man es sich mit den Muselmanen, kriegt man entweder Bomben vors Haus oder die Gurgel durchgeschnitten. Dann kann man sich nicht mehr des schönen Geldes erfreuen. Sex und Obszönitäten sind mittlerweile ausgelutscht. Was früher noch ein unerhörter Skandal war, läuft heute im Kinderprogramm. Politik ist schwierig. Regimekritik geht nur ungestraft, wenn man im Ausland lebt und seine Schäfchen im Trockenen weiß. Es sei denn man gibt die Systemhure und hetzt gegen Dissidenten und die Opposition. Aber damit lockt man nicht genug Käufer an, weil das fast alle etablierten Künstler machen.

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Was ist die Definition von Skandalroman? Ist es ein Genre? Ist es der bewusst eingegangene Tabubruch mit dem moralischen und gesellschaftlichen Zeitgeist? Wäre ein Buch, dass Ende der 1940er verlegt wurde und das gänge Frauenbild (verheiratet, Küche, Kinder) auf den Kopf stellt (geschieden, alleinerziehend, voll berustätig) ein Skandalroman?

    Ich habe den Eindruck, "Skandalroman" ist eher Marketing, als schriftstellerische Leistung.

    Regimekritik geht nur ungestraft, wenn man im Ausland lebt und seine Schäfchen im Trockenen weiß. Es sei denn man gibt die Systemhure und hetzt gegen Dissidenten und die Opposition. Aber damit lockt man nicht genug Käufer an, weil das fast alle etablierten Künstler machen.

    Das ist Quatsch, Künstler sollten, sobald sie sich mit ihrer Kunst in der aktuellen Gesellschaft verorten, immer kritisch sein, in allen Fragen. Sind sie das nicht, nennt sich die Kunstgattung "sozialistischer Realismus". Wobei einem Künstler immer der Unterschied zwischen kritisch und populistisch klar sein sollte. "Kritisch" kann Skandalroman werden, "populistisch" ist ein Skandal.

  • Skandalromane sind nur dann Skandalromane, wenn es auch Skandale gibt. Das ist wie mit den Erfolgsromanen. Bei beiden gilt: Es geschieht zuweilen unverhofft. Und umgekehrt: Man kann es sich zwar vornehmen, aber eine Garantie, dass es auch klappt, gibt es nicht. Manch eine Provokation verpufft völlig ungehört, während etwas, das nie als Provokation gedacht war, plötzlich die Massen auf die Palme jagt. Für manch einen Schinken wird tief in die Marketingkasse gegriffen und trotzdem bleibt das Ding in den Regalen liegen. Und so weiter.