Beiträge von Petra

    Dass Bücher „gemacht“ werden, glaube ich unbesehen. Der Verlag, der „Feuchtgebiete“ ins Programm genommen hat, hat ja wahrscheinlich viel Geld damit verdient: Warum hat (ich glaube, es war) Kiepenheuer und Witsch (die einen Rückzieher gemacht haben) dann nicht genauso kalkulieren können - derselbe Verlag übrigens, der wahrscheinlich mittlerweile das Autorenporträt von Till Lindemann von der Wand genommen hat? Wie erfolgreich dessen Buch war, weiß ich nun nicht, aber ich glaube, es birgt ein Risiko, solche Titel zu verlegen, und letztendlich kann niemand wissen, ob man mit einem Roman/Gedichtband/whatever mit Skandalpotential Kasse macht oder fies auf die Nase fällt, über den wirtschaftlichen Verlust hinaus.


    Reiner Effekt? Sehe ich nicht so. Effekt, ja. Nur Effekt, nein. Da ist mehr als nur die unappetitliche Beschäftigung mit Körperflüssigkeiten, meine ich 🙂

    Ein Beispiel für einen der vielen Skandalromane, in dem Fall aus dem Jahr 2008: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche. Gewiss keine Weltliteratur, aber: ein durchschlagender Erfolg. Ich habe mir grade den Wikipedia-Artikel durchgelesen: Indizierung geprüft und abgelehnt, 30 Wochen an der Spitze der Charts, Auflage 2 Millionen, verfilmt, Bühnenstück … Roche hat damit lebenslang ausgesorgt und musste noch nicht mal erfolgreich nachlegen … Man mag zu dem Roman stehen wie man will (ich fand ihn gut - nein, nicht wegen der Details, über die sich am besten zu echauffieren war, sondern trotzdem): Das, was dieser Roman ausgelöst hat, ist schon eine herausragende Story, eine absolute Ausnahmeerscheinung. Ein Erfolg, der so gewiss nicht vorstellbar gewesen wäre, wenn man die Autorin, zurecht oder nicht, nicht mit ihrer Figur hätte gleichsetzen können. Das - die Person des Autors/der Autorin - machte in diesem Fall viel aus - was bei den im Eingangs-Post genannten Werken, auch denen aus jüngerer Zeit, überhaupt nicht wichtig war.


    Ist es dafür ein „gemachter Skandal“ gewesen? Ich glaube eher nicht; wer dieses Manuskript alles abgelehnt haben mag, kann nicht gewusst haben, dass es dermaßen erfolgreich sein würde. Kann man überhaupt Skandale in der Buchbranche provozieren? Man muss ja immer mit Ächtung, Namensverlust und wirtschaftlichem Verlust rechnen, die Tabubrüche im Schlepptau haben könnten, viel wahrscheinlicher als so ein Publikumserfolg, wenn Leute letztendlich Bücher kaufen, die sie möglicherweise dann nur querlesen, weil sie „Stellen“ suchen, über die gerade jeder spricht.

    Von den „Meisterwerken“ habe ich mich nach dem Ausgangs-Post gelöst - sonst hätte ich auch einige andere Beispiele nicht nennen dürfen 🙂

    Vielen Dank, Katla, für diesen Beitrag!


    Ich habe von Easton Ellis vor gefühlt hundert Jahren „Unter Null“ gelesen. Es hat mich nicht vom Hocker gerissen, aber das kann auch andere Gründe gehabt haben. Mangelnder Zugang durch fehlenden Hintergrund zum Beispiel. So ging es mir u. a. auch mit „On the Road“ von Jack Kerouac. Manche Bücher liest man und ist bei Weitem nicht reif genug dafür, andere erschließen sich einem auch nie. Obwohl ich es für gut halte, Dingen auf den Grund zu gehen, treibt mich das nun auch nicht um: Mit manchen Wissenslücken kann ich leben.


    Ich kenne keines der genannten Bücher und bin, wenn man das so sagen kann, sehr viel zahmer unterwegs 🫣 Ich habe Bücher im Regal, die ich nicht weiterlesen mochte, weil sie so explizit unterwegs waren. Hierbei spreche ich nicht von „Weltliteratur“, sondern von „Unterhaltungsliteratur“ (!), die tatsächlich eher nicht in den Verdacht gerät, Literatur zu sein. Richard Laymon ist ein Autor, den ich früher gelesen habe und auch lesen konnte, wenn das Thema der Phantastik zuzuordnen war (der Gore ist teils so überzogen, dass es tatsächlich ins Lächerliche driftet), nicht aber, wenn es um realistische Dinge ging. Sonst bestimmt kein Befürworter von Zensur, gibt es Romane, für deren Verbot ich tatsächlich, ja, Verständnis habe. Weil es nur um platte Vermittlung von Gewalt geht, Gewalt als Selbstzweck. - Natürlich könnte man hier auch sagen, ich habe Laymon nicht verstanden. Ok.


    Dabei fällt mir ein weiteres „skandalöses Buch“ ein: „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Hierauf halte ich große Stücke, obwohl es schwer erträglich ist. Nicht nur, weil es gut geschrieben ist (was auch immer das bedeuten mag), sondern weil ich der Meinung bin, dass man manche Themen (hier Kindesmissbrauch) nicht nur mit distanzierten Worten beschreiben darf, sondern mitunter drastisch sein muss.


    „Frau findet sexuelle Erfüllung außerhalb der Ehe/ihres Standes“ ist fast (wahrscheinlich nicht nur fast) ein Topos für sich. Mir fallen da spontan ein „Das Piano“ (Film von Jane Campion), „Ryans Tochter“ (Film von David Lean und, wie ich jetzt lese, eine lose Adaption von „Madame Bovary“), „Salz auf unserer Haut“ von Benoîte Groul, „Der lange heiße Sommer“ (Verfilmungen, die lose basieren auf Kurzgeschichten von William Faulkner) oder auch „Die Dornenvögel“. (Ich sage ja, zahm 🙂). Allerdings erschöpft sich dieses Thema (derzeit): Je liberaler eine Gesellschaft ist, kann das Skandalöse hieran nur noch im Rückgriff auf frühere Zeiten oder in Kombination mit auch heute noch bestehenden (oder wieder aufflammenden) Tabus entstehen.

    Es endet komplett anders als der Film.

    Den Film kenne ich bisher nicht, aber über das Buch heißt es in der Doku, dass Burgess seinen Lektoren überlassen habe, wie der Roman endet, daher hatte die englische Ausgabe ein anderes Ende als die amerikanische. Ein Lektor neigte zu einem versöhnlicheren Ende, der andere zum düstereren (der Unterschied lag im Weglassen eines Kapitels).

    In der arte-Mediathek sind aktuell Dokus abzurufen, die sich mit „Skandalromanen“ befassen, als da wären:

    • „Lolita“ von Vladimir Nabokov
    • „American Psycho“ von Bret Easton Ellis
    • „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess
    • „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell
    • „Die Nonne“ von Denis Diderot
    • „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert
    • „Die Kunst der Freude“ von Giliarda Sapienza


    Werke, mit denen ihre Autoren -


    bis auf eine Ausnahme männlich; „können“ Frauen keine Skandalromane? Doch können sie, mir fiele auf Anhieb zumindest noch Virginie Despentes ein … wer noch … Erica Jong? -


    Grenzen überschritten: der herrschenden Moral, des „guten Geschmacks“, Romane, die man (rückblickend) verkannte, fehlinterpretierte oder deren Verfasser man sogar in gewisser Weise akut fürchtete, weil sie womöglich subversives Gedankengut aufgeschrieben hatten, das sich tunlichst nicht verbreiten sollte.


    So wurde Diderots Geschichte einer Frau, die gegen ihren Willen in ein Kloster gesteckt wird, in Frankreich erst 1796 (davor in Deutschland), zwölf Jahre nach dem Tod des Autors, veröffentlicht, nachdem die Macht der Kirchen durch die Revolution (vorübergehend) ausgehebelt worden war. (Der Roman war damals übrigens einer von zwei Romanen überhaupt, der aus der Sicht einer Frau erzählt wurde.)


    Bret Easton Ellis ist einer der wenigen Autoren, die sich in einer anderen Zeit über eine andere Sicht auf ihr Werk erfreuen können; er kommt in der Doku am umfangreichsten, nicht nur im Rückblick persönlich zu Wort.


    Sexualität und Gewalt, verschärfend eine Kombination von beiden, scheinen demnach - wenig überraschend - am ehesten für einen Skandal getaugt zu haben/zu taugen. Diese Romane darauf zu reduzieren, wäre aber eine grobe Fehlinterpretation. Gewiss hat es viele, viele Romane gegeben, die diese Tabus gebrochen haben, die heute aber zurecht vergessen sind, weil sie darüber hinaus nichts zu bieten hatten: zum Beispiel berechtigte Gesellschaftskritik.


    Man kann sich leicht vertun, wenn man Romane, die man selbst nicht gelesen hat, nach ihrem Ruf beurteilt und demnach meidet: weil sie gewaltverherrlichend seien, zum Beispiel. Überbordende Gewalt ist bei mehreren der genannten Romane zweifellos vorhanden - bloß: Es hat diese Exzesse ja gegeben oder es gibt sie noch. In der Folge über Littell sagt ein Historiker, dass seine Zunft, die Wissenschaft, gewisse Aspekte des Holocaust nicht derart deutlich habe beschreiben können.


    „American Psycho“ müsste ich noch irgendwo haben; demnächst mache ich vielleicht einen zweiten Anlauf, den Roman zu lesen. Und auch auf die anderen Werke bin ich zumindest neugierig geworden.

    Von „Abschiedsfarben“ heißt es, dass es „ein typisches Alterswerk“ sei.

    Was ist das, ein Alterswerk? Ein Werk, in das all das oder zumindest manches von dem einfließt, was dem Schöpfer im Leben bisher wichtig war? Ist so ein Werk genährt, befeuert, möglicherweise auch getrieben von seinen Erfahrungen? Ein Resümee? Ein Vermächtnis?


    Stellvertretend für die weiteren Erzählungen ein paar Zeilen zu den ersten drei Texten:

    „Künstliche Intelligenz“ erzählt in der Ich-Form von der lebenslangen Freundschaft zweier Mathematiker und Informatiker in der DDR, der allerdings ein großer Verrat innewohnt: Der Erzähler hat die Fluchtpläne des anderen an die Stasi verraten, woraufhin der zuerst ins Gefängnis gesperrt wurde und fortan (zu brillant, um ganz auf ihn zu verzichten) in zweiter Reihe wirkte - zugunsten des Freundes. Der Erzähler wähnt sein Geheimnis bis zum Tod des Freundes gewahrt, bis dessen Tochter Akteneinsicht beantragt.

    In „Picknick mit Anna“, berichtet der Ich-Erzähler vom Mord an einer 17-Jährigen, den er, ein älterer Mann, vom Fenster seiner Wohnung gegenüber beobachtet, aber weder einschreitet noch die Polizei verständigt.

    In „Geschwistermusik“ lernt ein junger Mann aus der Mittelschicht eine junge Frau aus reichem Haus kennen, die ihn mit ihrem querschnittsgelähmten Bruder bekannt macht. Enttäuscht, dass seine Liebe zu Susanne scheinbar nicht erwidert wird, gleichzeitig überfordert von der Rolle, die er für den Bruder spielen soll, flüchtet er sich in ein Auslandsschuljahr nach Amerika. Jahrzehnte später gibt es ein zufälliges Wiedersehen, das zur Offenbarung ihrer Beweggründe führt.


    So und ähnlich haben alle Erzählungen einen Twist in Richtung Rückschau, Lebenslügen, Entscheidungen oder auch begangene Fehler, die das Leben des Protagonisten in eine bestimmte Richtung gelenkt haben.

    Die Erzählungen in „Abschiedsfarben“ handeln, wollte ich es auf einen einzigen Nenner bringen, ja, offensichtlich, von Abschieden - unter Personen, auch vom Leben - aber mehr noch von Verstrickungen. Von gefühlsmäßigen Bindungen, die gekappt werden, von lebensverändernden Entscheidungen, die im Rückblick (länger oder kürzer während) enthüllt, betrachtet, (neu) bewertet werden. Es sind teils dramatische Blicke in die Vergangenheit, Konfrontationen mit verpassten Möglichkeiten, aus Gründen, die der Leser als falsch oder richtig oder irgend etwas dazwischen interpretieren kann, die er womöglich übertragen kann auf selbst erlebte Dinge. Schlink hat seine Erzählungen mit charakterlich tiefgründigen Personen bevölkert, und die Art, wie er von ihnen erzählt, wie er Vergangenheit und Gegenwart miteinander verflicht, ist gekonnt und eingängig. So sieht man sie förmlich vor sich, die Schülerin Susanne und Susanne mit offenen weißen Haaren in der Oper, und erkennt die alte Frau in der jungen wieder. Wiewohl man Geschichten als erfunden betrachten sollte, kann aber wohl niemand, der selbst schreibt, verhehlen, dass auch immer etwas oder sogar viel von eigenen Erfahrungen ins Schreiben miteinfließt. Ob oder eher wie weit das in dieser Sammlung passiert, ist die Frage. Es gibt sie auf jeden Fall, die autobiografischen Bezüge. Man muss das aber natürlich nicht offenbaren, den Leser nicht aufklären.


    Die Geschichten sind nicht alle gleich gut - oder wahrscheinlich sollte ich sagen, sie haben mir nicht alle gleich gut gefallen. Zuletzt gingen mir ein paar betuliche Formulierungen auf die Nerven wie auch der berichtende Stil allgemein. Da wird nur aufgezeigt, zusammengefasst, bewertet, hin und her gewendet - tatsächlich passieren tut mitunter lange nichts. Es sind Resümees, auch mal ein Räsonieren, es plätschert manchmal etwas dahin (besonders wahrscheinlich wenn man das vom Autor selbst eingelesene Hörbuch gewählt hat) in einer Sprache, die Bildung im Kreuz hat, aber gleichzeitig auch etwas blutleer daherkommt - gewählt, höflich, distanziert, sehr gefasst. Mag sein, das bringt das Alter mit sich: Die entscheidenden Dinge sind in der Vergangenheit, in der Jugend passiert. Auch ein zorniger Blick zurück verspräche keine Änderung. Und ja, womöglich denken und sprechen akademisch gebildete Männer um die Siebzig so. Man muss das mögen. Mir wurde es gegen Ende zuviel.


    ASIN/ISBN: 3257246439

    Die achtzehnjährige Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, lebt mit ihrer älteren Schwester Constance und ihrem Onkel Julian, der im Rollstuhl sitzt, in einem herrschaftlichen Haus in Vermont. Nach einer Familientragödie, durch die vor sechs Jahren die Eltern der Schwestern, ihr jüngerer Bruder und die Tante umkamen, nach einem Prozess, in dem man Constance einen Giftmord an ihrer Familie nicht nachweisen konnte, leben die Drei ein zurückgezogenes, geradezu einsiedlerisches Leben. Allein Merrycat verlässt das Grundstück für den wöchentlichen Einkauf. Damit begibt sie sich jedesmal auf einen Spießrutenlauf, denn die Dorfbewohner verspotten sie, Erwachsene wie Kinder. Regelmäßig bekommen sie Besuch von einer alten Freundin der Mutter, aber selbst diese verhält sich ambivalent, indem sie zum Beispiel klar sensationslüsterne Freundinnen mit in das Haus der geächteten Blackwoods schleust. Dabei tut Merrycat alles, um sich und die ihren abzuschotten: Sie kontrolliert nicht nur regelmäßig den Zaun, der das Grundstück umschließt, sondern betreibt allerhand Abwehrzauber. Der Onkel schreibt an seinen Memoiren, die Schwestern halten das Haus in all seinem verschwenderischen Überfluss in einer festen Routine peinlich sauber. Constance kocht mit Leidenschaft und kümmert sich um ihren Garten. Es ist ein immer gleicher, aber auch irgendwie idyllisch anmutender Alltag, unter dessen Oberfläche der Abgrund gähnt: Die „überlebenden“ Blackwoods leben - im übertragenen Sinne - mit den Gespenstern ihrer toten Verwandten und verschanzen sich vor Dämonen, die außerhalb ihres Grundstücks darauf lauern, ihnen etwas anzutun.

    Eines Tages wird ihr Leben durch einen Cousin gestört, der sich zunehmend aggressiv bei ihnen einnistet. Constance, die mittlerweile daran zweifelt, dass ihr abgeschiedenes Leben richtig sein kann, zeigt sich aufgeschlossen gegenüber Charles. Merrycat hingegen versucht in einer kindlich-hilflosen Art alles, um ihn zu vertreiben.

    Schließlich kulminieren die Geschehnisse in einem furiosen Akt der Zerstörung.

    Hier beende ich die Zusammenfassung der Handlung, der Roman endet hier nicht.


    Erzählt wird der Roman aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Merrycat. Ihre Sicht auf die Welt ist geprägt von Feindseligkeiten der Außenwelt gegen ihre Familie. Ihre Familie, die wahrscheinlich - Einzelheiten bleiben dem Leser vage - ja selbst nie ein sicherer Ort war, ist geschrumpft auf den Onkel und die geliebte Schwester, die sie, aus der untypischen Rolle der jüngeren Schwester heraus, vor der bösartigen Welt außerhalb ihres Anwesens beschützen möchte.

    Es wird nicht oft klar, dass der Roman (wahrscheinlich) in den 1960-er Jahren spielt, denn es gibt wenige zeittypische Anker im Text. „Modernes“ - Auto, Bus, Taschenlampe … - kommt meistens im Außen vor. Im Haus und darum herum gibt es vornehmlich ältere und nicht eindeutig zu datierende Dinge. Die Schwestern und der Onkel leben mit Gegenständen, die Generationen von Blackwood-Frauen angeschafft haben, mit selbstgezogenem Gemüse und dem Wald, der das Haus umgibt. Das, und die Sprache der Merrycat, welche oft jünger wirkt als sie ist, im Setting der 1960-er-Jahre aber auch tatsächlich noch nicht volljährig war, naiv und klar zugleich, geben dem Roman als solches über weite Strecken etwas Zeitloses.


    „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ gilt als der beste Roman von Shirley Jackson. Er wird dem Mystery-Genre zugerechnet, und dort der (als solches umstrittenen, nicht klar zu umreißenden) Gattung Slipstream. Damit bewegt er sich auf einer Grenze: Es ist kein phantastischer Roman, denn tatsächlich gibt es keine übernatürlichen Elemente. Dafür bedient er sich Methoden wie der eines unzuverlässigen Erzählers und Auslassungen. Die „phantastische“ Welt existiert alleine im Kopf der Ich-Erzählerin Merrycat, die an Magie glaubt und Abwehrzauber praktiziert, um die Realität von ihrer Schwester und sich fernzuhalten, die Realität, die für die eingeschworene Gemeinschaft der Schwestern (mit dem eher nur geduldeten, aber dennoch umsorgten Onkel) aus der tatsächlichen Feindseligkeit und Grausamkeit der Außenwelt, der Einwohner des Dorfes, besteht. Da ist der Zaun um das großzügige Anwesen, den der Vater gebaut hat, die Agoraphobie der Schwester, die zunehmende geistige Eintrübung und der körperliche Verfall des Onkels, das Gefühl der Abgeschiedenheit, aber auch ein großzügiges, vermeintlich sicheres Refugium. Merrycat sucht Halt und Heil in der von dieser erwiderten Liebe zu ihrer Schwester, der Verbundenheit mit Kater Jonas und im Glauben an Magie. Sie sind eine verschworene Gemeinschaft, die fest zueinander steht, obwohl (von innen betrachtet) den beiden „unschuldig“ Beteiligten klar sein muss, dass einer der beiden anderen der Mörder ihrer übrigen Familie ist. Das ist eine gewagte psychologische Konstellation, die eines Autors bedurfte, der dies tatsächlich glaubhaft vermitteln konnte. Oft liest man, der Roman sei in einer einfachen Sprache geschrieben: Dem stimme ich nicht zu. Vielmehr hat die Sprache der Merrycat oft etwas Klarsichtiges und Doppelbödiges. Shirley Jackson ist so ohne Einschränkung gelungen, eine zunächst unwahrscheinlich scheinende Geschichte glaubhaft zu erzählen.


    Würde man Shirley Jackson (1916 - 1965), die hauptsächlich durch Werke bekannt wurde, die im Grusel- und Horror-Genre angesiedelt sind („Spuk in Hill House“) mit dem Etikett einer Autorin von Spukromanen versehen, würde man sie damit deutlich unterschätzen. Andere ihrer Bücher befassen sich (autobiografisch und aus Zeitungskolumnen hervorgehend) mit Familie und Haushalt („Life among the Savages“, in der deutschen Übersetzung weit weg vom Original 1954 betitelt mit „Nicht von schlechten Eltern“, 2022 noch weiter weg mit „Krawall und Kekse“). Tatsächlich hat sie auch früh Topoi, launige wie düstere, behandelt, die sich in späteren Werken anderer Autoren, Filmschaffenden etc. wiederfinden. Wäre Jackson heute eine „Mama-Bloggerin“ und gleichzeitig Autorin besonders düsterer Romane, die Abgründe unter biederen Fassaden enthüllen? Wer weiß.

    Vor zwei Jahren gingen schon Artikel durch die Presse, die darauf hinwiesen, dass hier eine von weiten Kreisen unterschätzte Autorin wiederzuentdecken sei. Dem schließe ich mich an.

    Hallo Susanne,


    gerne! Mir persönlich sind Schlinks Figuren vom Alter her so fern nicht 🙂 Schlink schreibt mehrheitlich über nicht mehr junge Menschen und hier (meine ich) ausschließlich über Akademiker, zumindest über Menschen, die sich in entsprechenden Kreisen bewegen. Es gibt also (in dieser Geschichtensammlung) keine Figuren mehr wie die der Straßenbahnschaffnerin, um die sich sein wohl berühmtester Roman dreht.


    Mittlerweile bin ich bei einer weiteren Anthologie seiner Erzählungen, nämlich „Abschiedsfarben“, die zehn Jahre später erschienen ist und in Rezensionen schon mal als „typisches Alterswerk“ beschrieben wird.


    Viele Grüße,

    Petra

    Hallo zusammen,


    um den Thread wieder etwas zu beleben:


    Seit 2022 gibt es den Podcast „Null Uhr Eins“, in dem sich die beiden Hosts „über Horror und alles Horror-Ähnliche“ unterhalten, und zwar über alle Medien hinweg, in denen dieses Genre (oder eigentlich diese Genres, denn es gibt hier doch eine erhebliche Vielfalt) zuhause ist: Romane, Filme, Serien, Mangas, Spiele, Let’s Plays … Ich bin gerade erst auf diesen Podcast gestoßen, habe einige Folgen gehört und bin ziemlich angetan. Auch wer mit dem Genre nichts am Hut hat, würde wahrscheinlich Werke kennen, die dort besprochen werden. Über TV-Klassiker wie „The X-Files“, „Twin Peaks“, Stephen King als Altmeister des Genres, „Psycho“, hin zu neueren Werken, steht Trash neben Kunst, gefüttert mit Hintergrundinfos. Jede Folge steht unter einer Überschrift und behandelt zwei Werke, streift dabei aber eine Vielzahl verwandter Produkte. Die Gespräche sind manchmal ziemlich nerdig - was ich ausdrücklich positiv meine, denn die beiden haben offensichtlich eine Menge Ahnung. Ich habe jetzt zwar einige Bilder im Kopf, die ich lieber nicht hätte - es gibt ziemlich abgefahrenes Zeug auf diesem Gebiet - aber ok, bleibt wahrscheinlich nicht aus.


    Viele Grüße,

    Petra

    Erzählungen und Kurzgeschichten sind, so heißt es, für nicht Etablierte schwierig an den Verlag zu bringen. Es gibt natürlich Anthologien, einige davon gehen aus Wettbewerben hervor, aber ein Buch mit Kurztexten von einem einzelnen Autor/einer einzelnen Autorin zu veröffentlichen, gilt als Ausnahme - korrigiert mich, wenn ich falsch liege - es sei denn, der Verfasser hat bereits einen Namen. Den hat der gelernte Jurist Bernhard Schlink (Jahrgang 1944): Angefangen als Krimiautor, wurde sein Roman „Der Vorleser“ von 1995 international bekannt, nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Kate Winslet. Der Roman handelt vom Umgang der Deutschen mit der nationalensozialistischen Vergangenheit, eingebettet in die Geschichte einer erotischen Beziehung eines Gymnasiasten zu einer Straßenbahnschaffnerin. Jahre später begegnet er ihr als Jurastudent vor Gericht wieder: Als ehemaliger KZ-Aufseherin soll ihr der Prozess gemacht werden.


    Die Sammlung „Sommerlügen“ von 2010 beinhaltet sieben Erzählungen:

    In „Nachsaison“ kuriert ein Orchestermusiker eine Handverletzung in Cape Cod aus und begegnet am Strand einer reichen Erbin. Trotz der Unterschiede keimt aus der Zufallsbegegnung innerhalb kurzer Zeit der Plan, miteinander eine Familie zu gründen.

    „Die Nacht in Baden-Baden“ handelt von

    einem Theaterautor, der - aus Versehen - eine Groteske verfasst und zu der Premiere eine andere Frau als seine Freundin mitnimmt, um mit ihr eine platonische Nacht in einem Hotelzimmer zu verbringen.

    „Das Haus im Wald“ sendete mir ein paar eindeutige Stephen King-Vibes: Ein Schriftsteller wird von seiner Frau überflügelt und zieht mit ihr und der kleinen Tochter aufs Land. Während sie ihren neuen Roman fertigschreibt, schmiedet er Pläne - weitere Kinder und Home Schooling - um sich und seine Familie ganz und gar von der Außenwelt abzuschotten.

    In „Der Fremde in der Nacht“ bekommt ein Professor für Verkehrsströmungslehre auf einem Flug eine Geschichte erzählt, die von Menschenhandel, Krieg, Flucht, einem Sturz von einem Balkon und daraus resultierend einem Prozess handelt, der seinen Sitznachbarn erwartet.

    „Der letzte Sommer“ erzählt von einem krebskranken Philosophieprofessor, der in Erwartung seines baldigen Freitods seine Familie um sich versammelt, die von alledem nichts ahnt.

    In „Johann Sebastian Bach auf Rügen“ ringt ein Sohn um eine Verbindung zu seinem greisen Vater.

    Und in „Die Reise nach Süden“ stellt eine alte Frau fest, dass sie aufgehört hat, ihre Familie zu lieben. Auf einer Reise mit einer Enkelin gesteht sie sich eine Lebenslüge ein.


    Schlinks Protagonisten sind bis auf eine einzige Ausnahme männlich und bewegen sich - als Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Professoren - in einem akademischen/künstlerischen Umfeld. Sie sind gebildet, gut situiert, zumeist nicht mehr ganz jung. (Heute würde man womöglich sagen: Es geht überwiegend um „alte weiße Männer“.) Mehrere Geschichten handeln in den USA, dann mit einem deutschen Hintergrund des Protagonisten. Oft sind die Berufe entscheidend dafür, wie die Protagonisten auf das reagieren, was ihnen widerfährt. Das mag selbstverständlich sein, denn nur so wird letztendlich eine Geschichte draus, ins Auge fällt es trotzdem, zum Beispiel bei dem Theaterautor, der sich wundert, dass sein Stück als Groteske inszeniert wurde, der aber in seinem Privatleben ähnlich absurde Entscheidungen trifft. Oder bei dem Physiker, dessen Lebensinhalt der geordnete Ablauf von Verkehrsströmen ist, einem Mann also, der sich von dem Wunsch nach Ordnung und Logik leiten lassen wird, sich aber bewusst von einem Lebenskünstler, Kriminellen und sehr wahrscheinlich Mörder beeindrucken lässt.

    Frauen sind in sechs von sieben Geschichten mehr Beiwerk. Ihre Gedanken erfährt man nicht, allenfalls, wenn sie sie äußern, oder kann sie nur erraten, aus dem, wie sie sich verhalten. Dabei sind sie mitunter aber nicht unwichtige Lenker oder zumindest Impulsgeber der Geschichte, der Mann reagiert mehr, wie in „Nachsaison“, wo der Musiker sich erst darauf besinnt, was er alles aufgeben muss - wenn er tatsächlich mit der Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, ein neues Leben beginnen sollte - als er alleine ist, als er der physischen Präsenz der Frau quasi „entronnen“ ist. Mitunter kann man den Eindruck gewinnen, diese Protagonisten wissen nicht wirklich, was sie wollen - oder vielleicht liegt es auch daran, dass zwischen Erwartungen von Menschen in Beziehungen, im Leben wie in der Literatur, elementarere Unterschiede bestehen können. Die Menschen in „Sommerlügen“ belügen andere, und mitunter belügen sie sich selbst; über ihre Motive, eigene Verantwortungen und Verstrickungen.


    Ich habe die Geschichten gerne gelesen, genauer, mir vorlesen lassen. Der 2016 verstorbene Schauspieler Hans Korte liest die Erzählungen ausdrucksstark, in einer ihm eigenen mitunter etwas nuscheligen, Wörter miteinander verschleifenden Art, die aber gut zum Charakter der Texte passt. „Das Haus im Wald“ halte ich für die schwächste Geschichte. Die meist offenen Enden weisen die Richtung, lassen aber Raum für eigene Interpretation.

    Ich finde die Diskussion hier skurril und gleichzeitig traurig. Traurig, weil wahrscheinlich jeder, der schreibt, lebensechte Figuren erschaffen möchte, Personen, mit denen man mitfühlen, in die man sich hineinversetzen kann, oder auch Scheusale, von denen man sich abgrenzen kann. Bloß „echt“ sollen sie sich anfühlen.


    Bärbel, welche Eigenschaften auch immer ihr eine andere Figur zuschreibt, kommt mir hier in keiner Weise nahe, sie bleibt jemand, über die jemand spricht. Während die Ausgangsfrage in sich unbeantwortbar ist (weil jeder einen anderen Eindruck gewinnt, als Leser eines Romans oder als Mensch im echten Leben, und dabei höchstens zweitrangig ist, was ein Dritter über diese eine Person sagt), macht es die Beschreibung der Situation nicht besser. Es ist egal, ob sie mit dem linken oder dem rechten Knie auf der Bühne kniet und ob der andere Fuß daneben oder davor (davor?) steht - wo soll er sich denn sonst befinden?! Auch wenn es eine Erklärung für uns sein soll, fürchte ich, dass der Text so vorkommt, und damit wäre es nur ein Beispiel von Überfrachtung durch unnütze Details. (Von einem Wink in Richtung Kreuzigungsszene, ausgebreitete Arme, barfuß, ein Bein angewinkelt, will ich mal nicht ausgehen.) Und wenn ich einerseits Überfrachtung empfinde, mangelt es mir anderswo: Da wird zum Beispiel vorausgesetzt, dass jeder „Zonenkinder“ gelesen hat und folglich weiß, wofür hier „Schweigende Generation“ steht. - Gut, mag sein, dass Deine Zielgruppe das weiß!
    Aber eigentlich ging es ja nur um Eigenschaften, die eine Romanfigur einer anderen zuschreibt, nicht um die Figuren selbst. Warum reden wir dann die ganze Zeit über Bärbel?


    Gerade Live-Musik kann zu einem großen Ereignis werden, Performer sich wahnsinnig pathetisch verhalten und dennoch das Publikum hinreißen. Pathos finde ich nicht unbedingt schlimm. Wahrscheinlich kommen wenige Konzertfilme ohne fast rauschhafte oder zumindest sehr intensive Szenen aus - das auf dem Papier darzustellen, ist eine ganz andere Nummer, weil einem Autor wahrscheinlich weniger offensichtliche Mittel zur Verfügung stehen. Keine Scheinwerfer, keine Soundeffekte, kein Trockeneis, kein Feuerwerk - nur Worte.

    Kaum ein Kunstwerk, das „wir“ bewundern, und schon gar nicht jedes Lebenswerk eines Künstlers, lässt sich ohne Verbindung zu seinem Schöpfer wertschätzen - wobei „Kunstwerk“ hier ausdrücklich alles meint, für das es einen kreativen Schöpfungsakt bedurft hat: ein Gemälde genauso wie einen Film, ein Lied, einen Roman. Während für den gelegentlichen Betrachter/Konsumenten eines Werks dessen Schöpfer vermutlich keine besondere Rolle spielt, ist er für den Fan von herausragender Bedeutung. Vielleicht hat ihn der Urheber/die Urheberin mit seinem/ihrem Werk aus der Seele gesprochen, ihn ergriffen, bestätigt, getröstet, gar den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Wenn das erstmalig geschieht - und wahrscheinlich geschieht es nicht oft, dass einen etwas wirklich nachhaltig beeindruckt - wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch neugierig auf die Person hinter dem Werk, möchte ihren sonstigen künstlerischen Output kennenlernen, mitunter beeinflusst der sogar einen eigenen Schaffensprozess.


    Das ist nicht weiter problematisch, solange eigene Wertvorstellungen nicht mit Enthüllungen kollidieren, die den geschätzten Künstler in der Folge vom Sockel stoßen. Anschuldigungen werden erhoben, vielleicht wahr, vielleicht erlogen, vielleicht „ein bisschen wahr“. Was, wenn der Schöpfer des Werks, das man so schätzt, sich als Kotzbrocken oder gar als Straftäter entpuppt, als Mörder, als Antisemit, als Rassist, als Vergewaltiger ...? Der nur gelegentliche „Konsument“ der Kunst mag nur mit den Schultern zucken, für den Fan allerdings bricht mit ziemlicher Sicherheit eine Welt zusammen, sieht er sich doch vor entscheidende Fragen gestellt: „Darf“ er die Kunst weiter genießen? „Muss“ er sich lossagen? Gibt es einen Mittelweg? Man ist (oder war) ja nicht von ungefähr Fan. Warum einer Künstler A oder B gut findet, hat immer auch etwas mit einem selbst zu tun, über bloße Geschmacksgrenzen hinaus. Umso härter also die Entscheidung.


    Claire Dederer berichtet in „Genie oder Monster“ (das im Original schlicht „Monsters“ heißt) vom Publikum, das von „seinem“ Künstler fortan lassen soll, lassen will, nicht lassen kann, und sei es unter Qualen. Wie soll ein solches Dilemma aufzulösen sein? Es gibt schließlich keine Maschine, die den Wert von Kunst gegen menschliche Makel aufrechnet. Jeder Fan steht da vor dem ureigenen Dilemma, jeder muss, will er sich nicht abwenden, mit dem „Fleck“ leben, der sich dann auch auf ihn selbst ausbreitet.


    Dederer ist mit einer eigenen Vorliebe für einen solchen Künstler zum Thema gekommen: Roman Polanski. Sie zählt in ihrem Buch nicht etwa bloß „gefallene“ Künstler oder solche, deren „Monstrosität“ noch still akzeptiert wurden, auf, obwohl es natürlich Namen gibt, die unweigerlich vorkommen müssen: Polanski also, Woody Allen, Picasso, Hemingway … Sie schreibt über Me-too, wie sich die Rezeption von Frauen mit eigenen Gewalterfahrungen grundlegend von einer rein männlichen Sicht auf die Dinge unterscheiden kann, über feministische Blickwinkel, Cancel Culture, auch über hochgradig verstörende Werke, deren Schöpfer sich (nach allem, was man weiß) selbst nicht schuldig gemacht haben, die aber trotzdem in den Ruch geraten sind. Sie schreibt über Werke, die heute ihrer Überzeugung nach so kaum noch erscheinen würden, auch über den Drang, sich entweder über die „Monster“ zu stellen, sich abzugrenzen, oder gerade von ihnen angezogen zu werden. Sie schreibt über eine Art Rückschaufehler, wenn Stephen Fry in die Vergangenheit reisen und Richard Wagner ausreden möchte, so ein „fieses kleines Buch“ zu schreiben, welches fortan sein epochales musikalisches Genie beflecken würde. Sie führt aus, dass, während es viele Verbrechen gibt, deren sich männliche Künstler schuldig machen können, die am schlimmsten bewertete Schuld von Frauen darin bestehe, ihre Kinder zugunsten ihrer Kunst zu vernachlässigen oder gar zu verlassen (was, wie ich anmerken möchte, auch damit zusammenhängen könnte, dass Frauen/Müttern generell weniger Straftaten zugetraut und demnach auch nicht offenbar werden).


    Dass Dederer, was Künstlerinnen angeht, allein vom Verlassen ihrer Kinder spricht, ist meiner Meinung nach zu kurz gedacht, da es auch solche gegeben hat, die ihre Kinder nicht „nur“ zurückgelassen, sondern zum Objekt gemacht haben, um ihr Image zu stärken oder sogar um künstlerischen Ruhm erst zu erlangen - Joan Crawford findet kurz namentlich im Buch Erwähnung, nicht aber z. B. Irina Ionesco, deren Fotografien von/Filme mit ihrer Tochter Eva heute teils indiziert sind (dabei dürfte ihr der Name nicht unbekannt sein, gibt es doch einen Link zu Polanski).

    Nicht vorwerfen kann man der Amerikanerin Dederer, dass Männer wie Klaus Kinski in diesem Buch fehlen, der ansonsten gut in diese Reihe passen und in einer Betrachtung über Künstler im deutschsprachigen Raum nur einer von vielen sein würde.

    Ich gehe nicht mit allen Überlegungen und Schlüssen Dederers konform, bin aber insgesamt angetan von dem Buch, das viele Facetten von Kunst, Künstlern, Kunstschaffenden und Kunstrezipienten, als Autorin auch und gerade über das Schreiben, aufwirft.


    ASIN/ISBN: 3492072275

    Was für ein Buch! Erstaunlich genug bei dem Inhalt, ist es wirklich saukomisch geschrieben (in dem Zimmer hat ein mit Ebola infizierter Kranker gelegen: inzwischen mal durchgewischt?), aber auch voller Selbstironie, Erkenntnis, Relexion ... Es ist in vielerlei Aspekten ein ... wie soll ich's ausdrücken ... ein lebenskluges Buch, das viele Aspekte streift, die mich auch regelmäßig umtreiben (allerdings nicht bez. des Myeloms, denn hier wie überall kommt es nicht nur darauf an, in welchem Jahr man erkrankt, sondern auch, wie alt der Patient ist und welchen Strapazen man ihn noch aussetzen kann).


    Bleibt für mich die Frage: Ist das ein autobiografischer Roman (wie z. B. Gorkows "Die Kinder hören Pink Floyd")? Oder ein Erfahrungsbericht (eher nicht)? Oder ...?

    Man muss das nicht in eine Schublade stecken, dennoch.

    Ich tendiere zu ersterem, denn für einen simplen Bericht hat es viel zu sehr von einem Roman. Um so ein Buch zu schreiben, braucht es auch Abstand, denn bei so einer Erfahrung kann einiges nur (wenn überhaupt) im Rückblick komisch sein bzw. lässt sich so aufbereiten.


    Danke für die Empfehlung, Tom! Es war für mich definitiv ein Highlight!

    Ich habe einiges über Sekten, Glaubensgemeinschaften, alternative Lebensformen gelesen, gut möglich aus einem gewissen Voyeurismus heraus, aber auch, weil es logisch wie emotional für mich nicht greifbar ist, wie es zu diesen extremen Ausprägungen kommen kann. Menschen, die auf der Suche sind, glauben etwas in einer Organisation zu finden, die sie finanziell, physisch und psychisch ausbeutet, ihnen vorschreibt, wen sie zu heiraten haben, die durch Umrühren in einer Badewanne „energetisiertes“ und auf Flaschen gezogenes Wasser kaufen, an Krankheiten sterben, an denen sie nicht zwangsläufig sterben müssten, weil sie aufs Handauflegen vertrauen … und, und, und.


    Natürlich wollen die meisten Menschen mehr sein als ein Rädchen im Getriebe und vor allen Dingen, als „Krone der Schöpfung“, ihrem Leben Sinn geben und nicht einfach vergehen, wenn ihre Zeit um ist. Diese Melodie aus dem Roman (dem ein wahrer Fall zugrunde liegt) ist keine peitscheschwingende Despotin, und dennoch jemand, der gelernt hat, sehr manipulativ und durchsetzungsstark zu sein, wenn sie auf die Menschen trifft, die dafür empfänglich sind. Sie übt Gewalt aus, die sie sehr gut zu tarnen versteht. Die Vier im Roman sind mündige Menschen, die, und das ist nur einer der verstörenden Aspekte daran: die füreinander da sein wollten.

    Eine Frau stirbt in einer Wohnung, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, organisch gesund. Friedlich und sanft, sagen ihre Mitbewohner. Verhungert, sagt der herbeigerufene Arzt, der den Totenschein ausstellen soll.

    Was hat sich zugetragen in dieser Wohngemeinschaft, die sich selbst den Namen „Klang und Liebe“ gegeben hat? Wie konnte es soweit kommen?

    Davon berichten kein personaler und auch kein allwissender Erzähler, sondern davon erzählen zig Einzelstimmen: der Vater der Verstorbenen, ihre Schwester, deren übrige Geschwister, im Kollektiv, die Nachbarn, der Rechtsmediziner, und sogar unbelebte Gegen- und Zustände: Socken, ein Entsafter, zwei Zigaretten, ein Orangenduft, Demenz, Licht – den Anfang macht die Nacht: „Wir sind die Nacht“, so beginnt der Roman und schafft so eine Klammer bis zum Schlusskapitel.


    Die Wohngemeinschaft Klang und Liebe besteht aus Melodie van Hellingen, ihrer Schwester Elisabeth, Muriel und Petrus. Diese Vier haben sich zusammengetan, um miteinander zu leben, einander eine Stütze zu sein. Sie wollen mehr vom Leben als sinnlos zu konsumieren, sie wollen sich dem als feindlich empfundenen „System“ entziehen. Sie meditieren viel, arbeiten an sich. Petrus will lernen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Melodie lenkt, Melodie ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Wohngemeinschaft, eine Anführerin der leisen Töne. Wenn Melodie befindet, dass Nahrungsaufnahme Zeitverschwendung ist und vom wirklichen Sinn des Lebens ablenkt, dann sind die anderen bereit, diesen Weg mit zu beschreiten. So folgen sie gemeinsam dem Konzept der Lichtnahrung: die Vier wollen ihre Körper von der als Zwang und überflüssig empfundenen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme befreien, so, wie man sich von einer Sucht befreit.


    Was zunächst künstlich klingen mag (oder wie die Aufgabe in einer Schreibwerkstatt: schreib aus der Sicht eines Stuhls, eines Tisches …), ergibt in diesem Roman zweifellos Sinn, denn wer könnte in einer geschlossenen Gemeinschaft, noch dazu der Gemeinschaft von drei Personen, die verdächtigt werden, den Tod der vierten Person zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar aktiv (mit) verschuldet haben, „objektiv“ davon künden, was eigentlich passiert ist? Der Vater des Opfers, die Familie, die Nachbarn haben ihre mehr oder minder entfernten Blicke auf die Geschehnisse, von außen, die, die dabei gewesen sind, sind gefangen in ihren Glaubenssätzen, ihren Zweifeln, ihren Abhängigkeiten, aber die Gegenstände waren nicht nur hautnah dabei, sondern sind quasi neutrale Zeugen, wo die Polizei zwangsläufig im Dunkeln tappt, erhellen sie die Geschehnisse.


    Der mehrfach ausgezeichnete Debütroman „Wir sind das Licht“ der Niederländerin Gerda Blees (Jahrgang 1985) ist kein Krimi, wenn auch die Struktur des Romans sich an den Ermittlungen der Polizei entlangbewegt. Wie schon in den beiden von mir Anfang des Jahres vorgestellten Romanen „Es wird wieder Tag“ von Minka Pradelski und „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin, wartet „Wir sind das Licht“ mit einer ungewöhnlichen Erzählperspektive auf. So drückend und schwer ihr Thema ist, so karg und vernunftfern sich das Sein und letztendlich zwangsläufig sinnlose Streben der Figuren darstellt, so gestaltet Blees ihre Erzählstimmen doch sehr farbig und lebendig – grandios das Kapitel, in dem die Demenz (der Mutter) spricht.

    „Wir sind das Licht“ ist einer der Romane, die man getrost zweimal lesen (oder hören) kann und bei denen man immer noch Dinge erfährt, die man beim ersten Mal verpasst hat.


    ASIN/ISBN: 3552072748