Wenn ein Mann, kurz bevor er den Kaufvertrag für eine exklusive Stadtwohnung mit Meerblick unterschreibt, erwähnt, dass er sich Sorgen wegen des hohen Kaufpreises macht, dann weiß der erfahrene Leser – in diesem Fall – Zuschauer: Das ist ein Beispiel für das berühmte Gewehr an der Wand, das im Laufe der Geschichte abgefeuert werden MUSS! Und: Wahrscheinlich wird ihm dieser Kauf auf die Füße fallen. Eine schicke Wohnung ist das für einen Polizisten. Ein Polizist muss in Oslo gut verdienen. Dabei gönnt man dem jungen, attraktiven Paar, das offenbar Nachwuchs erwartet, ein angenehmes Leben. Kurz bevor Lars seine Unterschrift unter den Kaufvertrag setzt, flackert im Hintergrund das Licht. Er unterschreibt. Dann klingelt sein Handy: ein Einsatz. Nahe der Oper haben Jugendliche Menschen aus dem Meer gefischt, die wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht waren. Leute, die unverständliches Kauderwelsch reden, das müssen, so denkt man offenbar in Norwegen, Isländer sein. Der herbeigerufene Isländischkundige schüttelt den Kopf: Diese Leute reden eine Art Altnordisch. Und, zumindest das versteht er, sie behaupten, aus der Vergangenheit zu stammen.
Schnitt. Gut fünf Minuten später ist das Gewehr bereits abgefeuert worden: In dem exklusiven Apartmenthaus ziehen jetzt, Jahre später, unangenehme Gerüche durch die Lüftungsschächte, im Fahrstuhl hält ein Mieter eine Ziege, und das ist nur ein Grund dafür, dass die Wohngegend einen herben Verfall der Immobilienpreise erfahren hat. Lars hat offenbar mehr als nur einen Grund, sich wegzuschießen. Immerhin diese Droge ist sehr clean und unauffällig: Man träufelt sie sich ins Auge. Seine Tochter ist mittlerweile im Teenager-Alter, seine Frau hat ihn verlassen und lebt jetzt mit einem sehr kultiviert auftretenden Mann aus dem – jawohl – 19. Jahrhundert zusammen. Im Rundfunk laufen allmorgendlich (nicht die Corona-Zahlen) die aktuellen Zählungen über die Neuankömmlinge: Weltweit, seit jenem denkwürdigen beschriebenem Abend, treffen täglich neue Menschen aus drei Epochen in der Gegenwart ein – aus der Steinzeit, der Wikingerzeit und, wie schon erwähnt, aus dem 19. Jahrhundert. Was, wie sich jeder denken kann, zu einigen, nicht nur gesellschaftspolitischen Problemen führt.
In der modernen Gesellschaft bemüht man sich um Integration, und so ist man stolz, als bei der Polizei die erste Mitarbeiterin mit – wie es heißt – multitemporalem Hintergrund eingestellt wird. Damit kann man punkten, auch wenn man sie insgeheim nur als eine Art Maskottchen betrachtet, sozusagen eine Quotenwikingerin (würde das Wort „Wikinger“ denn noch allerorten wohlgelitten sein). Unglücklicherweise zeigt sich Alfhildr weniger dankbar als man gehofft hatte: Das Verbot, Schildmaiden in den Polizeidienst zu stellen, hat sie wohlweißlich umgangen, indem sie sich als Bäuerin ausgegeben hatte. Schildmaid, das mag irgendwie niedlich klingen, ist es aber nicht: So bezeichnete man Kriegerinnen, Frauen, die vor tausend Jahren Heim und Feuerstelle gegen das Schwert eintauschten und im Gefolge eines Anführers raubend und kämpfend durch die Lande zogen. So also auch Alfhildr, die sich dem Häuptling Thorir Hund angeschlossen hatte, der wiederum Anteil hatte am Tode Olav „des Dicken“ aka König Olav II aka Olav „der Heilige“. Auch jenen Thorir Hund verschlägt es in die Gegenwart – leider erinnert er sich zuerst nicht an seine Vergangenheit als Anführer und verdient sich seinen Lebensunterhalt nun mehr schlecht als recht als Essensbote. Zunächst aber geht es darum, den Tod einer unbekannten Frau aufzuklären, augenscheinlich eines Neuankömmlings aus der Vorzeit, deren Leiche eines Tages am Strand aufgefunden wird.
„Beforeigners“ – der Titel ein Kofferwort aus „before“ und „foreigners“ – ist eine sechsteilige HBO-Miniserie, die momentan noch in der ARD-Mediathek abzurufen ist, eigentlich aber die erste Staffel einer Serie, die erkennbar auf Fortsetzung angelegt ist, einem Mix aus Science Fiction, Krimi und Culture Clash-Komödie. Man greift hier also zu Zutaten, die, jede für sich, alles andere als neu sind: Das Thema der Zeitreisen hat es mittlerweile zu einer beachtlichen Anzahl an literarischen wie filmischen Umsetzungen geschafft. Auch das Mittel des „Wir stecken jemanden in eine vollkommen fremde Umgebung, der Rest ergibt sich von allein“ kennt man. Culture Clash funktioniert mit und ohne phantastischen Hintergrund: Es gab die Flodders, Catweazle, Pretty Woman Vivian Ward, den Prinzen von Zamunda (woraus man womöglich eine Szene für „Beforeigners“ entlehnt hat, abgekupfert oder als Verneigung vor dem Vorbild) und Daryl Hannah als Nixe – nur, um einige zu nennen. Zeitreise und Culture Clash gehen systemimmanent immer einher. Trotzdem schafft „Beforeigners“, dem Thema noch andere Aspekte zu entlocken, gerade auch durch die offenkundigen politischen, aber quasi auf den Kopf gestellten Parallelen. Es lässt sich gar schlecht fremdenfeindlich sein, wenn „die Neuen“ mit Fug und Recht behaupten können, früher dagewesen zu sein. Figurenzeichnung und Besetzung sind gut, das Drehbuch spart auch nicht an Spitzen, etwa, wenn einem Museumsdirektor vorgehalten wird, er habe seine Ausstellung nicht – auf Nordisch und Mesolithisch – mit Warnhinweisen versehen, da manche Werke retraumatisierend auf Menschen mit multitemporalem Hintergrund wirken könnten. Die zweite Schildmaid im Bunde, eine Kampfgefährtin Alfhildrs, die mit einem Bildnis Thorirs kurzen Prozess macht, hat freilich weniger ein Trauma erlitten, hatte der Dargestellte sie – in ihrem vorherigen Leben – doch bloß abserviert. Liebe und Eifersucht sind Dinge, die es offenkundig durch die Jahrhunderte geschafft haben. So findet man, bei aller Unterschiedlichkeit, doch auch Verbindendes unter den Menschen dieser vier Epochen, die sich den wenigen Platz im Oslo der „Beforeigners“ teilen.