• Die ganz Alten unter uns werden sich noch an die Geiselnahme von Gladbeck erinnern. An die gierige Journalisten-Meute, die das Auto verfolgte, es umzingelte und durch einen Vertreter selbst im Auto war.


    Es folgte der Ruf nach einem neuen Ehrenkodex. Das konnte schon damals nur eine leere Forderung sein. Denn Kunde und Anbieter leben in einem Geschäft, in dem nur das Neueste vom Neuen zählt.


    Nichts hat sich geändert. Während ich dies schreibe, steht bei SPON etwas davon, die Ermittler hätten bei der Hausdurchsuchung Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Co-Piloten gefunden. Es sei aber unklar, um welche Indizien es sich handele.


    Wichtig sind nicht die Fakten. Wichtig ist das Gerücht. Die Spekulation.


    Wahrscheinlich gibt es längst wieder neue „Nachrichten“, i. e. Spekulationen, wenn ich diesen Beitrag einstelle. Das ist doch irre.


    Es geht immer noch um einen Verdacht in Bezug auf den Co-Piloten. Das einzige mir bekannte Medium, das das durchgehend so darstellt, ist der Deutschlandfunk. Die anderen haben längst Fakten geschaffen, wo keine sind.


    In einer Besprechung von „Maybrit Illner“ lese ich:
    „Markus Wahl von der Pilotenvereinigung Cockpit war es, der gleich Frau Illners Eingangsstatement mit der Gegenfrage konterte, ob denn das Bild, das jetzt vom Hergang der Katastrophe gezeichnet werde, überhaupt schon komplett sei. Man solle doch bitte erst einmal die weiteren Untersuchungen abwarten. Es gebe auch ganz andere Erklärungsmöglichkeiten.
    Deutlicher wurde Ex-Minister Ramsauer. Es sei doch gar nicht gesagt, dass die Darstellung des französischen Staatsanwalts vom erweiterten Suizid des Co-Piloten tatsächlich zutreffe. Wenn ein Staatsanwalt etwas behaupte, müsse das schließlich keineswegs stimmen. Oft genug fielen die Urteile später anders aus. Und ausgesprochen kritisch und mit unverhohlener Skepsis äußerte sich Fachjournalist Spaeth.“


    FAKTEN SIND DIE GRUNDLAGE FÜR MEINUNGEN.


    Aber nein, man will seit gestern Nachmittag wissen, „was für ein Mensch“ dieser Co-Pilot war. Als ob das irgendjemand beantworten könnte!


    Selbst wenn man Informationen und Informatiönchen über diesen Mann zusammenträgt – es wäre das Gleiche wie die Darstellung von Promis, mit der die Journaille zeigen will, „wie die denn so als Mensch sind“.


    Aber die Masse giert und wabert, und da müssen Pseudo-Erklärungen her. Die sonst von mir geschätzte „Welt“ führt eine psychoanalytische Auswertung des Co-Piloten anhand eines „Facebook-Likes“ durch. Man zeigt das Haus des Co-Piloten im Fernsehen und nennt seinen vollen Namen. Die "Zeit" macht den Absturz zur Frage der Nation: „Absturz eines Mythos – Wenn eines sicher war, dann die Lufthansa. Das furchtbare Unglück der Germanwings rührt am Selbstverständnis des Konzerns – und der Nation."


    Ich wiederhole Herrn Nuhrs bekannten Ausspruch an die Medien gerichtet: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten!“ Und das Gleiche gilt für Leser, Zuschauer und Hörer.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Danke, Alexander, für diese Stellungnahme.
    Ich empfinde ganz ähnlich. Mich kotzt das Nachrichtenspektakel (ob werbe- oder gebührenfinanziert) seit Jahren nur noch an, weshalb ich mich ich davon, so weit es mir möglich ist, fernhalte. Ich kriege trotzdem mehr mit, als mir lieb ist.
    Niemand kann einem anderen Menschen in den Kopf schauen. Bei der Stirn ist Schluss. Wer glaubt, etwas von dem zu wissen, was dahinter vorgeht, irrt zwangsläufig, spekuliert. Und daran will ich mich nicht beteiligen.

  • Auch ich stimme Alexander zu. Mich regt dieses Ausschlachten eines Unglücks auch auf. Wo bleibt da der Respekt den einzelnen Betroffenen gegenüber?! Die Privatsphäre, persönliche Grenzen, plattgetreten. Passt zu dieser Wegwerfgesellschaft. Ebenso wie das fleißige Interpretieren, was in dem Anderen vorgegangen sein könnte. Dabei ist es nur das eigene Ich, was der Interpretierer von sich gibt
    .
    Ich gucke sehr eingeschränkt Nachrichten. Es gibt ein paar Leute um mich herum, die sich darüber aufregen. Vor einiger Zeit habe ich etwas Passendes gelesen bzw. auf einer Fach-DVD gesehen (weiß nicht mehr genau wer das war, er möge mir verzeihen: Spitzer, Birkenbihl, Hüter ?), was mich in meinem Tun bestärkt: Informationen sind nur wirklich Informationen, wenn ich sie für mich selbst verwerten kann. In den Nachrichten sollen danach weniger als 10 % wirkliche Informationen stecken.

  • Informationen sind nur wirklich Informationen, wenn ich sie für mich selbst verwerten kann. In den Nachrichten sollen danach weniger als 10 % wirkliche Informationen stecken.

    Das ist nicht meine Auffassung. In der Tat soll in dem Wort "Nachricht" stecken, dass man sich nach etwas zu richten habe. Die wenigsten Nachrichten betreffen die Konsumenten allerdings unmittelbar. Wenn das Zitat richtig wäre, dann wären Reportagen über eine Familie in Daressalam, eine Ausgrabung bei Skopje oder ein Theaterprojekt in Canberra keine wirklichen Informationen. Mich interessiert aber nicht nur das, was vor meiner Haustür liegt. Die Informationen sollen allerdings einigermaßen verlässlich sein.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Es irritiert mich, um es einfach auszudrücken, auch sehr, dass Mythen, Gerüchte, Halbwahrheiten, Spekulationen und Mutmaßungen immer stärker an die Stelle von Fakten treten.


    Andererseits verstehe ich gut, dass sich Menschen mit einer schwer verstehbaren Grenzsituation auseinandersetzen möchten. Es ist nicht notwendigerweise immer nur Sensationsgier, wenn das passiert. Die Welt gerät in gewisser Weise aus den Fugen; die Dinge, von denen wir angenommen haben, sie wären so oder so, sind plötzlich anders, wenn auch in einem, wie wurde das hier genannt?, "krassen" Einzelfall. Wir möchten das verstehen, nachvollziehen können, wenigstens eine Ahnung davon erhalten, was da warum passiert ist. Dabei geht es nicht immer um die persönliche Betrachtung, also um die Menschen, die involviert waren, sondern quasi um Phänomenologie, den Kontext der Situation, ihre Kausalitäten. Jede Information, die gereicht wird, befriedigt den Wunsch nach dem Verständnis, nach Rückkehr in die Sicherheit. Es ist m.E., um nicht missverstanden zu werden, absolut grundfalsch, in welcher Weise, mit welcher Geschwindigkeit und unter welcher Missachtung von Persönlichkeitsrechten Informationen weitergegeben werden, die überhaupt noch keine sind, aber es ist andererseits auch nicht (nur) der Ausdruck von Missachtung und Respektlosigkeit, wenn man derlei zur Kenntnis nimmt und den Wunsch verspürt, es zu thematisieren.

  • Hallo Tom,


    ich hatte gerade überlegt, ob ich in etwa das schreiben sollte, was Du jetzt geschrieben hast. Denn ich bin einer Meinung mit Dir.


    Ich denke, sich über so ein Geschehen in irgendeiner Form "austauschen" zu wollen, ist sehr menschlich.


    Dazu kommt eben hier die Eigendynamik der Medien: Wenn die eine Zeitung nichts schreibt, etwa aus selbstverordneter Pietät, dann machen es die anderen trotzdem. Das ist eine zynische Eigendynamik. Aber bei allem geht es auch um das Wie. Man kann reißerisch berichten oder als Hypothese kenntlich machen, was eben eine Hypothese ist.


    Das ist die Seite der Medien. Eine ganz andere Sache, und da hatte das alles hier ja seinen Ausgang genommen, ist doch die Frage, ob und wie man in einem Autorenforum damit umgeht. Denn das Ganze ist nicht Vorlage für einen spannenden Thriller, sondern Realität, bei der viele Menschen Angehörige verloren haben.


    Allerdings fürchte ich, dass dieses Geschehen sogar in absehbarer Zeit verfilmt werden wird. Und das empfinde ich als ziemlich menschenverachtend.


    Darüber könnte man in einem Forum für Schriftsteller vielleicht mal diskutieren: ob wirklich alles zu einem Buch/Film werden muss, was nur genug Abnehmer verspricht. Fiktion wäre das eine, Krimis gibt es zuhauf und auch ich lese sie. Aber das hier ist eben keine Fiktion.

  • Wenn im Fernsehen ein Spezialist zu seiner Meinung gefragt wurde, stellte sich das (für mich) mehr als einmal so dar: Der Spezialist zurückhaltend, betont, dass es bis dahin nur Spekulationen gäbe. Der Interviewer: Ja, natürlich, aber unser Publikum hat doch auch ein Recht auf Information!
    Aha. Information? Oder eher doch so was wie "Unterhaltung"?! Welchen Informationswert haben Spekulationen? Außer vielleicht der einen, die sich erst irgendwann als richtig erweisen muss? Wenig. Aber die Einschaltquoten wird's hochtreiben, je "mehr" ein Sender zu berichten hat! Während die Vorsichtigen sich selbst ins Aus manövrieren.

  • Langsam scheint die Überstürzung etwas Platz zu machen für Überlegungen nach Beweisen.


    Die Welt hatte gestern folgenden Titel und Lead zu einem Artikel:


    Zitat


    Die seltsam schnelle Festlegung auf eine Wahrheit
    Die Untersuchung von Flugzeugunglücken dauert meist Jahre. Beim Germanwings-Absturz schien nach 48 Stunden alles klar. Ermittler und Piloten sind empört – und warnen vor fatalen Schlussfolgerungen.


    Die Süddeutsche fragt heute:


    Zitat

    Tausend Mal am Tag bleibt einem kaum etwas übrig, als sich auf andere zu verlassen. Seit Donnerstag übrigens auch auf einen Staatsanwalt aus Marseille - nicht auszumalen, falls sich doch noch ein ganz anderer Absturzgrund herausstellte. Wie beschämt müsste eine Gesellschaft sein, hätte sie sich demnächst einzugestehen, das Andenken eines Copiloten geschändet zu haben, nur weil alles schnell nach Erklärung verlangte. Unwahrscheinlich, eine solche Wendung? Was ist schon unwahrscheinlich.


    Spiegel-Online titelt heute Abend: Ermittler schließen technischen Defekt nicht aus


    Zitat

    Nach dem Crash von Flug 4U9525 deutet alles auf die Schuld des Co-Piloten hin. Die französischen Ermittler betonten dennoch, dass auch ein technischer Fehler immer noch nicht als Unglücksursache ausgeschlossen werden kann.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Ich möchte auch Tom zustimmen. So ein Ereignis bewegt die Menschen auch weit jenseits von Sensationslust. Ich habe kaum eine Therapiestunde seitdem, in der das Unglück nicht Thema wäre, und zwar sehr echt und emotional. Zum Beispiel wurde das Schicksal der Familie des Piloten angesprochen und dass diese Angehörigen kaum mit nationaler Solidarität, mit Trost oder Mitgefühl rechnen dürfen. Im Gegenteil, sie stehen unter Verdacht, etwas ignoriert zu haben oder sogar das Monster erst erschaffen zu haben.
    Auch ich verfolge gebannt die Entwicklung der Faktenlage. Ich wäre stinksauer, wenn das nur hinter verschlossenen Türen passieren würde und neue Hinweise nicht öffentlich werden würden. Das Zeigen z.B. weinender Angehöriger gehört selbstredend nicht dazu. Ich persönlich traue mir auch zu, sogenannte Informationen kritisch aufzunehmen, die Berichte zu hinterfragen.
    Ich fand es toll, dass die Nürnberger Nachrichten nach Diskussion in der Redaktion den vollen Namen und das Elternhaus des Co-Piloten nicht gezeigt haben. Das gibt es auch.

  • Die ganz Alten unter uns werden sich noch an die Geiselnahme von Gladbeck erinnern. An die gierige Journalisten-Meute, die das Auto verfolgte, es umzingelte und durch einen Vertreter selbst im Auto war.
    Es folgte der Ruf nach einem neuen Ehrenkodex. Das konnte schon damals nur eine leere Forderung sein. Denn Kunde und Anbieter leben in einem Geschäft, in dem nur das Neueste vom Neuen zählt.


    Wohl wahr. Allerdings war Gladbeck ethisch gesehen noch schlimmer, weil die sensationslüsterne Meute einen effektiven Polizei-Einsatz verhindert hat und somit Mitschuld am Tod der Geisel trägt.


    Zitat

    Ich wiederhole Herrn Nuhrs bekannten Ausspruch an die Medien gerichtet: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten!“ Und das Gleiche gilt für Leser, Zuschauer und Hörer.


    Der steht sinngemäß übrigens schon in der Älteren Edda:
    Ein unkluger Mann, der zu Andern kommt,
    Schweigt am Besten still.
    Niemand bemerkt, daß er nichts versteht
    So lang er zu sprechen scheut.
    Nur freilich weiß, wer wenig weiß
    Auch das nicht, wann er schweigen soll.
    (Havamal 26, Simrock)

    Περὶ θεῶν λέγε, ὡς εἰσἰν. Von den Göttern sage: sie sind. (Bias von Priene)
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  • Nach meinem Dafürhalten lässt es sich konsensfähig so ausdrücken: Es geht nicht darum, ob man über das Thema spricht, sondern wie.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)