Müssen müssen?

  • Gestern sprach mich ein Freund, der sich gerade wegen Burnout in therapeutischer Behandlung befindet, auf den Begriff „müssen“ an. Laut seinem Therapeuten „müsse“ man sterben, essen usw. (wobei ich persönlich darin durchaus einen Unterschied sehe: sterben muß man tatsächlich und unweigerlich, essen nicht zwangsläufig – sofern man in Kauf nimmt, daß man dann früher oder später sterben muß). Dementsprechend muß man zwar pinkeln, aber deshalb noch lange nicht aufs Klo.

    Jedenfalls fragte er mich, ob mir Alternativen zu Aussagen wie „Ich muß morgen schon um 6 Uhr im Büro sein“ oder „Ich muß das Projekt bis Mittwoch abschließen“ einfallen würden, da diese Aussagen ja der wortwörtlichen Bedeutung von „müssen“ nicht entsprächen. Spontan schlug ich vor „Ich bin verpflichtet, das Projekt bis Mittwoch abzuschließen“ (was imho korrekt, aber im Vergleich zu "müssen" recht sperrig wäre).


    Grundsätzlich ist mir schleierhaft, wie ein Burnouter gesunden soll, indem er die mit „müssen“ assoziierte Alternativlosigkeit (Tach, Frau Merkel) verbal abschwächt, aber – um nach nur wenigen Stunden schon auf den Punkt zu kommen: Er wollte wissen, ob es ein Nachschlagewerk gibt, in dem solche Fälle, in denen Wörter in einem nicht dem Wortsinn entsprechenden Zusammenhang benutzt werden, aufgeführt sind. Oder gibt’s davon nur das eine?

    41jWqsh7W2L._SY264_BO1,204,203,200_QL40_ML2_.jpg

    kaelo.de

    2 % aller Menschen besitzen einen IQ >130, die restlichen 98 % nicht. Das erklärt meine Skepsis gegenüber Mehrheitsmeinungen. (Kaelo)

  • ich glaube, therapeutisch sinnvoll ist das ganze nur, wenn dein Freund dahin gebracht werden kann Pflichten als relativ anzuerkennen.
    Klar kann sein Arbeitgeber sagen, er MUSS Überstunden leisten und die Ehefrau kann verlangen ihr Mann MÜSSE sich mehr um den Haushalt, Kinder und sie kümmern...die Frage ist, wie man mit diesen Erwartungen umgeht.
    Der Satz "Ich MUSS nur sterben...und sonst gar nix" hilft, sich da abzugrenzen.
    Es geht ja nicht um schwächere Synonyme für müssen, sondern um das finden des Gegenteils.
    So kann nach reiflicher Überlegung entweder ein klares "Nein" an die verschiedenen Erwartungsträger gesagt werden oder man entscheidet sich zu einem
    "Ja, Chef. Ich weiß, dass ich dann nächstes Jahr meine Gehaltserhöhung bekommen werde, deshalb mach ich die Überstunden gern."
    oder aber
    "Ja, meine Liebe, ich will auch mehr zuhause sein, deshalb habe ich meinem Chef gesagt, dass Überstunden niemand machen muss. Allerdings müssen wir dann auf mehr Geld im nächsten Jahr verzichten."


    Wat ich damit sagen will: es geht weniger um Begrifflichkeiten, als darum, seine Einstellungen und Empfindungen zu überprüfen...und diese dann zu verbalisieren...
    So: ich DARF jetzt meine Wäsche weiter bügeln. Ich freue mich ja dermaßen, dass meine Kinder so viele schöne T-Shirts haben... :frust


    Deinem Freund gute Besserung! Habe letzte Woche einen wunderbaren Bericht im Deutschlandfunk gehört, zu diesem Thema, das eigentlich, genauer betrachtet...gar keines ist...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Genau, Stephanie. Ein Verhaltenstherapeut, wie ich ihn kenne, würde wahrscheinlich die Dinge, die, Kaelo, Dein Freund glaubt zu müssen, systematisch auseinandernehmen.


    Wer sagt, er muss? Er selbst, der Chef? Andere, die etwas von ihm erwarten?


    Warum glaubt er selbst, etwas zu müssen? Was hängt da wirklich dran? Wären die Konsequenzen wirklich so schlimm, wenn er sich ein paar Pflichten weniger auferlegte?


    Wenn ein "Muss" des Arbeitgebers die eigene Gesundheit ruinieren würde, ist vielleicht der Arbeitgeber in Frage zu stellen.


    Das würde der Therapeut dann mit ihm priorisieren und ihm beibringen, wie er anderen Wünsche abschlagen kann, sodass diese es verstehen müssen (sozusagen).


    Da käme dann bestimmt auch positiveres Vokabular ins Spiel: Ich möchte, ich würde gerne usw.

  • Müssen heißt gezwungen sein, nicht wollen, etwas gegen sich tun. Erstrebenswert wäre wollen oder besser noch ein ganz neutrales: Ich gehe morgen zur Arbeit. Fällt viel leichter, damit tatsächlich hinzugehen, als den Gedanken an den Zwang mit sich zu schleppen, der ohnehin nur behindert. Worte wie müssen, versuchen, zeigen, wie man tatsächlich zu etwas steht, umgekehrt beeinflusst die Wortwahl auch wieder die innere Haltung.

  • :) sei freundlich zu dir selbst und sorge gut für dich :)
    das könnte das "matra" für deinen freund sein.
    ist es realistisch, das projekt bis zum tag x abzuschließen oder brauche ich unterstützung?
    wenn es realistisch ist, dann schaffe ich das auch und ich freue mich dann über meinen arbeitserfolg. vielleicht feiere ich sogar :tanz
    wenn es nicht realistisch ist, dann hole ich mir rechtzeitig hilfe. das ist keine schwäche, sondern verantwortungsbewusstes handeln dem ag gegenüber und mir selbst gegenüber. niemanden nützt es, wenn ich mich überfordere und schließlich krank werde.


    es ist meine entscheidung, ob ich schon im 6 uhr im büro sein werde. ich lasse mir keine vorschriften machen, wie ich meine arbeitszeit einteile.


    alles gute für deinen freund :)

  • Das kommt davon, wenn man zu viel schwafelt ... :bonk Ob es ihm oder sonstwem hilft, ein "Muß" umzutexten, war gar nicht Mittelpunkt meines Posts, sondern die Quintessenz in Form einer Frage lautete:


    Gibt es ein Nachschlagewerk, in dem solche Fälle, in denen Wörter überwiegend in einem nicht dem Wortsinn entsprechenden Zusammenhang benutzt werden, aufgeführt sind? Oder gibt’s davon nur das eine, nämlich "müssen"?

    41jWqsh7W2L._SY264_BO1,204,203,200_QL40_ML2_.jpg

    kaelo.de

    2 % aller Menschen besitzen einen IQ >130, die restlichen 98 % nicht. Das erklärt meine Skepsis gegenüber Mehrheitsmeinungen. (Kaelo)

  • Das mit dem "Sterben müssen" ist übrigens auch Blödsinn. Das ich sterben werde ist ziemlich sicher, aber nicht weil ich muss.
    :)


    Ah, in Lauda stirbt man also, weil man will? Oder darf? Oder es gar gutheißt, genehmigt, billigt? Mir drängt sich eine Neuinterpretation des Wortes Laudator auf ... :evil

    41jWqsh7W2L._SY264_BO1,204,203,200_QL40_ML2_.jpg

    kaelo.de

    2 % aller Menschen besitzen einen IQ >130, die restlichen 98 % nicht. Das erklärt meine Skepsis gegenüber Mehrheitsmeinungen. (Kaelo)

  • Ah, in Lauda stirbt man also, weil man will? Oder darf? Oder es gar gutheißt, genehmigt, billigt? Mir drängt sich eine Neuinterpretation des Wortes Laudator auf ... :evil


    Nein, man stirbt weil das eine unweigerliche Folge des Lebens ist - nicht weil man muss.


    Das ist auch in Dortmund nicht anders.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Gibt es ein Nachschlagewerk, in dem solche Fälle, in denen Wörter überwiegend in einem nicht dem Wortsinn entsprechenden Zusammenhang benutzt werden, aufgeführt sind? Oder gibt’s davon nur das eine, nämlich "müssen"?


    Du hast nach Wortsinn und damit implizit nach Sprachwissenschaft gefragt. Nun denn.


    Nein. Es gibt keinen dem Wortsinn nicht entsprechenden Zusammenhang. Jedenfalls nicht in diesem Zusammenhang.


    Dein - bzw. des Therapeuten - Problem ist eine Vermischung von Wortarten. Verbarten, eigentlich. Es gibt Hauptverben - wie gehen, lesen, ermorden. Es gibt Modalverben (sollen, müssen, dürfen, wollen, mögen), die in der Grammatik bestimmen, in welchem Verhältnis (Modus) das Satzsubjekt zur Satzaussage steht. Typische Verwendung ist der Ausdruck von Wunsch, Zwang oder Möglichkeit. (Diese Zitate sind aus Wikipedia, der Inhalt stimmt, auch wenn ich für die Quelle nicht gerade stehen kann).


    Demnach gibt es z.B. für müssen, das in diesem Sinne zwei Bedeutungen hat (als Hauptverb und als Modalverb), den Wortsinn müssen + Hauptverb und müssen so. (OK, ist jetzt unwissenschaftlich ausgedrückt).


    Müssen "so" heißt: Ich muss aufs Klo - "Muss" als Hauptverb. Da braucht es kein anderes Verb.


    Oder: Ich muss das tun. "Muss" als Hilfs/Modalverb. Muss plus ein Infinitiv, der besagt, was gemusst wird.


    Rein sprachwissenschaftlich meint "müssen müssen" ein Kombi von Modal- und Vollverb: 1. Modal 2. Vollverb. Könnte - nur zur Illustration - auch "können müssen" oder "wollen müssen" oder "dürfen müssen" heißen.


    Das nur mal so zur sprachwissenschaftlichen Ergänzung. Weil Dein Eingansposting da etwas schwammig war :evil


    (Sollte dabei echten Sprachwissenschaftlern was aufstoßen, bitte ich um Korrektur, denn ich bin nur Literaturwissenschaftler, habe also nur kurze "Ausflüge" in die Sprachwissenschaft gemacht)

  • Ach sooooo...so unkomplex war deine Frage, Kaelo und du suchst nur Synonyme? Und ich schreib dir gleich wieder Romane...
    Sorry...
    Als erstes wollte ich natürlich nur einen Link posten...aber dann kam der Hobbypsychologe in mir zuvor...
    :hau

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Gibt es ein Nachschlagewerk, in dem solche Fälle, in denen Wörter überwiegend in einem nicht dem Wortsinn entsprechenden Zusammenhang benutzt werden, aufgeführt sind? Oder gibt’s davon nur das eine, nämlich "müssen"?


    ob es ein Nachschlagewerk gibt, in dem solche Fälle, in denen Wörter in einem nicht dem Wortsinn entsprechenden Zusammenhang benutzt werden, aufgeführt sind. Oder gibt’s davon nur das eine?



    Lieber Kaelo,


    auf die Gefahr hin, dass ich nur wiederhole, was die andern schon geschrieben haben: Wie wäre es mit einem beliebigen Wörterbuch der Synonyme, etwa von Duden, oder der Homepage von Duden etc. wie hier ?


    Viele freundliche Grüße,


    Hugo

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Also mal völlig unwissenschaftlich und aus dem Bauch heraus würde ich als Synonym "sollte" nehmen. Ich sollte morgen zur Arbeit gehen. Für mich impliziert das sowohl, dass ich eine Wahlmöglichkeit habe, als auch die Tatsache, dass es Nachteile geben kann, wenn ich nicht gehe.


    lg
    Robyn

  • :bonk:bonk:bonk:bonk:bonk:bonk:bonk:bonk:bonk Ich bin plöd! Ich kann mich nicht mehr vernünftig ausdrücken! :affe:affe:affe:affe:affe
    Letzter Versuch (der ganze medizinische Hintergrund spielt ebenso wenig eine Rolle wie irgendwelche Synonyme oder gar die von mir ziemlich blöd gewählte Überschrift):
    Wenn man von der exakten Bedeutung des Wortes "müssen" ausgeht, dürfte es ausschließlich im Zusammenhang mit unabdingbaren Geschehnissen verwendet werden (z. B. muß ich - im Gegensatz zu den Einwohnern Laudas - irgendwann sterben. Wenn die Blase voll ist, muß ich pinkeln; ich kann den Zeitpunkt zwar hinauszögern, aber die Tatsache selbst nicht verhindern (was möglicherweise in Lauda anders ist)).
    Fakt ist jedoch, daß dieses Wort in geschätzten 98% aller Fälle falsch benutzt wird, also für Situationen, die keineswegs unabwendbar sind (Ich muß um 20:00 Uhr im Stadion sein; Ich muß noch einkaufen gehen), wo also nahezu jedes greifbare Synonym sinnvoller einzusetzen wäre.
    And now the big question: Geht es nur dem Wort "müssen" so, oder gibt es noch andere Beispiele für Wörter, die fast immer falsch benutzt werden? Wenn ja: Gibt es ein Nachschlagewerk, eine Kolumne, eine Sammlung mit entsprechenden Beispielen?

    41jWqsh7W2L._SY264_BO1,204,203,200_QL40_ML2_.jpg

    kaelo.de

    2 % aller Menschen besitzen einen IQ >130, die restlichen 98 % nicht. Das erklärt meine Skepsis gegenüber Mehrheitsmeinungen. (Kaelo)

  • Lieber Kaelo,


    ich bezweifle, dass es eine exakte Wortbedeutung gibt. Schon deshalb, weil sich die Bedeutung von Worten immer wieder ändern kann, sie also nicht mit Sicherheit immer exakt bleibt (wenn sie das mal für eine Weile tatsächlich ist). Das ist auch bei "müssen" der Fall. Wenn du einfach mal bei den Grimms nachschaust, dann wirst du gleich zu Anfang beim Stichwort "müssen" lesen:


    Zitat


    …die mehr verflüchtigte des erlaubnis habens, dürfens, die bisweilen schon in die des gezwungen seins umschlägt… *)


    Ich will damit jetzt keine sprachwissenschaftliche Debatte vom Zaun brechen, zumal ich meine, dass das Problem einfach darin liegt, diesem Wort eine überhobene Bedeutung zu geben. Deshalb habe ich das auch mit dem Sterben aufgegriffen. Ich sterbe irgendwann, in Lauda wie andere in Dortmund. Das ist eine Tatsache, die ich nicht leugne. Ich behaupte aber, ich "muss" es nicht, oder wenn ich es genau nehme, ich kann nur sagen "Ich muss sterben" kurz vor dem Ereignis selbst. Solange das nicht bevorsteht - und meistens weiß man das ja auch nicht so genau - kann ich nur auf eine irgendwann zu erfolgende Tatsache hinweisen, aber nicht dass ICH das MUSS.


    Wenn jemand Probleme hat mit dem Wort "müssen" dann scheint es mir, ist der bessere Weg, ihn von der geringen Bedeutung dieses Wortes (Verbs) zu überzeugen, anstatt nach Wortbedeutungen zu suchen die dann auch noch exakt sein sollen.


    Das ist jetzt aber nur meine Meinung (die aber keinesfalls regional gebunden ist ;) )


    Horst-Dieter



    *) Die Kleinschreibung ist nicht von mir sondern von Jakob Grimm. Der war ein Kleinschreibfundamentalist

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • ach soooooooo, sag das doch gleich :renn


    ein anderes wort, das wohl mit am häugigsten 100 pro gefahr läuft, unsinngemäß verwendet zu werden ist LIEBE ;)

  • Wenn man von der exakten Bedeutung des Wortes "müssen" ausgeht, dürfte es ausschließlich im Zusammenhang mit unabdingbaren Geschehnissen verwendet werden


    Ist das wirklich so mit der exakten Bedeutung?
    Für mich gibt es objektive Zwänge, die wirklich nicht zu ändern sind aber daneben auch subjektive "Zwänge", die in meinem persönlichen Erleben eben so sind. Also ich muss pinkeln (hin und wieder) aber ich für mich "muss" auch aufs Klof, einfach weil ich mir nicht in die Hose pinkeln will.


    Liebe Grüße
    Susanne

    Wintertee im kleinen Strickladen in den Highlands, HarperCollins

    Die Kaffeedynastie - Tage des Aufbruchs, Paula Stern, HarperCollins

  • Also ich muss pinkeln (hin und wieder) aber ich für mich "muss" auch aufs Klof, einfach weil ich mir nicht in die Hose pinkeln will.


    Haste Dir damit selbst beantwortet: Es gibt zum Klogang durchaus 'ne Alternative - oder sogar mehrere. Du mußt also nicht aufs Klo. Ich merke, das schrappt nur ganz knapp an 'nem Scheißthema vorbei ... ;)

    (Edit hat Buchstabensalat beseitigt)

    41jWqsh7W2L._SY264_BO1,204,203,200_QL40_ML2_.jpg

    kaelo.de

    2 % aller Menschen besitzen einen IQ >130, die restlichen 98 % nicht. Das erklärt meine Skepsis gegenüber Mehrheitsmeinungen. (Kaelo)

    Einmal editiert, zuletzt von Kaelo ()