Die erste Frau der Kirche fällt ...

  • aber juristisch interessant: soviel ich weiß, wird nicht bestraft, dass man betrunken auto fährt, denn unter vollrausch gilt man als nicht schuldfähig; bestraft wird man dafür, dass man sich betrinkt, falls das zur folge hat, dass man hernach auto fährt. trinkt man am steuer, ist das hingegen einfacher.

  • Zitat

    Original von Michael H
    aber juristisch interessant: soviel ich weiß, wird nicht bestraft, dass man betrunken auto fährt, denn unter vollrausch gilt man als nicht schuldfähig; bestraft wird man dafür, dass man sich betrinkt, falls das zur folge hat, dass man hernach auto fährt. trinkt man am steuer, ist das hingegen einfacher.


    Also nie die Weinflasche am Hals und die Hand am Lenkrad ...

  • Zitat

    Original von Gerdom


    Danke, Enno.


    Alkohol ist ein Problem, das immer noch sehr verharmlost wird,..


    Absolut zugestimmt!
    Denoch finde ich, dass ein Fehler als Privatmensch gebüßt werden kann und je nach dem, wie man oder frau mit diesem Fehler in der Öffentlichkeit umgeht, es damit vielleicht auch gut ist.
    Die Bagatellisierung fängt da ganz woanders schon an...könnte jetzt seitenweise schreiben...aber das lasse ich jetzt mal...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Amos schrieb


    "Oder sollte ich davon ausgehen, daß einem ganz normalen Streifenpolizist bei Ausübung seiner Tätigkeit, bei dem Namen Käsmann, gleich Position und Amt der pustenden Dame einfällt und die Presse und was weiß ich benachrichtigt? Wohl kaum, aber wer dann?"


    Wem nutzt es denn, eine unbequeme Kritikerin losgeworden zu sein? Wie üblicherweise staatlicherweise Probleme mit einer "moralischen Instanz" wie der Kirche gelöst werden, kam ja in der Wende ein klein wenig zum Vorschein:


    "Hauptabteilung XX/4 (der Staatssicherheit) Treffbericht 19.9.1972 15-18 Uhr 30 Kontaktperson (KP)Regina
    Im Verlaufe des Gesprächs teilte sie mit, daß sie...eine schriftliche Bewerbung (bezüglich einer Stelle als Sekretärin beim Bund der evangelischen Kirchen der DDR) bei dem XXX abgegeben habe...


    XXX versprach ihr, am Montag, den XXX 1972 mit XXX über ihre Einstellung zu sprechen. Er zeigte sich diebezüglich sehr optimistisch. Bei dem Gespräch ging sie auch darauf ein, welche Möglichkeiten die Kirche hat, ihr bei der Erlangung der Fahrerlaubnis behilflich zu sein.XXX zeigte sich hierzu sehr reserviert und teilte ihr mit, daß es nur für kirchliche Vertreter und dann nur in begrenztem Maße möglich ist, diese über "GENEX" (d.h. mit Devisen) eine Fahrerlaubnis absolvieren zu lassen...


    In diesem Zusammenhang teilte sie (die KP) mit, daß der XXX stets Alkohol trinkt, wenn er mit dem PKW fährt. Wir unterhielten uns dann kurz, daß das eine Möglichkeit wäre, um XXX die Fahrerlaubnis abzunehmen. Wenn sie dann die Fahrerlaubnis hat und er keine, würde er sich bestimmt darum bemühen, daß sie seine Sekretärin (und Fahrerin) wird. Sie würde uns dann in Kenntnis setzen, wenn er Alkohol zu sich genommen hat und anschließend fahren will...


    Sie wurde diesbezüglich beauftragt, den Kontakt zum XXX zu festigen und in Erfahrung zu bringen, von wem er das Rauschgift erhält...nächster Treff: 26.9.1972 Bartnitzek Leutnant"


    "Hauptabteilung XX/4 Treffbericht IM Micha (=KP Regina) 20.2.73 19-21 Uhr 30 Ort: IMK Stadion


    ...Am 16.2. 1973 fand in der Zeit von 18 Uhr bis 17.2. 4 Uhr der Karneval in der Dienststelle ("Bund der evangelischen Kirchen in der DDR") statt...


    Ihr ( Michas) Erscheinen wirkte sehr sensationell...Kurze Zeit später kam XXX und begrüßte sie als einziger mit Handschlag am Tisch. Wie der IM feststellen konnte, ließ er keinen einzigen Blick von ihr...


    XXX tanzte desöfteren mit ihr...


    Der XXX war ihr gegenüber wie ausgewechselt. Bisher hat er sie überhaupt nicht beachtet. An diesem Abend nutzte er jede Möglichkeit, um mit ihr zu flirten...Er will... zu ihr in die Wohnung...


    Der XXX bemühte sich ebenfalls um sie. Er wollte sie mehrmals küssen... Er lud sie ein, mit ihm in Berlin einmal auszugehen. Er selbst ist desöfteren in der Nachtbar im Interhotel "Stadt Berlin"...


    XXX war nicht am Karneval anwesend. Vermutlich wollte er sich nicht kompromittieren. Er sagte dem IM gegenüber einmal: "Wenn ich Alkohol getrunken habe und lustig bin, vergesse ich meine Umwelt."


    ...Zu all den Kontakten, die sie während des Karnevals angeknüpft hatte, wurde ihr folgende Verhaltenslinie gegeben:


    ...Das Verhältnis zu XXX soll sie ebenfalls enger gestalten. Sie soll seinem Wunsch entsprechen und ihn zu sich einladen...Nächster Treff 27.2.1972 um 19 Uhr Bartnitzek Leutnant"


    "Hauptabteilung XX/4 Treffbericht IMV Micha 3.1.74 17 Uhr 30 bis 19 Uhr Ort IMK Falke


    Am anderen Tag wollte Micha kurz vor Dienstbeginn in ein Zimmer in der 1. Etage gehen. Es war von innen verschlossen. XXX schloß von innen auf. Er selbst war angezogen. Im Zimmer befand sich noch der XXX aus XXX. Dieser war im Schlafanzug... Micha ist der Überzeugung, daß XXX homosexuell veranlagt ist (in der DDR ein Straftatsbestand !)"


    ..........

    "Ihre Fahrerlaubnisprüfung hat sie mit Erfolg bestanden. Die Erweiterung in ihrer Fahrerlaubnis muß jedoch mit einem VP-Stempel aus KM-Stadt (Karl-Marx-) durchgeführt werden... Über Fahrbereitschaft KM-Stadt die Fahrerlaubnis von I auf IV erweitern... Nächster Treff: 3.9.74 17Uhr 30 IMK Falke Bartnitzek Leutnant"


    "Hauptabteilung XX/4 Treffbericht IM(B) Micha 6.11.74, 17 Uhr 30 - 22 Uhr Ort: IMK Falke Mitarbeiter: Hauptmann Kullik


    ...Rüste des Sekretariats des Bundes des Evangelischen Kirchen in der DDR vom XXX in XXX Krs. XXX. An der Rüste nahmen folgende Personen teil: XXX ... Über die beiden letztgenannten wurde bekannt, daß sie von der Tochter des XXX an den Bund vermittelt wurden... Auffällig ist der Micha, daß beide keine kirchlichen Bindungen haben, sich gerne in Vergnügungsstätten aufhalten und es anscheinend mit der Moral nicht so genau nehmen. Bei der Rüste ging es um eine kirchliche Unterweisung der Mitarbeiter. Zum Abschlußabend fand mit alkoholischen Getränken und Tanz ein Beisammensein im kirchlichen Objekt in XXX statt. An diesem Abend suchte der XXX gezielt den Kontakt zu Micha. Nachdem der IM (Micha) mit mehreren Angestellten des Bundes getanzt hatte und dabei immer von XXX beobachtet wurde, gingen von XXX Aktivitäten aus, zum IM intime Beziehungen aufzunehmen. Nach Abschluß des Abends ging XXX gemeinsam mit dem IM unter dem Vorwand, Zigaretten aus seinem Zimmer zu holen in sein Zimmer, stellte einen Stuhl vor die Tür, die nicht verschließbar war. Dabei kam es zu intimen Beziehungen. Am nächsten Tage sagte XXX zum IM, daß er sie völlig falsch eingeschätzt habe. An den darauffolgenden Tagen zeigte er sich dem IM gegenüber besonders freundlich bei Begegnungen im Sekretariat des Bundes...


    Micha berichtete, daß unter den weiblichen Kräften des Sekretariats ausgesprochene Eifersuchtsszenen herrschen, daß jeder jeden beobachtet und daß alles an Neuigkeiten durchgehechelt wird. Dadurch ist es dem XXX verhältnismäßig leicht, über die Mitarbeiter und Angestellten des Bundes in Erfahrung zu bringen, was er über sie wissen will. Nächster Treff 21.11.74 17 Uhr 30 Falke
    Auftrag: Kontakt zu XXX festigen... erneut einladen lassen, nicht aufdringlich werden und abwarten, wie XXX das Verhältnis zu ihr gestaltet"


    Mit freundlichem Gruß


    aham

    Einmal editiert, zuletzt von aham ()

  • Zitat

    Original von aham
    (...)
    ist der Überzeugung, daß XXX homosexuell veranlagt ist (in der DDR ein Straftatsbestand !)" (...)


    Blödsinn. Nicht die Veranlagung war ein Straftatsbestand. Auch nicht in der DDR. Eine schlichte Recherche hätte genügt, um so einen Unfug nicht zu posten. Hoffentlich.


  • D'accord Wolf! Mir ging es bei meinem Post auch nicht darum, Frau Käßmann eine Absolution erteilen, sondern sie hat bei mir durch ihren konsequenten Schritte - eben sich den Folgen ihres Tuns ohne großes Rumgeeiere zu stellen - gewonnen.


    Zitat

    Original von Enno


    Das Amt, von dem Frau Käßmann zurückgetreten ist, gibt es in Deutschland genau einmal. Wir haben auch noch einen Obersten bei den Katholiken, aber das wars dann auch. Die Vergleiche mit Ministern und irgendwelchen Promis sind, mit Verlaub, Blödsinn. Die Ratsvorsitzende der EKD ist eine Art moralische Instanz; zumindest wurde das bisher gern so gesehen, im Großen und Ganzen wohl auch von Frau Käßmann selbst.


    By the way, Enno: Mit Verlaub finde ich dein Statement auch nicht besonders schlüssig :achsel. Frau Käßmann ist eine moralische Instanz? Interessant, wieviele Menschen hören denn auf sie, außer sie redet über Afghanistan? Aber das ist jetzt doch wohl ziemlich polemisch. Meinen Vergleich mit Politikern/Promis halte ich aber aus einem anderen Grund nicht für verfehlt: Alle diese Personengruppen (egal, ob es ihren Posten mehrfach gibt oder nicht) stehen in der Öffentlichkeit... und machen Fehler. Es geht doch nur darum, wie man dann damit umgeht. Ich kann ja auch mal ein anderes Beispiel machen: Willy Brandt. Ich habe nie sozialdemokratisch gewählt, aber es gibt eine Szene, die mir buchstäblich das Wasser in die Augen treibt: Sein Kniefall in Warschau (und Adolf dreht sich im Grabe um :clown). Dieser Mann hat in der Gillaumeaffäre die persönliche Verantwortung übernommen, obwohl es die DDR war, die ihm diese Laus in den Pelz gesetzt hat! DAS nenne ich Größe.
    Also, wie ist es mit Personen des öffentlichen Lebens und ihren Fehlern? Da gibt es Leute, die es als ihr natürliches Recht ansehen, Scheiße zu bauen (mein Beispiel: Promis) und sagen: ist doch nicht so schlimm. Da gibt es Leute, die wegducken, vertuschen, abwiegeln (mein Beispiel: Politiker). Mensch, das sind Beispiele, meinetwegen auch Klischees.
    Ach... nochmal kurz zur moralischen Instanz: hör dir mal an, was unsere Staatstragenden so täglich in die Presse säuseln. Die erheben keinen Anspruch darauf, auch moralische Instanz zu sein? ?(


    Liebe Grüße
    Achim

  • Zitat

    Original von Ulli


    Also nie die Weinflasche am Hals und die Hand am Lenkrad ...


    Ist doch rechtslogisch nicht anders machbar: In einem Strafverfahren geht es doch immer auch um die Schuldfrage: habe ich vorwerfbar gehandelt? Nicht nur die reale Tat wird bewertet, sondern auch meine Möglichkeit, die Strafbarkeit der Handlung zu erkennen und auch, ob ich die Handlung selbst voraussehen konnte (habe also nicht aus Versehen gehandelt). Bevor jetzt jemand sagt: prima! Ich vergesse alles, was ich vom Recht weiß und dann kann mir keiner was vorwerfen :clown: Es gibt auch den bedingten Vorsatz, d.h. ich hätte es mit vertretbarem Aufwand wissen können/müssen. Also kann ich nicht einfach Herztransplantationen vornehmen, weil mich die Ärzteordnung nicht interessiert :achsel.


    Aber zurück zum Saufen: Wenn ich einen Jagdschein habe (interner Amtsterminus für nicht zurechnungsfähige Kunden) oder so blau bin, dass ich keine Peilung mehr habe, was ich da eigentlich tue, dann kann man mir die eigentliche Tat nicht mehr vorwerfen, es fehlen schlichtweg die Voraussetzungen. Bei den amtsbekannt Abgedrehten wehrt sich die Gesellschaft ggf. indem sie die in "Schutzhaft" nimmt, also in die Psychatrie einweist.
    Aber was machen wir mit den Besoffenen? Wir führen den Straftatbestand der Volltrunkenheit ein! Der besagt: wenn ich mich dermaßen knülle saufe, dass ich keine Kontrolle mehr darüber habe, was ich so veranstalte... dann kann man mich deswegen bestrafen. Und zwar mit dem gleichen Strafmaß, wie jenes, das für die eigentlich begangene Tat vorgesehen ist.


    ... ich finde diese Lösung sogar recht elegant :braue.


    Liebe Grüße
    Achim


    P.S. An alle Juristen hier im Forum: Ich hoffe, ich habe nicht zuviele Fachbegriffe durcheinandergewürfelt und falsch zusammengesetz. Bin aber Zeit meiner Dienstlaufbahn auch mit Ordnungswidrigkeitenverfahren befasst gewesen, die ja ähnlich funktionieren (nachgeordnetes Strafverfahren)

  • Hallo, Achim.


    Der so genannte Vollrauschparagraph (§ 323 a StGB) greift ohnehin erst ab 2 Promille und wird in der Rechtsrealität so gut wie nie angewandt. Bei einer Fahrt mit 1,54 Promille geht es lediglich darum, ob noch von Vorsatz oder fahrlässigem Handeln ausgegangen werden kann, und wie das ausgeht, hängt vom Gerichtsverfahren selbst ab. Da Frau Käßmann auch noch eine rote Ampel überfahren hat, ist sie "auffällig" geworden, was in der Konsequenz bedeutet, dass sie in jedem Fall die Fahrerlaubnis verliert (das ist bei diesem Wert sowieso unumgänglich), sehr wahrscheinlich zur MPU ("Idiotentest") muss, wenn sie die zurückbekommen will, und mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr rechnen muss, wobei sie vermutlich eher mit einer Geldstrafe von 30 oder 40 Tagessätzen davonkommen wird (also unterhalb der Vorstrafengrenze bleibt), weil sie nach meinem Kenntnisstand Ersttäterin ist und davon abgesehen einen recht guten Leumund haben dürfte. Eine Verurteilung wird es aber in jedem Fall geben. Die verminderte Schuldfähigkeit wird aller Voraussicht nach eher nicht greifen, weil das in solch einem Verfahren nur bei starkem Drogenkonsum (nicht vergessen: es ist nicht strafbar, Drogen wie Crack oder Heroin zu konsumieren, aber es ist strafbar, sie zu besitzen) und einem Alkoholwert von über zwei Promille berücksichtigt wird.

  • Also ich finde auch, dass man durchaus den Hut vor ihr ziehen sollte.


    Natürlich war diese Alkoholfahrt eine wortwörtliche Schnapsidee, aber sie zieht die richtigen Konsequenzen.


    Und nur weil andere Leute das nicht gemacht haben, sollte das keine Auswirkung auf die Bewertung des Rücktritts von ihr haben, oder zumindest keine negativen.


    Ich finde, dass sie dadurch ihre Glaubwürdigkeit behält. Das soll nicht ihre "Straftat", "Fehler", oder was auch immer tilgen. Letztendlich hat sie natürlich etwas falsch gemacht, aber sie hat danach absolut richtig gehandelt.

    Mein Blog über die Geschichten von Büchern


    BuchGeschichten


    Ihr dürft mir gerne einen Kommentar hinterlassen, würde mich sehr freuen!

  • @ Achim

    Zitat

    Original von AchimW
    Meinen Vergleich mit Politikern/Promis halte ich aber aus einem anderen Grund nicht für verfehlt: Alle diese Personengruppen (egal, ob es ihren Posten mehrfach gibt oder nicht) stehen in der Öffentlichkeit... und machen Fehler.


    In der Öffentlichkeit stehen und Fehler machen, das ist mir als Vergleichsbasis zu verschwommen. Amt ist nicht gleich Amt, Promi nicht gleich Promi, Fehler nicht gleich Fehler.


    Manche meinen, eine Entschuldigung seitens Frau Käßmann hätte ausgereicht, Rücktritt wäre nicht nötig gewesen. Dem wollte ich widersprechen. Eine Entschuldigung hätte nicht ausgereicht. Warum nicht? Weil eine Ratsvorsitzende der EKD vor allem eins braucht: Glaubwürdigkeit, und zwar in deutlich anderer Weise als ein Minister oder ein gedopter Radprofi; selbst ein alternder Großschriftsteller kommt offenkundig mit weniger davon aus. Es ist nun mal eine spezielle Art von Amt.


    Frau Käßmann ist ja auch nicht ganz zufällig hineingewählt worden. Sie schien genau das zu verkörpern, was dringend benötigt wird, Glaubwürdigkeit. Und genau das wäre ihr unter den Füßen weggebröselt, wenn sie an diesem Amt geklebt hätte wie so manche Witzfigur des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Alkoholfahrt hätte an ihrer Glaubwürdigkeit gekratzt, sondern mehr noch das Kleben am Amt. Eine Menge Leute würden sowas peinlich finden, beschämend, vielleicht sogar abstoßend. Eben wie bei solchen Kalibern wie Wiesheu (wobei der ja erst später Minister wurde).


    Nach wie vor bin ich auch überzeugt, dass man sie sowieso nicht hätte weitermachen lassen, wahrscheinlich nicht mal bis zur nächsten Synode.


    Jetzt ist sie zurückgetreten und alle Welt sagt: Hut ab, wie glaubwürdig. Sie bleibt sich treu, sie zieht die Konsequenz.


    Meinetwegen. Der Schritt ist ganz sicher sympathischer als die ungezählten Nichtrücktritte, die wir täglich miterleben müssen. Aber die Sache auf diese persönliche Dimension zu reduzieren, das leuchtet mir nicht ein.


    Zitat

    Ich kann ja auch mal ein anderes Beispiel machen: Willy Brandt. (...) Dieser Mann hat in der Gillaumeaffäre die persönliche Verantwortung übernommen, obwohl es die DDR war, die ihm diese Laus in den Pelz gesetzt hat! DAS nenne ich Größe.


    Brandts Rücktritt hatte weniger moralische Gründe, mehr politische. Er ist nicht nur wegen der Guillaume-Affäre zurückgetreten, möglicherweise nicht mal hauptsächlich. Als Anlass muss die Sache natürlich bis heute herhalten, und natürlich sind die Interna bis heute nicht unumstritten. Aber man darf wohl davon ausgehen, dass Wehner beim Rücktritt eine nicht ganz unerhebliche Rolle gespielt hat. Sagen wirs mal so: Brandt war spätestens mit der Guillaume-Affäre sowieso nicht mehr haltbar. Man kann es nobel finden, dass er zurückgetreten ist. (Das hätte ihm sicher gefallen. ;)) Aber ich würde es vorziehen, hinter der ganzen Rücktrittsgeschichte eine Melange von parteiinternen Intrigen, starkem politischem Gegenwind und persönlichen Gründen (Depressionen und, jaja, Alkohol...) zu vermuten. Guillaume hat seiner Regentschaft zweifellos den Todesstoß versetzt. Aber das hehre Gerede von der persönlichen Verantwortung ist mir da suspekt, auch wenn ich durchaus dazu neige, Brandt so etwas wie Verantwortungsbewusstsein zuzuschreiben (unter anderem wegen der Szene in Warschau); ein Punkt, in dem ich Politikern gegenüber sonst eher zurückhaltend wäre.


    Im Übrigen finde ich den Vergleich nicht so passend. Eine Spitzelaffäre im Kanzleramt und eine Alkoholfahrt im Kirchendienstwagen, hm.


    Und noch was zu moralischen Instanzen: mir persönlich gehen die ja auf die Nerven. Und ich habs auch nicht so mit der GRÖSSE.


    Grüße,
    Enno

  • Ich muss zugeben, ich habe nicht alle Beiträge im Thread gelesen und gebe trotzdem meine Meinung zum Besten:


    Ich finde es traurig, dass fähige Leute wegen relativ unbedeutenden "Sünden" das Handtuch werfen. Die großen Gauner in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft haben da ein viel dickeres Fell. Die treten nicht zurück, egal wie groß die Schweinerei ist, die sie begangen haben.


    Ähnlich wenig Standfestigkeit hatte im Jahre 2002 Cem ÖZdemir von den Grünen. Da gabs ne Sache mit Bonusmeilen und günstigen Krediten, die ihm zum Rücktritt vom Posten als innenpolitischer Sprecher bewegt haben. Lachhaft! Da kräht heute kein Hahn mehr danach.


    Eine Sache wie diese Trunkenheitsfahrt wäre ebenfalls spätestens nach ein paar Monaten aus dem öffentliche Fokus geraten und vergessen worden. Absolut kein Grund, zurückzutreten.


    Ich finde, Frau Käßmann hätte mehr Verantwortungsgefühl haben müssen: Offenbar hat sie ihren Job ja gut gemacht. Daraus wächst meiner Ansicht nach auch eine gewisse Pflicht, nicht gleich aufzugeben ...

  • Noch ein kleiner Einwurf:


    Weiß nicht mehr, wer das gesagt hat...aber diesen Satz finde ich hier treffend:
    Frauen sind dann emanzipiert, wenn sie in ihrer beruflichen Laufbahn die gleichen Fehler machen dürfen wie die Männer...


    Stimme dir, Enno, zu. Bin sicher, Frau Käßmann hätte ihre Glaubwürdigkeit auch im Amt noch aufrecht erhalten. Denke aber durchaus, dass ihr Rücktritt wohlüberlegt war und dass sie ihre nun gewonnene Zeit sinnvoll nutzen wird.
    Bin gespannt, was wir noch von ihr hören oder lesen werden.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Zitat

    Original von Enno


    Manche meinen, eine Entschuldigung seitens Frau Käßmann hätte ausgereicht, Rücktritt wäre nicht nötig gewesen. Dem wollte ich widersprechen. Eine Entschuldigung hätte nicht ausgereicht. Warum nicht? Weil eine Ratsvorsitzende der EKD vor allem eins braucht: Glaubwürdigkeit, und zwar in deutlich anderer Weise als ein Minister oder ein gedopter Radprofi; selbst ein alternder Großschriftsteller kommt offenkundig mit weniger davon aus. Es ist nun mal eine spezielle Art von Amt.


    Frau Käßmann ist ja auch nicht ganz zufällig hineingewählt worden. Sie schien genau das zu verkörpern, was dringend benötigt wird, Glaubwürdigkeit. Und genau das wäre ihr unter den Füßen weggebröselt, wenn sie an diesem Amt geklebt hätte wie so manche Witzfigur des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Alkoholfahrt hätte an ihrer Glaubwürdigkeit gekratzt, sondern mehr noch das Kleben am Amt. Eine Menge Leute würden sowas peinlich finden, beschämend, vielleicht sogar abstoßend. Eben wie bei solchen Kalibern wie Wiesheu (wobei der ja erst später Minister wurde).


    Hallo Enno,


    ... vollständig deiner Meinung. Deswegen finde ihren Rücktritt ja sowohl richtig als auch notwendig. Hat sie auch selbst so gesagt. Und eben weil ich diese Konsequenz richtig finde, hat mich ihr Handeln beeindruckt, weil ich viele Personen des öffentlichen Lebens sehe, die sonstwas machen... und an ihren Posten kleben. Das war die Intention meiner Beispiele, ob letztere nun passend waren oder nicht, mag jeder für sich selbst entscheiden.


    Zu Willy Brandt: okay, damals war ich noch Kind, mein Beispiel entstammt also dem Willy der historischen Rückschau der Marke Fernsehdoku (zB. diese alten Fernsehberichte anlässlich 60 Jahre Grundgesetz). Und was die GRÖSSE von Päpsten, BischöfInnen, Bundeskanzlern a.D. usw. angeht: Ich halte sogenannte moralische Größe durchaus für sehr suspekt, weil wir zwar meistens hören, was solche Leute sagen, ab und zu sehen, was sie tun, aber nie wirklich erfassen können, was sie denken und warum sie etwas tun. Insofern war ich bezüglich olle Willy vielleicht bisher auch etwas naiv, der Mann hat mich auf einer emotionalen Ebene angesprochen (siehe Kniefall). Insofern, danke für deine Erläuterungen... ich bin (hoffentlich) lernfähig :affe.


    Liebe Grüße
    Achim

  • Zitat

    Ähnlich wenig Standfestigkeit hatte im Jahre 2002 Cem ÖZdemir von den Grünen.


    Der Typ ist, mit Verlaub, aber sowieso eine Pfeife. Ich saß mal - vor drei Jahren etwa - in einem ICE von Köln nach Berlin, und aufgrund technischer Schwierigkeiten hatte der Zug nur halb so viele Wagen wie ursprünglich geplant, weshalb natürlich alle Sitzplatzreservierungen hinfällig waren - auch in der halbierten ersten Klasse. Dennoch insistierten einige neu zugestiegene Reisende darauf, ihre Plätze zu bekommen, und aus dem kleinen Streit wurde rasch ein recht bösartiges Handgemenge. Özdemir, der bis zu diesem Zeitpunkt mitten im Geschehen auf einem fremdreservierten Platz saß (auf den aber niemand Anspruch erhob), verpisste sich, als die Situation eskalierte. Ich habe dann - zusammen mit zwei anderen Reisenden - dafür gesorgt, dass der Typ, der seinen Platz nicht freigeben wollte, nicht verdroschen wurde. Der grüne Gutmensch saß zu diesem Zeitpunkt vermutlich im Bordrestaurant und hat Ökowein geschlürft. Dies nur am Rande. ;)

  • Zitat

    Original von Tom
    … Özdemir, der bis zu diesem Zeitpunkt mitten im Geschehen auf einem fremdreservierten Platz saß (auf den aber niemand Anspruch erhob), verpisste sich, als die Situation eskalierte. Ich habe dann - zusammen mit zwei anderen Reisenden - dafür gesorgt, dass der Typ, der seinen Platz nicht freigeben wollte, nicht verdroschen wurde. Der grüne Gutmensch saß zu diesem Zeitpunkt vermutlich im Bordrestaurant und hat Ökowein geschlürft. Dies nur am Rande. ;)


    Tom
    Was willst du? Der hat sich vorbildlich als Politiker verhalten. Er hat das Krisengebiet verlassen, als es eskalierte und alles vermieden, was Deeskalation bewirken könnte. Gäbe es richtig Zoff, hätte er nichts damit zu tun und nachher wären noch mehr Plätze frei.

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann