Wenn der Leser mehr weiß als der Ich-Erzähler

  • ... sollte das normalerweise nicht für das Buch sprechen. Man kennt das von Krimis: Wenn die z. B. nach einem altbekannten Muster abgewickelt werden, liegt schnell auf der Hand, wer der Täter war. Wenn der Ich-Erzähler dann den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, sondern falschen Spuren hinterherrennt, weil der Autor halt Seiten schinden muss, finde ich das ziemlich ärgerlich.

    Es kann aber auch umgekehrt ziemlich spannend für den Leser - und schwierig für den Autor sein - die Leser durch Andeutungen etwas vermuten zu lassen, während sein Ich-Erzähler völlig im Dunkeln tappt. Schwierig eben deshalb, weil in einem Buch, in dem konstant die Perspektive des Ich-Erzählers eingehalten wird, der ja eigentlich nichts vermitteln kann, was er nicht weiß.

    Wie kann so was funktionieren? Ich finde das gerade ziemlich spannend; das hinzubekommen braucht bestimmt einiges schriftstellerische Geschick. Die "billige" Variante sind Einschübe, wie sie in manchen Romanen zu finden sind, und die dann mit Vorliebe kursiv gesetzt sind und Dinge verraten, die einem der Erzähler nicht hätte verraten können. Wenn man solche Einschübe verhindern will und den Ich-Erzähler trotzdem nicht als Depp dastehen lassen will: Wie also geht das?

    Ich könnte mir vorstellen, dass es zum einen etwas damit zu tun hat, dass der Leser auf Dinge gestoßen wird, über die er - wenn sie schon nicht innerhalb seines eigenen Erfahrungsschatzes liegen - schon oft gelesen, gehört, Filme mit solchen Handlungssträngen konsumiert hat. Frau betrügt Mann (oder umgekehrt) ist so eine Geschichte. Da genügen Andeutungen, die einen Außenstehenden (in dem Fall den Leser) längst etwas sehen lassen, das der Betroffene (in dem Fall der Ich-Erzähler) noch lange nicht so deutet bzw. Gründe hat, sich dem zu verschließen.

    Der Autor muss also auf die Lebens- oder Leseerfahrung seiner Leser vertrauen bzw. zählen können. Ansonsten wäre so manche Szene in einem Buch für den Leser nur halb so interessant. Es schadet nicht direkt, wenn er diesen "Subtext" nicht mitbekommt, aber ihm entgeht einiges.


    Und sonst? Wie stellt man das sonst noch an?

  • Gut, dass du das nochmal aufgreifst. Du hattest das ja in deiner Buchvorstellung schon einfließen lassen und seitdem hab ich mich gefragt, ob ich dazu einen Thread aufmachen soll. Denn ich finde das auch ungemein spannend. Leider kann ich daher auf die Frage "Wie macht man das" vermutlich keine befriedigende Antwort geben.


    Meinst du Stellen, in denen man als Leser das Gefühl hat, den Ich-Erzähler besser zu kennen als er sich selbst? Momente, in denen man meint, eine Fassade oder billige Rationalisierungen durchschauen zu können, nach dem Motto - im Text steht "Aber natürlich würde ich so etwas niemals tun" und als Leser denkt man "von wegen - erzähl du mal..."?
    So etwas ist natürlich nicht nur auf Ich-Erzähler beschränkt sondern funktioniert ebensogut mit einem eng-personalen Erzähler (das ist jetzt eine billige Übersetzung von tight third person, aber ich weiss nicht wie das auf deutsch heisst :D)

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Hallo Marvin,


    Zitat

    Original von Marvin
    Meinst du Stellen, in denen man als Leser das Gefühl hat, den Ich-Erzähler besser zu kennen als er sich selbst? Momente, in denen man meint, eine Fassade oder billige Rationalisierungen durchschauen zu können, nach dem Motto - im Text steht "Aber natürlich würde ich so etwas niemals tun" und als Leser denkt man "von wegen - erzähl du mal..."?


    nein, das ist nicht das, was ich meine. Der Ich-Erzähler erzählt jenes und der Leser versteht etwas anderes, weil der Autor genau das damit erreichen wollte (dass der Leser den Erzähler durchschaut), durch Informationen, die er dem Leser vorher gegeben hat.


    Ich weiß, dass mein Beitrag oben ziemlich theoretisch rüberkommt. Ich hatte auch schon eine konkrete Szene aus „Abspann“ beschrieben, die Passage dann aber wieder gelöscht, weil ich einerseits diejenigen nicht von vornherein von dieser Diskussion hier ausschließen möchte, die das Buch vielleicht selbst lesen wollen, andererseits aber auch nicht zuviel verraten möchte. Hier also noch mal diese Szene, mit weniger Details:


    In dem Buch gibt es eine bestimmte Szene, wo sich der Ich-Erzähler und seine Noch-Ehefrau in einem Restaurant treffen. Als Leser kommt man (im besten Fall) dahinter: Jede/r von diesen beiden weiß etwas. Was der Ich-Erzähler weiß, weiß auch der Leser, denn das hat er dem vorher mitgeteilt. Was die Ehefrau weiß, das kann der Leser nur vermuten. Dadurch entsteht eine ziemliche Spannung, der Leser weiß – oder vermutet: Wenn einer von diesen beiden sich jetzt entschließt, nicht nur subtile Andeutungen zu machen, sondern die Karten auf den Tisch zu legen, platzt eine Bombe. Die Geheimnisse von beiden für sich sind gut dafür, eine solche Bombe zu zünden, aber beide Geheimnisse zusammen – ei wei ...!


    Möglich nun, dass ich das überbewerte. Vielleicht sähen andere Leser das anders. Vielleicht wäre es für andere, „erfahrenere“ Leser ein billiger Trick ...? Mich jedoch hat die Raffinesse dieser Szene ungeheuer beeindruckt – wie man merkt ;-)


    Gruß,
    Petra

  • Mensch, jetzt bin ich noch neugieriger auf das Buch...
    zu deiner Frage:
    Ist´s möglich, dass dem Leser die wichtigsten Info´s rein über die Handlungen des Protags transportiert werden? Das was er Ich-Erzähler so alles "erzählt" könnte ja stark von seinen Handlungsweisen abweichen.


    Freu mich schon, den Roman dahingehend abzuklopfen.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Ich denke dabei an so etwas z.B.:


    "Es macht mir nichts aus, Tessa, wirklich nicht." meinte ich mit ruhiger, fast tröstender Stimme. Ich nahm meine Jacke und riss dabei ihre Vase um, in der gerade noch die Blumen standen, die ich ihr mitgebracht hatte.


    Weiß jetzt nicht, ob deutlich wird, was ich meine...? :baby
    Der Protag merkt zwar, was er da gemacht hat...aber der Leser kann dieses "Umwerfen" dann ja als doch nicht so seelenruhig deuten.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Wie wäre es mit
    "Ich trinke nicht zuviel. Ehrlich nicht. Sicher nicht mehr als die meisten anderen Leute. Und bei dem Unfall gestern war ich nüchtern, oder zumindest ... ich hatte maximal ein Glas getrunken. Aber wirklich maximal."


    Der Leser weiß natürlich immer noch nicht mehr als der Ich-Erzähler, aber es gibt schon ziemlich deutliche Hinweise...

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Zitat

    Original von Tom
    Mmh. Aber er weiß immer noch nicht mehr als der Ich-Erzähler. :wow



    stümmt! Aber wenn ich wirklich "wissen" will, muss ich mir ein Sachbuch kaufen.
    Im Roman gibt es bestenfalls Fährten, denen man folgen darf...oder seh ich das falsch?
    Stimme Petra zu, die oben fragte, ob man dem Leser da nicht auch zutrauen muss, dass er das kann.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • @lametta: Vielleicht habe ich die Frage auch (noch) nicht verstanden. Natürlich kann ein Leser etwas erahnen, das ein Ich-Erzähler möglicherweise (siehe Beispiel von Marvin) selbst nicht wahrhaben will, aber er kann meiner Meinung nach niemals mehr Fakten kennen (also: Wissen besitzen) als ein/der Ich-Erzähler. Das geht nur bei auktorialer oder wechselnd personaler Erzählweise.

  • Zitat

    Original von Marvin
    Wie wäre es mit
    "Ich trinke nicht zuviel. Ehrlich nicht. Sicher nicht mehr als die meisten anderen Leute. Und bei dem Unfall gestern war ich nüchtern, oder zumindest ... ich hatte maximal ein Glas getrunken. Aber wirklich maximal."


    Der Leser weiß natürlich immer noch nicht mehr als der Ich-Erzähler, aber es gibt schon ziemlich deutliche Hinweise...


    Der Leser liest, was der Ich-Erzähler sagt und interpretiert im Sinne des Autors. Ein Alkoholiker gesteht sich die Krankheit nicht ein.


    Im inneren Monolog erfährt der Leser grundsätzlich im Text nur, was der Ich-Erzähler sagt und denkt. Dennoch erfährt er mehr über die Figur. Allerdings nur durch "das Lesen zwischen den Zeilen", durch Interpretation des Textes.


    Wer Schnitzlers "Leutnant Gustl" liest, der erlebt die Entlarvung eines standesdünklerischen Feiglings. Damit vermutet er natürlich mehr als der Ich-Erzähler. Denn der glaubt sich in Recht und Ehre.
    Und genau das ist ja die Intention de Autors.


    Herzlichst


    Wolf P.

    "NOW is the happiest time of your life." Daevid Allen ( :gitarre )

  • Hallo Anja,


    Zitat

    Und sonst? Wie stellt man das sonst noch an?


    Das ist unlogisch ... Ich würde nicht in meinem schlimmsten Albträumen daran denken. Weiß du warum? Weil ich viel zu viel Angst vor dem Ergebnis hätte.


    Ich könnte so enden:


    :auslach


    Oder so:


    :bier



    Nein, tu das besser nicht.


    Gruß,
    Sabrina Saskia

    "Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund." Jan Drees

  • hallo petra,


    die kunst des erzählens ist ja m.e. die des indirekten erzählens, und da ist ein ich-erzähler in der tat auf den ersten blick ein schwieriges medium.


    ich denke, ähnlich wie wolf p., dass man mit den bewertungen/meinungsäußerungen/prognosen des ich-erzählers einiges machen kann. diese prallen auf das verständnis/die erfahrung des lesers, der darüber reflektiert und u.u. daraus liest, dass der ich-erzähler falsch liegt, sich z.b. unheil für ihn anbahnt.


    will sagen: der leser kann natürlich nicht mehr fakten kennen als der ich-erzähler, aber aus dem aufeinandertreffen zwischen dem text des ich-erzählers und dem klugen leser ergibt sich ein mehrwert, dadurch dass der leser den text einordnet, reflektiert.


    viele grüße,
    michael

  • Ach du Scheiße - das ist genau mein Dilemma.


    Im "Echo des Todes" habe ich eine Ich- Erzählerin. Sowohl mein Testleser, wie mein Agent, alsauch mein Lektor sagten mir - man vermutet sehr schnell den Täter.


    Aber das sei nicht schlimm - war ihre durchgängige Antwort, weil diese Naivität der Erzählerin dem Leser die Rolle des Zuschauers gibt - der mitfiebert: NEIN, du wirst doch nicht WIRKLICH jetzt die Tür öffnen, NEIN, mach das nicht ...


    Ich fand es schwierig. Ich finde es immer noch schwierig. Es war mein erstes Buch, dass ich alleine aus der Ich- Perspektive geschrieben habe. Was kann man wie erzählen? Was weiß der Leser, erkennt er, vermutet er -aus seinem Kontext, der ja mitunter ein ganz anderer als meiner -Autor- und als der des Ich- Erzählers ist.


    Ich habe vorher zwei Bücher mit einer Kollegin zusammen geschrieben - wir hatten zwei Figuren und beide erzählen aus der Ich-Sicht. VIEL einfacher, weil man Dinge einfacher erklären kann.


    Hab ich jetzt mal wieder das Thema verfehlt?


    Unsicher


    Ulli

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson
    Ja, ich hab's dann gesehen. Köntest du vielleicht doch die fragliche Stellen des großen Tesich zitieren? Dann wäre das alles viel besser verständlich. Many Thanxx!


    Das kann ich nicht tun, Th. Walker Jefferson, weil das wäre gegen die Koppireitbestimmungen =)

  • Zitat

    Original von Tom
    Natürlich kann ein Leser etwas erahnen, das ein Ich-Erzähler möglicherweise (siehe Beispiel von Marvin) selbst nicht wahrhaben will, aber er kann meiner Meinung nach niemals mehr Fakten kennen (also: Wissen besitzen) als ein/der Ich-Erzähler.


    Ok, ich wollte eine knackige Überschrift, mein Fehler :) Aber im Beitrag schrieb ich ja "Es kann aber auch umgekehrt ziemlich spannend für den Leser - und schwierig für den Autor sein - die Leser durch Andeutungen etwas vermuten zu lassen, während sein Ich-Erzähler völlig im Dunkeln tappt." Man könnte auch sagen: Beim Leser stellen sich Vermutungen ein, die am Ende des Buches erhärtet werden. Tesich sät Zweifel beim Leser, obwohl sein Ich-Erzähler offensichtlich nicht sehen will.


    Wie gesagt: Vielleicht stufen andere genau das als einen billigen Trick ein. Dann bin ich halt von einem billigen Trick beeindruckt - soll schon mal passieren :D


    Gruß,
    Petra


    PS: Ich wünsche dem Buch Leser. Zudem wird's gerade verramscht (gebundenes Buch aus 2006 für ein paar Euro) - es ist also keine große Investition, selbst, wenn man zu einem ganz anderen Schluss kommt als ich :)

  • Zitat

    Original von Michael Höfler
    ich denke, ähnlich wie wolf p., dass man mit den bewertungen/meinungsäußerungen/prognosen des ich-erzählers einiges machen kann. diese prallen auf das verständnis/die erfahrung des lesers, der darüber reflektiert und u.u. daraus ließt, dass der ich-erzähler falsch liegt, sich z.b. unheil für ihn anbahnt.


    will sagen: der leser kann natürlich nicht mehr fakten kennen als der ich-erzähler, aber aus dem aufeinandertreffen zwischen dem text des ich-erzählers und dem klugen leser ergibt sich ein mehrwert, dadurch dass der leser den text einordnet, reflektiert.


    Hallo Michael,


    so würde ich das auch sehen - oder gerne sehen wollen.


    Also, wer das Buch lesen möchte: Ich bin gespannt, ob ihr es für einen Trick haltet oder ob Tesich da doch handwerklich einiges geleistet hat. - Wobei sich beides auch nicht unbedint widersprechen muss ... Wenn das ein Trick ist, würde ich ihn zweifellos gern beherrschen.


    Gruß,
    Petra