Lohnt sich
Ein Mann - ungefähr in den Vierzigern - flieht von einer Beerdigung, irgendwo im britischen Sussex, und er fährt dorthin, wo er seine Kindheit verbracht hat. Es wird nicht verraten, wie der Mann heißt, und auch nicht, welche nahestehende Person da zu Grabe getragen wird.
Er sucht das Grundstück auf, das am Ende jener Straße liegt, an der früher sein Elternhaus stand, das längst abgerissen ist. Auf diesem weitläufigen Grund befindet sich ein kleiner Weiher, ein Teich - jener Teich, den die elfjährige Lettie Hempstock, die dort mit ihrer Mutter Ginnie und ihrer Gramma lebte, als „Ozean“ bezeichnet hat. Damals, als der Mann noch sieben Jahre alt war und ein fürchterliches Abenteuer erlebt hat, woran er sich nun plötzlich und detailreich erinnert. Und in dem dieser Ozean, der vielleicht nur ein Teich ist, eine besondere Rolle spielte.
Der freundliche Mensch, der mir empfohlen hat, dieses Buch zu lesen, sagte mir, er selbst würde Rezensionen zu diesem Roman meiden, was ich verstehen kann, obwohl ich gerade selbst eine verfasse. Da ist die Rede davon, dass es sich um ein Buch über große Freundschaft handeln würde, um einen Coming-of-Age-Roman und ähnliches. Mit enormer Selbstverständlichkeit hat seinerzeit, als der Roman erschien und schließlich - als große Überraschung - den britischen National Book Award gewann, auch das Feuilleton solche Behauptungen aufgestellt, wovon nicht wenige einander widersprachen. Das liegt daran, dass diese Geschichte viele Lesarten ermöglicht, und sie bietet reichlich Raum für Spekulationen und Interpretationen, aber nur wenig für eindeutige Schlussfolgerungen. Zuerst empfand ich das als unbefriedigend, diese Uneindeutigkeit, doch mit jedem Tag wächst gleichzeitig mit der Entfernung zur Lektüre auch das Gefühl, ein ganz besonderes Buch gelesen zu haben, dessen Stärke genau darin, also in dieser Offenheit und Deutungsfreiheit besteht. Allerdings ist das Gefühl, möglicherweise ein bisschen hinters Licht geführt worden zu sein, noch immer nicht ganz verschwunden.
Der Siebenjährige, dessen Eltern sein Kinderzimmer an einen „Opalschürfer“ vermietet haben, weshalb der Junge im Zimmer seiner nicht besonders liebenswürdigen Schwester schlafen muss, lernt die vier Jahre ältere Lettie Hempstock kennen, und die beiden Frauengenerationen vor ihr, mit denen Lettie zusammenlebt. Diese eigentümliche Damen-WG ist wie aus der Zeit gefallen, und ihr Haus wird für den Jungen zu einem Flucht- und Rückzugsort, zu einem traumhaften Idyll, in dem es neben schmackhafter Kost und heimeliger Gemütlichkeit viele Geheimnisse und eigenartige Dinge zu entdecken gibt. Dann erwacht der Junge eines Nachts - er steht kurz vor dem Erstickungstod, weil sich merkwürdigerweise eine Silbermünze in seinem Hals befindet, die der Junge noch nie gesehen hat. Wie kommt sie dorthin? Und von wem stammt sie? Lettie Hempstock kennt die Antwort, und auch die große Gefahr, die mit dieser Antwort verbunden ist, aber die Gefahren, die bewältigt werden müssen, um die damit einhergehende Drohung abzuwehren, sind auch nicht eben ohne.
„Der Ozean am Ende der Straße“ ist vieles zugleich, aber vor allem ist diese nicht sehr lange (und in der aktuell erhältlichen Ausgabe deshalb um zwei Kurzgeschichten ergänzte) Mystery-Geschichte sehr berührend, spannend, bilderreich und originell. Ich habe diesen Kampf des Jungen gegen die Dämonen als etwas gelesen, das mit häuslicher Gewalt, familiären Krisen, Vernachlässigung und Traumatisierung zu tun hat, und ich habe die Hempstocks einer erträumten Zwischenwelt zugeordnet, aber das ist nur meine persönliche Lesart, die ich keiner anderen über- oder unterordnen würde. Was mir besonderes Vergnügen bereitete, das war der Austausch mit dem oben erwähnten freundlichen Menschen über dieses Buch, eine Art von Austausch, die man in dieser Weise nicht oft erlebt. Und alleine deswegen hat sich die Lektüre gelohnt.