Ansprüche an einen Grammatik-Roman

  • Dann bewegen wir uns auf dem Parkett der Verständlichkeit, Kristin.
    Was für Dich selbst trotz gebrochener/umgangener Grammatik"regeln" verständlich ist, mag es für den nächsten Leser nicht mehr sein. Texte werden mühevoller zu lesen, der Leserkreis schrumpft. Den Effekt, den Du beim Brechen erzielst, kannst Du, glaube ich, nur beurteilen, wenn Du Deine Leser fragst.
    Im Extremfall machst Du Wortkunst" und verbindest eine Aussage damit. Dann geben sich wenigstens noch manche die Mühe, verstehen zu wollen, was Du fabriziert hast.

  • Sprache ist unser Handwerkszeug, nicht unser Götze. Wir verwenden Sprache, um Geschichten zu erzählen. Die Form folgt der Funktion. Wenn die Regeln nicht hergeben, was ich wie zu sagen versuche, verändere ich eben die Regeln, schaffe meine eigenen (sinnvollerweise, ohne diejenigen zu überfordern, die das dann lesen sollen). Sprache ist flexibel, und jeder hat das Recht, sie zu ändern. Wenn die Regeln vorschreiben, etwas komplex formulieren zu müssen, das "falsch" auch einfacher ginge, dann ist der falsche einfache Weg manchmal der bessere. Es geht nicht um "Wortkunst" oder exaltiertes Geseiere, sondern um die sinnvolle Verwendung von Sprache im Interesse der Erzählung. Wir sind auch keine Sprachhüter. Wer sich derlei anmaßt, dem ist mit Vorsicht zu begegnen. Möglicherweise auch mit Respekt. Aber nicht immer.


    Wenn nachts um drei kein Mensch auf der Straße ist, dann scheiße ich auf die rote Ampel. Der Regelbruch ist hier einfach sinnvoll.


    Ja, ja, man muss etwas perfekt beherrschen, um sich dagegen vergehen zu dürfen. Dieses Blabla höre ich schon seit Jahren und Jahrzehnten, aber ich hab's noch nie von jemandem gehört, der irgendeinen diesbezüglichen Beweis angetreten hätte. Ich habe dieses Blabla übrigens auch hin und wieder abgesondert. Meine beste Deutschnote in der Oberstufe war eine Drei, aber ich bin trotzdem Musikclown geworden, ohne alles über die Theorie der instrumentalen Darbietung absolut sicher zu wissen. Wahrscheinlich wäre ich ein besserer Musikclown, wüsste ich alles über adverbiale Bestimmungen im Kontext des Konjunktivs VII, aber irgendwas ist ja immer. ;)

  • Die Form folgt der Funktion. Wenn die Regeln nicht hergeben, was ich wie zu sagen versuche, verändere ich eben die Regeln, schaffe meine eigenen (sinnvollerweise, ohne diejenigen zu überfordern, die das dann lesen sollen). Sprache ist flexibel, und jeder hat das Recht, sie zu ändern.


    Das ist mir alles zu abstrakt. Was bedeutet diese Einstellung konkret für (längere) Prosa?


    Was bedeutet etwa dieser Satz für einen Roman?


    Zitat

    Wenn die Regeln vorschreiben, etwas komplex formulieren zu müssen, das "falsch" auch einfacher ginge, dann ist der falsche einfache Weg manchmal der bessere.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Die Form folgt der Funktion.
    Ein Beispiel ist der grammatisch unkorrekte Wechsel der Zeiten (Jürgen oder Tom haben das schon geschrieben), wenn man die Vorvergangenheit benutzt.
    Ein Text wird im Präteritum erzählt. Dann wechselt der Autor in die Vorvergangenheit, also Plusquamperfekt. Damit der Text lesbar bleibt und nicht von x-mal hatte und war überfrachtet wird, geht man nach kurzem Gebrauch des Plusquamperfekt zurück in Präteritum. Damit benutzt man grammatisch die falsche Zeit, beugt sich aber der Funktion, d.h. der Lesbarkeit.

  • Ja, Jürgen hatte das beschrieben. Ein sehr anschauliches und praxisnahes Beispiel. Rückblenden in einem Roman, der im Präteritum erzählt wird, würden dem ganzen Konstrukt das Genick brechen, folgte man darin/dabei der Regelung. Man schleicht lieber zurück ins viel einfacher zu handhabende Präteritum, und interessanterweise bemängelt das auch kaum jemand. In Dialogen, die lebensecht klingen sollen, kann man kaum grammatisch korrekt bleiben, weil Menschen nicht korrekt sprechen. Und so weiter.

  • Dass es dichterische Freiheit gibt - vor allem in einem Roman - ist völlig unstrittig. Nur ein Beispiel - aber ein gutes - ist die Erzählung einer Episode innerhalb der Handlung, die in der Vorvergangenheit spielt. Hier von A bis Z scheinbar grammatikalisch korrekt alles im Plusquamperfekt zu schreiben, ist in nahezu allen Fällen die falsche Lösung. Es liest sich krampfig, wirkt nervig und hölzern. Hier gilt es, nach kurzer Klarstellung der Zeitebene elegant ins Imperfekt zu wechseln, um einen lesbaren Text zu schreiben. Auch jede andere grammatikalische Regel hat vor der sprachlichen Gestaltungshoheit des Autors zurückzustehen. So weit, so gut.


    Dennoch gibt es Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit.


    Das Beispiel mit Imperfekt und Plusquamperfekt stammt in diesem Thread ursprünglich von Didi, soweit ich es sehe, # 47, und ist als Ausnahme von der Regel formuliert. Der Sinn dieser Art zu erzählen dürfte auch allen Anwesenden klar sein und ist ein alter Hut. Wenn man Figuren sprechen lässt, charakterisiert man sie natürlich durch ihre Sprache. Es mag auch Figuren geben, die grammatikalisch ganz falsch reden - dann schreibt man das selbstverständlich so.


    Ich hatte Toms zuletzt zitiertes Statements allerdings so verstanden, dass er noch auf etwas Weiteres hinaus möchte. Erneut - diese Stelle:


    Zitat

    Sprache ist flexibel, und jeder hat das Recht, sie zu ändern. Wenn die Regeln vorschreiben, etwas komplex formulieren zu müssen, das "falsch" auch einfacher ginge, dann ist der falsche einfache Weg manchmal der bessere.


    scheint mir auf ausgesprochen individuellen und kreativen Umgang mit der Sprache zu verweisen. Und nach wie vor kann ich mir bei Romanen darunter bis jetzt noch wenig vorstellen (außer etwa dem alten Hut mit dem Austausch des Plusquamperfekts).

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)


  • scheint mir auf ausgesprochen individuellen und kreativen Umgang mit der Sprache zu verweisen. Und nach wie vor kann ich mir bei Romanen darunter bis jetzt noch wenig vorstellen (außer etwa dem alten Hut mit dem Austausch des Plusquamperfekts).


    Dann lies beispielsweise mal ein paar Erzählungen und Romane von Arno Schmidt. Der war nicht nur hinsichtlich interpunktion eigenwillig.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Habe ich schon, HD. Beschränkt sich die Forderung nach "Form follows function" also auf experimentelle Avantgarde?

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  • Habe ich schon, HD. Beschränkt sich die Forderung nach "Form follows function" also auf experimentelle Avantgarde?


    Ich denke, die Zeiten, in denen Arno Schmidt "experimentelle Avantgarde" war, sind längst vorbei.

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  • Ich denke, die Zeiten, in denen Arno Schmidt "experimentelle Avantgarde" war, sind längst vorbei.


    Oh, Mann! Das ist doch vollkommen egal! Was bedeutet Toms Aussage denn bitte für einen ganz gewöhnlichen Autor? Das ist die Frage. Was bedeutet es, wenn ich fordere, man müsse EDIT: könne die Form der Grammatik brechen, für einen - keine Ahnung - Krimi-Autor, einen Pop-Literaten oder was weiß ich konkret?

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  • @Alexander
    Das bedeutet für einen Autor ganz konkret, dass er das kann. Die Regeln der Grammatik brechen. Vorausgesetzt er weiß, was er tut. Schlichte Grammatikfehler, die einem Autor unterlaufen, gehören nicht in die Diskussion. Dafür gibt es auch Lektoren, dass sie da ein Auge drauf haben.


    Wenn ein Autor nicht konkret weiß, wo er den Grammatikregeln nicht folgen soll, dann soll er solche Ausflüge auch besser unterlassen. So weit kommt es noch, dass man jedem Autor konkret sagen muss, wo er wie etwas zu schreiben hätte - nach Regel oder gegen eine Regel.

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  • Ich habe ein schönes Beispiel für eine sinnvolle Grammatikbeugung in einem modernen Roman.
    Es stammt aus dem 2001 erschienenen Roman „ein kind essen“ von Christian Geissler (k), der von der Liebesbeziehung zweier alter Kommunisten handelt. Der eine, Ole Blessi, hat sich gerade die Hand böse verletzt und schreibt seinem Geliebten Kargow einen Brief:


    Zitat

    wichtiges geht. briefe schreiben (…) der schmerz in den dunklen verschwellungen leuchtet brandrot tag und nacht. in meinem bett liege ich mit erhobener hand. ich will dir sagen, kargow: mich hatte die angst. jetzt sage ichs anders: ich habe angst, aber sie hat mich nicht mehr. oder so: mir zittert in meiner hand ein schreck als ein schmerz. oder so: ich lebe nicht mehr sehr gern. das hat der teufel gehört, jetzt lacht er sich mir ins fäustchen.
    ich rede mit meiner hand. ob ich sie locken kann doch noch mit mir zu leben. (Hervorhebung von mir)


    Blessis Hand droht im wörtlichsten Sinne abzusterben; jetzt erst kann er wirklich sagen, als Subjekt, „ich habe Angst“, während es vorher die Angst war, die ihn beherrschte. Mich hatte die Angst wäre also ein Ausdruck des völligen Ausgeliefertseins an fremde Mächte.


    [buch]3880226954[/buch]

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

    Einmal editiert, zuletzt von Jürgen ()

  • Du schaffst mich, Alter. Es geht selbstverständlich nicht darum, einem Autor zu sagen, was er zu schreiben habe. Es geht vielmehr darum, was es denn sei, das man für das Brechen der Grammatik im Kopf habe. Aber Du bringst mich auf die Idee für einen Thread.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Mich hatte die Angst

    Grammatikalisch ist das korrekt. Es ist inhaltlich eine ungewöhliche Wendung, aber nicht inkorrekt - das wäre etwa: Mir hatte die Angst.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Du schaffst mich, Alter. Es geht selbstverständlich nicht darum, einem Autor zu sagen, was er zu schreiben habe. Es geht vielmehr darum, was es denn sei, das man für das Brechen der Grammatik im Kopf habe. Aber Du bringst mich auf die Idee für einen Thread.


    Na dann frag auch so, dass du die Antworten bekommst, die du dir wünscht.

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    Emanuel von Bodmann


  • Grammatikalisch ist das korrekt. Es ist inhaltlich eine ungewöhliche Wendung, aber nicht inkorrekt - das wäre etwa: Mir hatte die Angst.


    Echt, wie hier immer so aus der Hüfte geschossen wird...
    Lieber Alexander, hier liegt eine Vertauschung von Subjekt und Objekt vor, durchaus "ungewöhnlich", vielleicht auch eine "Wendung", aber in oberkorrektem Sinne ein grammatikalistischer Fall! Amen.

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Echt, wie hier immer so aus der Hüfte geschossen wird...
    Lieber Alexander, hier liegt eine Vertauschung von Subjekt und Objekt vor, durchaus "ungewöhnlich", vielleicht auch eine "Wendung", aber in oberkorrektem Sinne ein grammatikalistischer Fall! Amen.


    "Mich hatte die Angst" ist zum einen eine Inversion der üblichen Satzstellung "Die Angst hatte mich". Zum anderen wird inhaltlich vertauscht, wer hier wen hat. Dieser inhaltliche Rollentausch von Subjekt und Objekt ist der grammatikalischen Korrektheit aber schnurz. Formal ist bei "Die Angst hat mich" alles in Ordnung.


    Die Grammatik würde auch nicht beanstanden: "Die Hose zieht sich mich an." Inhaltlich eine seltsame Vorstellung, aber formal völlig okay.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Regeln beugen, Regeln brechen ... Also, ich habe mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken darüber gemacht, ob "man das darf". Nicht beim freien Schreiben. Ein Regelbruch ist doch auch nichts besonders Dramatisches, soll heißen: muss doch nicht gleich zu Unverständlichkeit führen (im besten Fall kann ein Bruch einen Sachverhalt sicher sogar anschaulicher machen - aber nein, ein Beispiel fällt mir dazu gerade nicht ein, also zieht das Argument jetzt wahrscheinlich nicht so toll :nein2 ) oder in experimentelle Überhöhung ausarten. Schreibt Ihr denn in Eurer Prosa nie was grammatikalisch "Falsches"? Ich tue das manchmal - ich würde mich nur gerne dazu bringen, das bewusster zu tun und gezielter einzusetzen!


    Und ob man nun die Regeln genau kennen muss, um sie zu brechen, hm. Ich denke, müssen muss man erstmal gar nichts. Es kann auch aus dem Bauch heraus klappen. Entscheidend ist doch das, was unterm Strich dabei herauskommt, und ob es etwas Lesbares, vielleicht sogar Originelles ist. Allerdings glaube ich, dass sich durch die Kenntnis der Regeln die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass der Bruch gelingt. So oder so - diese Diskussion inspiriert auch mich zu einem neuen Thema.


    Und: "Mich hatte die Angst" ist absolut richtige Grammatik! Sogar "Mich hat Angst" wäre grammatikalisch noch richtig (nur so unkonventionell, dass es mit der Verständlichkeit kritisch wird).

    "Aim high, expect nothing."

    (Uschi Obermaier?)

  • "Mich hatte die Angst" - was für ein wunderbarer Satz, um die Hilflosigkeit des Protagonisten auszudrücken. Und überhaupt ein toller Auszug, den Du gepostet hast, Jürgen. Das einzig grammatisch Falsche daran erscheint mir jedoch die Rechtschreibung.


    Zur Satzstellung will ich noch mal auf Angelika Jodl verweisen. In ihrem Blog erläutert sie schön, wie flexibel die deutsche Sprache ist.