Erzählperspektive - jetzt aber richtig

  • An anderer Stelle ist über eine Frage zur Perspektive in einer Erzählung ein ziemlich unleidlicher Hickhack entstanden. Man könnte sagen, das ist ein praktisches Beispiel für »wechselnde Perspektiven«, tatsächlich ist es nur ein praktisches Beispiel dafür, wie Inkompetenz und Dekadenz sich gut ergänzen. Da ich in diesem Fred ebenfalls mit Postings auftauche, schließe ich mich selbst von dieser Kritik nicht aus.


    Meistens wird diskutiert über vier verschiedene Erzählperspektiven: der auktorialen, der personalen, der neutralen und der Ich-Form. Das ist aus Autorensicht zwar eine recht praktische Unterscheidung, tatsächlich aber eine Vereinfachung. Die Literaturwissenschaft sieht das viel differenzierter (wenn ich das als Laie und nur durch ein bisschen Hineinschnuppern geringfügig informiert mal einwerfen darf). Eine interessante Ergänzung ist für mich die Theorie von Eberhard Lämmert. Der legte seinen Akzent auf das Wechselspiel zwischen Nahperspektive und Fernperspektive und verstand darunter den räumlichen und zeitlichen Abstand des Erzählers zum Geschehen. In seinem Buch


    ASIN/ISBN: 3476000974


    - einem Klassiker eigentlich, der schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist - führt er das näher aus. Ich baue das aber jetzt nicht weiter aus, weil es mir nicht um eine langen theoretischen Exkurs geht. Die Ausgangsfrage war ja die nach der richtigen Perspektive und ob man die innerhalb der Erzählung (des Romans?) wechseln darf.


    Man darf. Unbedingt. Wer sollte das verbieten? Mag sein, dass es bestimmte Trivial-Genres gibt, in der Verlage Vorgaben machen - das dürfte aber eher die Ausnahme sein. Wer sich so beschränken will, soll das tun. Aber man muss das nicht. Alfred Döblin hat sich nicht beschränkt bei seinem "Berlin Alexanderplatz" und Günter Grass mit seiner "Blechtrommel" auch nicht. Aber auch in der Genreliteratur findet man das nicht selten, hier nur als Beispiel die Krimis von Asa Larsson, in denen der Perspektivwechsel sogar ziemlich krass (meiner Meinung nach) stattfindet.


    Meines Erachtens ist nicht darüber zu diskutieren, ob man das darf, sondern wann solche Perspektivwechsel sinnvoll sind, welchen Effekt sie erzeugen, wie man es richtig macht und welche Fehler dabei gemacht werden können.


    In diesem Sinne würde ich eine Diskussion begrüßen. Wäre schön, wenn die hiermit eröffnet wäre.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo H-D,


    nur um das richtig auseinander zu klamüsern: Bei Perspektivwechsel reden wir jetzt davon, aus wessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ja?
    Wenn eine Geschichte aus der Perspektive der Protagonisten und das auch noch in der 3. Person geschrieben ist, dann ist ein Perspektivwechsel (sehr häufig einhergehend mit einer neuen Szene) doch das Normalste der Welt. Auch ohne großer böser veröffentlichter Autor zu sein, kenne ich das als harmloser Leser aus hunderten von Paperback-Thrillern à la Clancy, Deaver, Brown etc. Das ist für mich der Einstieg in den Perspektivwechsel, weil, du brauchst dir eigentlich nur zu überlegen, welche Personen am gegebenen Ort zur gegebenen Zeit überhaupt etwas wahrnehmen können und dann nimmt man meistens die Person, die am intensivsten am Geschehen beteiligt ist. Billig. Steht in jedem Schreibratgeber. Die Frage ist, ob hier so etwas mit Perspektivwechsel überhaupt gemeint war, weil es bleibt immer die dritte Person.
    Was ganz anderes ist es natürlich, wenn ich einen richtig harten Wechsel mache zwischen zB erste Person und auktorialem Erzähler. Halte ich für sehr schwer, das gekonnt hinzubekommen, lasse mich aber gerne eines besseren belehren.
    Ich selber spiele gerade mit Wechseln zwischen der dritten und der zweiten(!) Person rum, das hat aber besondere Gründe und wird wahrscheinlich grausam zu lesen zu sein. Aber just for fun kann man ja machen, was man will.

  • Ein Buch, in dem der Wechsel zwischen zwei Ich-Perspektiven nicht nur sehr gut funktioniert, sondern die Geschichte auch vorantreibt, ist "Flüchtig bleiben" von Corinna Waffender.



    Eidt(h): Link hinters Bild geklemmt.

  • Zu den Punkten auktorialer Erzähler und Ich-Erzähler fällt mir etwas Bedenkenswertes ein, dass glaube ich Anja oder Judith in der Romanwerkstatt von Textkraft erwähnt hat: Die Bezeichnung "auktorialer" Erzähler bezieht sich ja u.a. auf das Wissen, dass der Erzähler zum Erzählzeitpunkt hat. Insofern kann es auch einen auktorialen Ich-Erzähler geben. Allein durch den Zeitunterschied zwischen Erlebtem und Erzähltem (Beispiel: Damals wusste ich noch nicht, welche Konsequenzen meine Entscheidung haben würde).


    Ich finde es daher besser, zwischen Erzählperson (Er- oder Ich-Erzähler) und Erzählsituation (auktorial, personal) zu unterscheiden.

  • Ich oute mich hier jetzt wahrscheinlich als kompletter Idiot, wenn ich gestehe, dass mir die Zuordnung der Erzählperspektive sowohl als Leser als auch in meinem Romanversuch mehr als schwer fällt. Klar geht es in manchen Romanen ganz eindeutig zu. Aber es gibt Geschichten, die mich da ganz ordentlich ins Schleudern bringen. Sobald mir die Beispiele wieder einfallen, poste ich die Links dazu.
    Brennende Frage:
    Wie geht ihr da genau vor, um euch über die jeweilig dargebotenen bzw. benötigten Standorte klar zu werden?

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Interessant, dass ich noch nie etwas von einem neutralen Erzähler gehört haben. Man lernt nie aus. Aber ich halte eine neutrale Erzählperspektive auch für nicht durchführbar. Denn wenn man etwas beschreibt, dann ist das immer subjektiv. Selbst wenn man nur ein Blatt beschreibt. Grün sieht für jeden anders aus. Ein kühler Wind, bedeutet für jeden etwas anderes. Ab wann ist es kühl? Für manchen mag das was ich als kühl empfinde noch warm sein. Man kann natürlich sehr faktisch berichten, keine Frage, aber da bleibt immer noch ein Stück Subjektivität. Man kann schon eine Meinung wiedergeben indem man die Wolken, in einer bestimmten Situation, unterschiedlich beschreibt.

  • Meines Erachtens ist nicht darüber zu diskutieren, ob man das darf, sondern wann solche Perspektivwechsel sinnvoll sind, welchen Effekt sie erzeugen, wie man es richtig macht und welche Fehler dabei gemacht werden können.


    Ich denke, richtig gibt es nicht. Irgendwer (ich weiß nicht mehr wer) hat mir mal gesagt, man darf alles, wenn man es kann. Und das ist der Punkt. Wenn man die Perspektiven extrem vermischt, in einem Absatz oder sogar im gleichen Satz, dann muss das auf den Leser wirken, als ob es so und nicht anders sein muss, es muss einfach stimmig ankommen und dazu braucht man - glaube ich - ein ganzes Stück Schreiberfahrung, es sei denn, man ist eins dieser Wunderkinder, die alles instinktiv aus dem Ärmel schütteln. Aber man darf absolut alles, die Frage ist nur, wie das Ergebnis wirkt und ankommt.

  • Aber ich halte eine neutrale Erzählperspektive auch für nicht durchführbar. Denn wenn man etwas beschreibt, dann ist das immer subjektiv.


    Neutral heißt ja nicht, dass es nicht subjektiv ist, sondern nur, das der Erzähler neutral bleibt. Wenn ein Er-Erzähler alles durch die Augen einer Figur sieht und sich selbst komplett zurücknimmt, keinerlei Kommentare gibt und ausschließlich Gedanken, Emotionen und Wahrnehmungen der Figur wiedergibt, dann ist er neutral.


    Gruß,
    Karen

  • Neutral heißt ja nicht, dass es nicht subjektiv ist, sondern nur, das der Erzähler neutral bleibt. Wenn ein Er-Erzähler alles durch die Augen einer Figur sieht und sich selbst komplett zurücknimmt, keinerlei Kommentare gibt und ausschließlich Gedanken, Emotionen und Wahrnehmungen der Figur wiedergibt, dann ist er neutral.


    Gruß,
    Karen


    Vielleicht habe ich da was falsch verstanden, aber wenn die Geschichte durch einen Er-Erzähler erzählt wird, dann ist das eine personale Perspektive und die ist alles andere als neutral, denn dann wird die Geschichte ganz subjektiv, durch die Augen des Er wiedergegeben.


    Edit
    Neutral würde - meiner Meinung nach - bedeuten, dass der Erzähler nur die Fakten berichtet, so wie sie passieren, ganz Sachlich ohne Emotionen usw.

  • Sach ich doch.


    du musst unterscheiden zwischen dem Erzähler und der Figur. Der Erzähler ist die Instanz zwischen der Figur und dem Autor.


    Gruß,
    Karen


    Aber wenn eine Geschichte personal erzählt wird, dann ist doch die Figur der Erzähler, dann gibt es doch gar keinen aussenstehenden Erzähler, wie bei der auktorialen Erzählweise. Wo wäre denn da die Zwischeninstanz?

  • Zu den Punkten auktorialer Erzähler und Ich-Erzähler fällt mir etwas Bedenkenswertes ein, dass glaube ich Anja oder Judith in der Romanwerkstatt von Textkraft erwähnt hat: Die Bezeichnung "auktorialer" Erzähler bezieht sich ja u.a. auf das Wissen, dass der Erzähler zum Erzählzeitpunkt hat. Insofern kann es auch einen auktorialen Ich-Erzähler geben. Allein durch den Zeitunterschied zwischen Erlebtem und Erzähltem (Beispiel: Damals wusste ich noch nicht, welche Konsequenzen meine Entscheidung haben würde).


    Ich finde es daher besser, zwischen Erzählperson (Er- oder Ich-Erzähler) und Erzählsituation (auktorial, personal) zu unterscheiden.


    Die Unterscheidung finde ich hilfreich. Dennoch denke ich, dass es auch einen auktorialen Erzähler gibt, zum Beispiel in Märchen. Oder, wenn ich eine Szene ohne Fokussierung auf eine Person beschreibe. Etwa so: Drei Reisende stiegen an diesem Abend aus dem Regionalzug aus: Ein Versicherungsvertreter, eine Medizinstudentin und ein pensionierter Oberstudienrat. Für die Dauer von fünf Minuten hallten die unterschiedlichen Schrittrhythmen durch die kleine Bahnhofshalle. Dann kehrte wieder Stille ein.


    Gruß
    Sabine


  • Aber wenn eine Geschichte personal erzählt wird, dann ist doch die Figur der Erzähler, dann gibt es doch gar keinen aussenstehenden Erzähler, wie bei der auktorialen Erzählweise. Wo wäre denn da die Zwischeninstanz?


    Nein, eben nicht. Der Erzähler ist der Erzähler, nicht die Figur. Beim Ich-Erzähler gibt es da noch eine Quasi-Übereinstimmung, aber auch die darf man nicht als Figur=Erzähler sehen. Z.B. kann ein Ich-Erzähler im Rüpckblick nach 100 Jahren eine Geschichte aus seinem Leben von früher erzählen. Dann (und auch sonst, aber in diesem Beispiel ist es halt besonders deutlich) verfügt er über eine ganze Menge weitere Lebenserfahrung etc und ist nicht mehr der, der er früher war.


    Ein Erzähler wählt aus, was er über die Figur erzählt. Darum ist er nicht die Figur.


    Gruß,
    Karen


  • Nein, eben nicht. Der Erzähler ist der Erzähler, nicht die Figur. Beim Ich-Erzähler gibt es da noch eine Quasi-Übereinstimmung, aber auch die darf man nicht als Figur=Erzähler sehen. Z.B. kann ein Ich-Erzähler im Rüpckblick nach 100 Jahren eine Geschichte aus seinem Leben von früher erzählen. Dann (und auch sonst, aber in diesem Beispiel ist es halt besonders deutlich) verfügt er über eine ganze Menge weitere Lebenserfahrung etc und ist nicht mehr der, der er früher war.


    Ein Erzähler wählt aus, was er über die Figur erzählt. Darum ist er nicht die Figur.


    Gruß,
    Karen


    Teer und feder mich, fessel mich und füll mich mit billigem Vodka ab :D, aber ich denke doch, dass die Figur auch in dem Fall der Erzähler ist, denn die Figur erzählt ja die Geschichte, ob nun direkt während sie passiert oder später spielt doch keine Rolle. Es gibt natürlich auch den Fall, dass der Erzähler nicht die Figur ist, aber darum ging es ja nicht, sondern um eine personale Erzählhaltung. Und ein personaler Erzähler ist immer die Figur. Ob nun die Hauptfigur oder auch eine Nebenfigur, aber beide erzählen aus ihrer ganz subjektiven Sichtweise, mit ihrer ganz eigenen Stimme. Und somit sind Figur und Erzähler doch identisch.

  • aber ich denke doch, dass die Figur auch in dem Fall der Erzähler ist, denn die Figur erzählt ja die Geschichte,



    Natürlich erzählt er die Geschichte. Aber er greift nicht in die Interaktion ein. Stell dir den Erzähler wie einen Reporter vor, der neben den Handelnden her geht und beschreibt was sie tun. Sobald aber die beobachteten Personen interagieren, zieht sich der Reporter zurück und nimmt das Heft der Erzählung erst wieder in die Hand, wenn es was zu beschreiben gibt.


    lg
    scribbler


    edith stöhnt: immer diese zitierklammern...:-(

  • Natürlich erzählt er die Geschichte. Aber er greift nicht in die Interaktion ein. Stell dir den Erzähler wie einen Reporter vor, der neben den Handelnden her geht und beschreibt was sie tun. Sobald aber die beobachteten Personen interagieren, zieht sich der Reporter zurück und nimmt das Heft der Erzählung erst wieder in die Hand, wenn es was zu beschreiben gibt.


    lg
    scribbler


    edith stöhnt: immer diese zitierklammern...:-(


    Wir kommen hier auf keinen gemeinsamen Zweig, wie mir scheint. :D Ja, alles richtig, was du sagst, aber trotzdem gilt: Erzähler = Figur, wenn man einen personalen Erzähler hat... Ich klinke mich hier jetzt wieder aus, ich bin kein Theoretiker und hatte mir eh vorgenommen, keine Schreibratgeber mehr zu lesen. Theorie hin oder her, am Ende muss es passen und wenns passt, ist es mehr als Wurscht, ob der Erzähler nun die Figur oder ein sprechender Buchsbaum ist. :evil