Mehr Wumms: Literatur und Unterhaltung

  • Interessanter Artikel in der Süddeutschen - Martin Hielscher (u. a. Programmleiter Literatur bei C. H. Beck) analysiert die derzeitige Rezeption von Literatur.


    Sehr verkürzt: Die Utopie und damit eine Vorstellung des Anderen ist abhanden gekommen, weswegen nur der schnelle Genuss und die - nur kurzfristig wirksamen - (medial inszenierten) "Ereignisse" zählen.

  • Zitat

    Original von Nudelsuppe
    Interessanter Artikel in der Süddeutschen - Martin Hielscher (u. a. Programmleiter Literatur bei C. H. Beck) analysiert die derzeitige Rezeption von Literatur.


    Sehr verkürzt: Die Utopie und damit eine Vorstellung des Anderen ist abhanden gekommen, weswegen nur der schnelle Genuss und die - nur kurzfristig wirksamen - (medial inszenierten) "Ereignisse" zählen.


    Danke für diesen Link! :blume

  • Fand den Link auch interessant. Danke für...besonders für das Schlagwort
    "Germany´s next Top Novel" =)


    Neu finde ich die Erkenntnisse, bzw. Theorien Hielschers allerdings nicht...
    Anfang der 90er Jahre las ich die Warnschrift "Das Verschwinden der Kindheit" von Neil Postman...nicht alles konnte ich nachvollziehen und abnicken. Aber die Dynamik Medien-Markt-Abstumpfung/Sucht vs. Fantasie/Utopie-Entwicklung-Zufriedenheit klang dort schon an und hat mich damals zu wirklicher Suche und Utopienentwicklung für mein eigenes Leben angestachelt...
    Auf den Alltag bezogen:
    Leider müssen meine Kinder deshalb mit einer Mutter leben, die sie nur fernsehen und computern lässt, wenn sie sich entsprechend viel bewegen (körperlich und geistig)...man wird da schnell als altmodisch oder weltfremd bezeichnet...und das nicht nur von den Kindern...
    Was solls...alle drei sind inzwischen anspruchvolle Leser und verspielte Erfinder...das nimmt ihnen keiner mehr...hoffentlich...


    Edit: plöder felerteuvel

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

    2 Mal editiert, zuletzt von lametta ()

  • Zitat

    Original von Nudelsuppe


    Sehr verkürzt: Die Utopie und damit eine Vorstellung des Anderen ist abhanden gekommen, weswegen nur der schnelle Genuss und die - nur kurzfristig wirksamen - (medial inszenierten) "Ereignisse" zählen.


    Durchaus richtig. Und es gibt kaum eine Möglichkeit für Verlage, sich dem zu entziehen. Bedauerlicherweise. Auch in der Süddeutschen heute ein Artikel über Analpheten in Deutschland (leider im Moment noch nicht online). Das offiziell 6,75 Prozent der Erwachsenen Bevölkerung, rund 4 Millionen Menschen, Analphabeten sind war für mich ein Schock. Inoffiziell schätzt man, dass es sogar bis zu 9,5 Millionen sind. Das korrespondiert mit der anderen Aussage. Wer soll auch unsere Bücher künftig noch lesen, wenn keiner mehr Lesen kann? Muss man ja auch nicht mehr. Wenn 4-9 Millionen auch mit wenig oder gar keiner Lesefähigkeit durchkommen, dann kann der Rest der Bevölkerung auch gut darauf verzichten. Fehrnsehn anschalten, auf Live-Parties gehen, alles fremdartige an der nächsten Straßenecke zusammendreschen - dafür muss man nicht lesen können.


    Provokative Grüße


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Horst Dieter

    Durchaus richtig. Und es gibt kaum eine Möglichkeit für Verlage, sich dem zu entziehen. Bedauerlicherweise. Auch in der Süddeutschen heute ein Artikel über Analpheten in Deutschland (leider im Moment noch nicht online). Das offiziell 6,75 Prozent der Erwachsenen Bevölkerung, rund 4 Millionen Menschen, Analphabeten sind war für mich ein Schock. Inoffiziell schätzt man, dass es sogar bis zu 9,5 Millionen sind. Das korrespondiert mit der anderen Aussage. Wer soll auch unsere Bücher künftig noch lesen, wenn keiner mehr Lesen kann? Muss man ja auch nicht mehr. Wenn 4-9 Millionen auch mit wenig oder gar keiner Lesefähigkeit durchkommen, dann kann der Rest der Bevölkerung auch gut darauf verzichten. Fehrnsehn anschalten, auf Live-Parties gehen, alles fremdartige an der nächsten Straßenecke zusammendreschen - dafür muss man nicht lesen können.


    Provokative Grüße


    Horst-Dieter


    Der arme H-D ist in ein Sumpfloch gefallen. Heul nicht und komm wieder raus. Das Abendland wird schon nicht untergehen


    Topi

    Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben,
    wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.


    Mark Twain

  • Ich habe den Artikel gelesen und finde ihn nicht glänzend geschrieben.
    Wie war das denn "früher"? Welchen Zeiten wollen wir preisen?


    "Früher" standen "Die Kreutzersonate", "Die Brüder Karamasow" und Anna Karenina in allen Bücherschränken. Lasst mich nachdenken... Schillers Werke, ein Opern- und Theaterfüher, vielleicht etwas von Balzac, "Der Graf von Monte Christo" natürlich - oder "Der scharlachrote Buchstabe" -usw.
    In ein Wohnzimmer gehörte ein Bücherschrank. Dort standen sie dann, in Leinen oder Leder gebunden, mit Goldlettern geprägt. - . richtige Bücher, nicht so ein Fledderzeug, das heute an die Massen verkauft wird. Aber alle blieben ungelesen, nur Deko.


    Wann wurde denn "mehr" gelesen, als heute? In welchen Bevölkerungsschichten, in welchen Zirkeln?


    Ärgerlich, dass sich heute der Müll so breit macht - und einem überall entgegenquillt.


    Ich habe vor Jahren mal mitten in ein Hörspiel geschaltet. Die ganze Zeit dachte ich: Was ist das denn? Das ist ja großartig! Tolle Srecher, tolle Athmosphäre.
    Das war eine Aufnahme mit Therese Giese und anderen, aus den 50er Jahren.
    Heute werden weder die Schauspieler so gut ausgebildet, noch nimmt man sich die Zeit, um bleibende Dinge zu schaffen.


    Das ist natürlich sehr bedauerlich. Es ist wichtig zu wissen, dass alles auch besser gemacht werden könnte. (Gilt für fast alle Bereiche. Stichwort Textilien) ---- Lamentieren bringt aber auch nix.


    Ich denke, dass sich die Zahl derer, die an "guter Kultur" teilhaben vergrößert hat und, dass jene, die Ramschkultur konsumieren, früher überhaupt nicht gelesen häben.



    Grüße
    Topi

    Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben,
    wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.


    Mark Twain

  • Zitat

    Original von Horst Dieter


    ;( Meinst du?



    Ganz bestimmt nicht! Man muss nur eine Menge mehr Müll ertragen ---


    Grüße
    Topi

    Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben,
    wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann.


    Mark Twain

  • Zitat

    Original von Topi

    Wie war das denn "früher"? Welchen Zeiten wollen wir preisen?

    Topi


    Zeiten preisen? Nach dem Motto »Früher war alles besser«?


    Das bringt nichts.


    Aber es lohnt schon, mal zurückzuschauen. Zum Beispiel in die 50er Jahre, die du ja auch erwähnst.


    Da fanden zum Beispiel Bücher wie Bölls: Wo warst du Adam, oder Grass mit seinem ersten Buch - nein, nicht die Blechtrommel sondern die Windhühner, das mit den Gedichten :D -, Siegfried Lenz erster Roman Es waren Habicht in der Luft genauso viel Aufmerksamkeit und Anklang wie etwa die Kurzgeschichten von Paul Schallück oder Wolfdietrich Schnurre. Es wurde in dieser Zeit natürlich auch Unterhaltungsliteratur geschrieben, aber die stand eigentlich weitgehend im Schatten. Heute hat sich das verkehrt.


    Man muss nicht alte Zeiten zurücksehnen, aber man kann darüber nachdenken, was diese Veränderung bedeutet und überlegen, ob man immer angepasst mitgehen muss oder ob es Möglichkeiten der persönlichen Weigerung gibt.


    Seh ich zumindest so. Leidenschaftslos übrigens ;)


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Was mich bei diesem äußerst interessanten Artikel bewegt, ist der "Wumms". Der Verfasser deutet es ja an, dass Viele (sind es Viele?) ständig nach neuen und vor allem stärkeren Reizen suchen. Im Film ebenso wie in der Musik. Manchmal habe ich das so als Druck beim Schreiben verspürt... oder vermutet. Dass man immer noch eins drausetzen muss. Möglichst noch ein Tabu brechen (welches? Sind doch alle schon gebrochen), bzw. dass man alles immer drastischer darstellen muss. Wo früher ein Schatten und eine schreiende Frau genügten, spritzen heute Blut und Gedärme. Wo früher die Liebenden in der ausblendenden Szene dahinsanken, sehen/lesen wir sie heute kopulieren.
    Versteht mich jetzt nicht falsch. Weder will ich hier den moralischen Zeigefinger heben, noch das alles verdammen. Ich frage mich nur, ob unsere Empfänger, die Leser, hmm.... abstumpfen in der heutigen Reizüberflutung? Zumindest auf dem Massenmarkt? Zumindest kommt es mir so vor, wenn ich heutzutage in meine Stammvideothek gehe und da im Neuheitenregal zB die Cover von Horrorfilmen sehe.


    Gibt es so einen allgemeinen Trend oder ist Achim mal wieder auf dem falschen Dampfer :kaeptn ?

  • Ich sehe das Thema ehrlich gesagt nicht so brisant. Sicher hat unsere zeitgenössische Event-Kultur etwas Hysterisches an sich. Für Satiriker wird es immer schwieriger, nicht gleich wieder von der Realität überholt zu werden. Aber das ist doch nicht die ganze Kultur.


    Haben die Menschen denn "früher" wirklich mehr gelesen? Und anspruchsvollerere Literatur? Ich glaube hier relativiert sich manches durch den historischen Abstand. Viele Absurditäten verschwinden einfach aus der kollektiven Erinnerung und zwar zu Recht.


    Diese Warnrufe vor dem Untergang der Kultur kenne ich, solange ich bewusst lesen kann. Trotzdem kann ich jedes Buch, jeden Film, jedes Musikstück, das ich haben will, jederzeit bekommen.


    Ich lese in dem Artikel noch unterschwellig etwas anderes und das ist vielleicht der eigentliche Knackpunkt: Hier wird doch v.a. beklagt, dass ein Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit verloren geht. Die öffentliche Meinungsbildung erfolgt nicht mehr durch eine Art Bildungsbürgertum, die "gute", anspruchsvolle Werke zum Maßstab setzt, sondern durch ein mediales Event-Proletariat mit Casting- und Top-Ten-Fetischismus.


    Viele Bereiche der Kultur, wozu ich jetzt zum Beispiel mal die Fans zeitgenössischer klassischer Musik, die Leser von Hochliteratur oder die Liebhaber schwarzweißer Filmklassiker zähle (die Liste ist beliebig verlängerbar) setzen nicht mehr den Standard, sondern bilden jeweils eine Nische. Das kann man jetzt beklagen, oder man kann auch einfach akzeptieren, dass viel Kulturerzeugnisse die große Masse einfach nicht erreichen und wahrscheinlich auch nie erreicht haben.


    Ein großes Problem ist das nur für jemanden, der immer noch vom Projekt Aufklärung träumt.


    Im übrigen finde ich die Beispiele in dem Artikel reichlich absurd. Wenn Romane wie "UnendlicherSpaß" oder "2666", die ich persönlich für großartige Literatur halte, durch öffentliche Aufmerksamkeit auch von Leuten gekauft werden, die sie nach 50 Seiten enttäuscht ins Regal stellen, wo ist dann das Problem?


    Liebe Grüße
    Siegfried

  • Zitat

    Original von siegfried

    Im übrigen finde ich die Beispiele in dem Artikel reichlich absurd. Wenn Romane wie "UnendlicherSpaß" oder "2666", die ich persönlich für großartige Literatur halte, durch öffentliche Aufmerksamkeit auch von Leuten gekauft werden, die sie nach 50 Seiten enttäuscht ins Regal stellen, wo ist dann das Problem?


    Liebe Grüße
    Siegfried


    Das auch IKEA wieder mitverdient durch Regalverkauf vielleicht?!

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    Emanuel von Bodmann


  • :D
    eine scharfe, kommunikative Waffe: das Gehörte mit eigenen Worten wiedergeben...und schon fühlt sich der Gesprächspartner verstanden und liebgehabt...da hat der Hielscher es gut bei dir... ;)
    Mein Deuschlehrer hat uns die Paraphrase damals wärmstens empfohlen...allerdings für Auseinandersetzungen...in Erörterung & Co. sollten wir das lassen...mist...jedenfalls für mich... :down...bin dann vom Gymnasium gegangen...worden...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

    Einmal editiert, zuletzt von lametta ()

  • Der "Verlust der Utopie" ist m. E. schon brisant. Zum Thema passt auch ein Interview mit Oskar Negt auf [URL=http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,710880,00.html]SpOn[/URL] heute:


    "Der Tod der Utopien, der nach 1990 so lauthals gefeiert wurde, hat dazu geführt, dass wir es in Politik und Wirtschaft mit sogenannten Realisten, Tatsachenmenschen zu tun haben, die nur noch darauf verweisen, was nicht geht, so dass die Potentiale, die in der Gesellschaft stecken, nicht zur Entfaltung kommen."


    Diese "Realisten" tragen nun - wie jüngst Tom im Literaturcafé - ihre neoliberalen Ansichten in die Literaturwelt hinein - gerade Literatur findet m. E. aber *gerade* an den Rändern statt, das heißt, die Ausnahme ist hier das Wesentliche, nicht der Erhalt eines Status Quo über Genreromane, die lediglich mehr oder weniger punktgenau Zielgruppen treffen.


    Grüße,
    die Nudelsuppe

  • Zitat

    Original von siegfried


    Ich lese in dem Artikel noch unterschwellig etwas anderes und das ist vielleicht der eigentliche Knackpunkt: Hier wird doch v.a. beklagt, dass ein Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit verloren geht. Die öffentliche Meinungsbildung erfolgt nicht mehr durch eine Art Bildungsbürgertum, die "gute", anspruchsvolle Werke zum Maßstab setzt, sondern durch ein mediales Event-Proletariat mit Casting- und Top-Ten-Fetischismus.


    Darüber hinaus (dass die "Diskurskartelle" die Maßstäbe setzen) benennt der Autor aber die Gefahr, dass Schriftsteller beginnen, hinter diesen Maßstäben herzurennen: Sie schreiben marktkonform, für die "Kulturindustrie"; nota bene: Sie geben vor "hohe" Literatur zu schreiben, dabei produzieren sie aber nur "Unterhaltung im Gewande der Literatur (...) - gut gemacht, klug arrangiert, technisch durchaus auf der Höhe der Zeit, angenehm genießbar, verdaulich, schmerzfrei". Anscheinend bezieht sich der Autor dabei auf Kehlmanns "Vermessung der Welt" und nicht auf Wallace oder Bolano.
    Diese der Kulturindustrie angepasste "Literatur" engt die Wahrnehmung des Lesers radikal ein und zerstört somit den kulturellen Raum - d.h. das Individuum entmündigt sich beim Lesen dieser hochgetunten Bücher selbst.


    Viele Grüße
    Jürgen

  • Wenn man nicht will, dass eine Gesamtbevölkerung als dumpfbackig dasteht, muss man wohl allgemein das Niveau senken...
    Geschieht in Tv und Schulen ja auch schon längst. Jetzt hat´s die letzte Bastion halt eingeholt.
    Und das bisschen Wissen, das es noch in unsere Köpfe schafft, muss in angenehmen Häppchen serviert werden.
    Vergessen wird, dass man sich eine Meinung erarbeiten muss.
    Mit Info-Schnittchen à la Gallileo, Heidenreich, Quarks & Co. wird das nicht.

    [buch]3866855109[/buch]


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