Ist Winnenden hier denn gar kein Thema?
Die beiden größten menschlichen Fehler: Versäumen und Übereilen.
(War mein Goethe des Tages)
Wenn ein Gemüt nicht weiß, ob es schockiert oder empört sein soll, ist es meist fassungslos. So erging es mir, als ich die Statements der Politikerinnen und Politiker nach dem Amoklauf in Winnenden gehört habe. Doch es war nicht der Inhalt der Worthülsen, der mich fassungslos zurückließ. Was kann man zu einem solchen Drama schon anderes sagen, als allen Beteiligten sein Mitgefühl auszusprechen? Dies ist selbstverständlich und die Pflicht eines jeden, der Verantwortung trägt.
Doch als ich abends, auf dem Weg zu einem Termin mit der SPD, auf NDR-Info ein Statement des verstorbenen Johannes Rau hörte, wie er sich einst über den Amoklauf 2002 in Erfurt geäußert hatte, packte mich das kalte Grausen. Und auch hier waren es nicht Johannes Raus durchaus treffende Floskeln, die mich ratlos machten. Fast wortgleich mit Rau hatte zuvor die Bundeskanzlerin gesprochen und auch Raus Nachfolger, Horst Köhler, fand keine anderen Worte. Was soll man auch anderes sagen? Alles wiederholte sich, ein Déjà-vu in Dauerschleife.
Sagen kann niemand etwas anderes, doch was ist nach Erfurt passiert? Es wurde übereilt eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben: erst die Waffen, an die Jugendliche zu leicht gelangen könnten. Dann die Videospiele, die zur Gewalt ermutigten und die Hemmschwellen senkten. Alles richtig. Und doch nur Ablenkung vom Kernproblem. Denn es sind nicht die Waffen, die töten und auch nicht die Videospiele. Es ist die soziale Kälte, die Kultur des Wegsehens und eine Priorisierung von Wertvorstellungen, die mit Anstand und Moral schwer oder gar nicht vereinbar sind. Dies alles lässt die Jugendlichen, Kinder gar, zu Mördern werden, die in diesem System keine Chance für sich sehen.
Was hat sich an den Rahmenbedingungen für die Jugend seit Erfurt verändert? Sind den Betroffenheitsstatements der Politikerinnen und Politiker Taten gefolgt? Wurden Milliarden in das Bildungssystem gesteckt, um für mehr Chancengleichheit zu sorgen? Gibt es in einem der reichsten Länder der Welt Schulen, in denen das Wasser durch die Decken tropft und wo Unterricht ausfällt, weil es zu wenige Lehrer gibt? Gibt es in unserem Land an jeder Schule Vertrauenspersonen, Schulpsychologen oder Einrichtungen, die sich als Partner der Schüler sehen und die ihnen helfen, wenn es Probleme gibt?
Die Politik kann nicht alles regeln. Doch sie muss Rahmenbedingungen schaffen - und versagt hier permanent auf der ganzen Linie. Wer setzt die Prioritäten und wo werden sie gesetzt? Es ist nicht nur Schicksal, wenn ein junger Mensch ausrastet und sein und andere Leben mit einem Paukenschlag beendet. Stimmt es im Elternhaus nicht, kann, ja muss die Gesellschaft versuchen, dies weitestmöglich auszugleichen. Betroffenheit über schreckliche Taten kann da nur der Anfang sein. Der Anfang einer Kette von Maßnahmen, die solche Ereignisse verhindern helfen. Ganz wird dies nie gelingen können, doch darf diese Tatsache nicht als Alibi für unterlassene Hilfeleistung durch die verantwortlichen Politiker herhalten …
Immer noch empört Grüßt
der RaSt