Wenn ein Gemüt nicht weiß, ob es schockiert oder empört sein soll ...

  • Ist Winnenden hier denn gar kein Thema?


    Die beiden größten menschlichen Fehler: Versäumen und Übereilen.
    (War mein Goethe des Tages)


    Wenn ein Gemüt nicht weiß, ob es schockiert oder empört sein soll, ist es meist fassungslos. So erging es mir, als ich die Statements der Politikerinnen und Politiker nach dem Amoklauf in Winnenden gehört habe. Doch es war nicht der Inhalt der Worthülsen, der mich fassungslos zurückließ. Was kann man zu einem solchen Drama schon anderes sagen, als allen Beteiligten sein Mitgefühl auszusprechen? Dies ist selbstverständlich und die Pflicht eines jeden, der Verantwortung trägt.


    Doch als ich abends, auf dem Weg zu einem Termin mit der SPD, auf NDR-Info ein Statement des verstorbenen Johannes Rau hörte, wie er sich einst über den Amoklauf 2002 in Erfurt geäußert hatte, packte mich das kalte Grausen. Und auch hier waren es nicht Johannes Raus durchaus treffende Floskeln, die mich ratlos machten. Fast wortgleich mit Rau hatte zuvor die Bundeskanzlerin gesprochen und auch Raus Nachfolger, Horst Köhler, fand keine anderen Worte. Was soll man auch anderes sagen? Alles wiederholte sich, ein Déjà-vu in Dauerschleife.


    Sagen kann niemand etwas anderes, doch was ist nach Erfurt passiert? Es wurde übereilt eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben: erst die Waffen, an die Jugendliche zu leicht gelangen könnten. Dann die Videospiele, die zur Gewalt ermutigten und die Hemmschwellen senkten. Alles richtig. Und doch nur Ablenkung vom Kernproblem. Denn es sind nicht die Waffen, die töten und auch nicht die Videospiele. Es ist die soziale Kälte, die Kultur des Wegsehens und eine Priorisierung von Wertvorstellungen, die mit Anstand und Moral schwer oder gar nicht vereinbar sind. Dies alles lässt die Jugendlichen, Kinder gar, zu Mördern werden, die in diesem System keine Chance für sich sehen.


    Was hat sich an den Rahmenbedingungen für die Jugend seit Erfurt verändert? Sind den Betroffenheitsstatements der Politikerinnen und Politiker Taten gefolgt? Wurden Milliarden in das Bildungssystem gesteckt, um für mehr Chancengleichheit zu sorgen? Gibt es in einem der reichsten Länder der Welt Schulen, in denen das Wasser durch die Decken tropft und wo Unterricht ausfällt, weil es zu wenige Lehrer gibt? Gibt es in unserem Land an jeder Schule Vertrauenspersonen, Schulpsychologen oder Einrichtungen, die sich als Partner der Schüler sehen und die ihnen helfen, wenn es Probleme gibt?


    Die Politik kann nicht alles regeln. Doch sie muss Rahmenbedingungen schaffen - und versagt hier permanent auf der ganzen Linie. Wer setzt die Prioritäten und wo werden sie gesetzt? Es ist nicht nur Schicksal, wenn ein junger Mensch ausrastet und sein und andere Leben mit einem Paukenschlag beendet. Stimmt es im Elternhaus nicht, kann, ja muss die Gesellschaft versuchen, dies weitestmöglich auszugleichen. Betroffenheit über schreckliche Taten kann da nur der Anfang sein. Der Anfang einer Kette von Maßnahmen, die solche Ereignisse verhindern helfen. Ganz wird dies nie gelingen können, doch darf diese Tatsache nicht als Alibi für unterlassene Hilfeleistung durch die verantwortlichen Politiker herhalten …


    Immer noch empört Grüßt
    der RaSt

  • hallo RaSt,


    an solchen tagen zappe ich weiträumig um nachrichtensendungen, weil ich es auch unerträglich finde, wie sich politiker einen betroffenheitswettlauf liefern, das für ihre ordnungspolitischen ziele instrumentalisieren u.s.f.


    sehr lustig aber, was auf und um die titanic-seite abgeht; ich finde, auch oder gerade so schlimmes ist nur mit humor zu ertragen. sehr komisch dabei, wie groß andere medien die angeprangerten "geschmacklosigkeiten" abbilden, um sich scheinheilig echauffieren zu können.


    viele grüße,
    michael

  • @ Michael


    Zitat

    an solchen tagen zappe ich weiträumig um nachrichtensendungen, weil ich es auch unerträglich finde, wie sich politiker einen betroffenheitswettlauf liefern, das für ihre ordnungspolitischen ziele instrumentalisieren u.s.f.


    Geht mir ebenso. Ich kann dieses Betroffenheitsgeschwafel nicht mehr hören. Leider kann man ihm kaum entkommen.

  • Zitat

    Denn es sind nicht die Waffen, die töten und auch nicht die Videospiele. Es ist die soziale Kälte, die Kultur des Wegsehens und eine Priorisierung von Wertvorstellungen, die mit Anstand und Moral schwer oder gar nicht vereinbar sind. Dies alles lässt die Jugendlichen, Kinder gar, zu Mördern werden, die in diesem System keine Chance für sich sehen.


    Als gelernter Soziologe und Sozialpsychologe misstraue ich allen Psycholgen, Welttherapeuten und Volkserziehern aufs schärfste.
    Möglicherweise hat die Tat von Winnenden ganz einfach auch etwas mit enormer krimineller Energie zu tun.
    Grundsätzlich ist aber nicht erklärungsbedürftig, warum einer Böses tut, sondern warum 98% es nicht tun: Was ist der Kitt, der soziale Kleister, der uns nicht zu Bestie werden lässt? Insofern ist der sozialerzieherische "soziale Kälte"-Ansatz obzwar kulturkritisch, nicht mit den Fakten vereinbar. Die "Kultur des Wegsehens" : Ein weites Feld ... Aber wozu hätte unsereiner wohl nichts zu sagen :D


    Mir stößt dieser Halbsatz auf

    Zitat

    Dies alles lässt die Jugendlichen, Kinder gar, zu Mördern werden,

    - ja, verflixt: Was lässt die Kinder zu Fußballern und Violinisten werden? Was lässt sie zu ausgefuxten Computerspezialisten und knochenharten Blitzschachspielern werden?

  • Zitat

    Original von Achim
    Grundsätzlich ist aber nicht erklärungsbedürftig, warum einer Böses tut, sondern warum 98% es nicht tun


    Ich sehe das eher statistisch. Selbst unter optimalen Bedingungen ist es unvermeidbar, dass es bei einer Stichprobe von 80 Millionen Deutschen, ein paar wenige gibt, die gefährlich von allgemein akzeptierten Verhaltensweisen abweichen. Seit dem Massaker von Columbine ist nun die Idee in der Welt, das es cool ist, (frühere) Klassenkameraden und Lehrer abzuknallen und nichts schafft diese Idee wieder aus der Welt. Traurig, aber ich fürchte, dieses Problem ist unlösbar.


    (Tatsächlich ist es, wie Achim schon sagte, erstaunlich, dass nicht mehr passiert. Das spricht eigentlich dafür, dass die sozialen Schutzmechanismen doch fast immer funktionieren.)


    Edit: Was evtl. funktionieren könnte, wäre ALLE Fernwaffen in Privathand zu verbieten und effektiv aus dem Verkehr zu ziehen - aber wer weiß, ob das nächste Massaker dann nicht mit anderen Waffen passiert ...

  • Zitat

    Original Achim Grundsätzlich ist aber nicht erklärungsbedürftig, warum einer Böses tut, sondern warum 98% es nicht tun: Was ist der Kitt, der soziale Kleister, der uns nicht zu Bestie werden lässt? Insofern ist der sozialerzieherische "soziale Kälte"-Ansatz obzwar kulturkritisch, nicht mit den Fakten vereinbar.

    :klatsch


    Nur ist es doch viel einfacher, die Frage nach den vielen Faktoren zu stellen, die so etwas auslösen konnten. Und nicht nur die Faktoren selbst, sondern auch noch ihren kausalen Zusammenhang, ihre Intensität und ihr zufälliges oder folgerichtiges Zusammentreffen oder eben ihr zeitliches Auseinanderfallen ... Denn darauf finden wir, Otto-Normal- keine Antwort, ja auch Experten finden nur Ansätze. Und die Folge ist: wir können unsere Erschütterung wieder beiseitelegen, denn eigentlich geht uns ein solches Geschehen ja nicht wirklich an. Wir und unsere Familien, unsere Kinder sind weit entfernt von diesen Faktoren.


    Wenn wir Achims Ansatz, zu überlegen, warum 98 % es nicht tun, in die Tat umsetzen, sind wir alle, außer die paar Amokläufer unter uns, gefragt und gefordert. Und dann hätten wir auch keine Entschuldigung mehr, wenn es uns nicht aufgefallen ist, dass jemand da außerhalb dieses sozialen Kleisters irgendwo in der Luft hängt.


    LG
    Cordula

  • Zitat

    Original von Cordula
    …Und die Folge ist: wir können unsere Erschütterung wieder beiseitelegen, denn eigentlich geht uns ein solches Geschehen ja nicht wirklich an. …
    Cordula


    Die Frage zu stellen, woher diese Erschütterung rührt, ist auch eine nicht ungefährliche. Unser Leben basiert (und funktioniert) in der Regel auf dem Prinzip der Verdrängung. Aber WAS wird da alles verdrängt? Solche (und ähnliche) Taten wie in Winnenden, Kriegsverbrechen, AUCH Filme, die Grenzen des normalen überschreiten (nicht nur, aber auch in Richtung des Bösen und Grausamen, die Diskussion läuft ja auch an anderer Stelle) rühren an, was jeder in sich hat. Und wenn dann jemand plötzlich spürt, dass diese oder jene fürchterliche Tat eigentlich gar nicht so weit ab von ihm selbst liegt, dann ist die Erschütterung plötzlich da. Sicherheitshalber wird sie gleich auf die moralische Ebene geschoben (man ist erschüttert, weil man solch schlimme Sachen verurteilt und verabscheut) - aber ist das wegsehen wirklich die beste Lösung? Möglicherweise sind die genannten 2 % (eine fiktive Zahl, finde ich) nicht mehr in der Lage gewesen dem Druck gegen die Verdrängung standzuhalten.


    Provokative Grüße


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo ihr,


    kurz nachdem ich den Film "Martyrs" vorgestellt hatte (und nebenbei an einer Kurzgeschichte arbeitete, die einen "Knall" als Schluss hat) erreichte uns alle die Meldung vom Amoklauf vorgestern. Ich bin dieses Mal verängstigter als sonst (was auch immer das heißen soll), wie schnell die Realität die Fiktion einholt. Ein Amoklauf ist eines der schlimmsten Geheimnisse des Zusammenlebens vieler Menschen.


    von RaSt:

    Zitat

    Was kann man zu einem solchen Drama schon anderes sagen, als allen Beteiligten sein Mitgefühl auszusprechen?


    Im ersten Moment sicher nichts. In einem zweiten kommt immer, wie hier ja auch, die Frage auf, wie so etwas geschehen konnte. Nach jedem der drei Amokläufer hier in Deutschland (2002, 2006, 2009) haben die Politiker und sogenannten Öffentlichen dasselbe gesagt. Wie soll man auch darauf reagieren, wenn man nicht vorbereitet ist?


    von Achim:

    Zitat

    Grundsätzlich ist aber nicht erklärungsbedürftig, warum einer Böses tut, sondern warum 98% es nicht tun: Was ist der Kitt, der soziale Kleister, der uns nicht zu Bestie werden lässt?


    Und genau dann sollte "man" wieder zurück finden zur ursprünglichen Frage: Warum sind andere nicht integriert? Die Theorien, die sich mit deviantem Verhalten beschäftigten, decken ja ein breites Spektrum ab: vom "einfachen" Sozialisieren bis hin zur Multi-Faktoren-Analyse. Aber der Kernpunkt sollte doch bleiben: Abweichendes Verhalten ist es nur dann, wenn der Diskurs es so bestimmt. Wer weiß, ob es nicht schon Gesellschaften gab, in denen Amokläufer "gesellschaftsfähig" waren, wo die Hinterbliebenen keine Erklärungen bedurften, weil es dort "normal" war. Je häufiger ein Sachverhalt eintritt, desto eher "gewöhnen" sich die Leute daran. In Japan zum Beispiel sind die Vor-den-Zug-schmeißen-Selbstmorde für die fahrende Masse fast nur noch eine Unannehmlichkeit, weil sie länger warten müssen, bis der Zug weiter fährt. Wenn der Wissenschaftler erklären will, wie es zu devianten Verhalten kommt, dann muss er natürlich wissen, was so viele von diesem abhält, aber sein Fokus liegt trotzdem auf den "2%" (in der Tat ein sehr spekulativer Prozentsatz)


    von Christian F:

    Zitat

    Traurig, aber ich fürchte, dieses Problem ist unlösbar.


    Dann wäre das Problem nur noch eine Tatsache, die unabänderlich ist. Solange die Wissenschaften aber Amokläufe (und Ähnliches) als Problem betrachten, sehe ich Hoffnung, nicht nur auf Erklärung sondern auf ganz gezielte präventive Ansätze (ob sie durchführbar wären, ist natürlich noch ein ganz anderer Schnack).


    von Cordula:

    Zitat

    Und die Folge ist: wir können unsere Erschütterung wieder beiseitelegen, denn eigentlich geht uns ein solches Geschehen ja nicht wirklich an. Wir und unsere Familien, unsere Kinder sind weit entfernt von diesen Faktoren.


    Ich denke, das ist ein falscher Ansatz. Schließlich kann es (Amoklauf oder was auch immer) jeden Tag überall in Deutschland passieren. Man hat doch jetzt beim jüngsten Amoklauf gesehen, wie "Unbeteiligte" auf Tims Flucht von ihm erschossen wurden. Ein Amoklauf hat doch primär keine Grenzen, also kann es jeden treffen.


    Zitat

    Unser Leben basiert (und funktioniert) in der Regel auf dem Prinzip der Verdrängung.


    Sehe ich nicht so, unser Leben basiert auf einem Wahrnehmungsfilter, also wir sortieren (bewusst und unbewusst), was wir zulassen und wahrnehmen und was nicht. Somit könnten wir vorbereitet sein auf einen Amoklauf, und nicht immer in dieselbe Erschütterung verfallen, die nach ein paar Tagen wieder vorbei ist. Das heißt nicht, wir sollten uns tagtäglich damit auseinander setzen, aber ab und zu über die Menschen nachzudenken, die von unserem Konzept der Normalität abweichen, könnte uns davor bewahren fassungslos die Sprache zu verlieren.
    Genauso ist der Tod eines jeden ja unvermeidlich, und auch wenn wir jedem ein langes, gesundes Leben wünschen, so sollten wir einfach anerkennen und akzeptieren, dass es irgendwann vorbei sein wird.
    Trauer ist unglaublich wichtig und sollte bei jedem Verlust ausgelebt werden, aber ein Schock zeugt mMn nur von Unvorbereitet-Sein auf Geschehnisse, die zu unserem Alltag gehören, wie eben Gewalt. Und, jetzt mal ehrlich: drei Amokläufe in nur 7 Jahren, allein in Deutschland, das ist doch keine "Ausnahme" mehr. Und ich befürchte, dass diese grausamen Taten an Häufigkeit noch zunehmen werden (meine "realistische" Einschätzung). Darauf sollten wir vorbereitet sein und nicht wie die Politiker immer wieder von vorne anfangen mit: Wir können nicht begreifen, wie...
    Die Amok-Forschung ist sowieso schon weiter gekommen in einem interkulturellen Vergleich. Es gibt Anzeichen, man muss sie nur erkennen. Und das kann man ebenfalls nur, wenn man vorbereitet ist und nicht die schlimmen Tatsachen in der Gesellschaft verdrängt.


    Grüße, Hauke.

  • Zitat

    Original von Achim
    Als gelernter Soziologe und Sozialpsychologe misstraue ich allen Psycholgen, Welttherapeuten und Volkserziehern aufs schärfste.


    Ein gesundes Misstrauen ist da immer angebracht. :)


    Zitat

    Original von Achim
    Möglicherweise hat die Tat von Winnenden ganz einfach auch etwas mit enormer krimineller Energie zu tun.


    Mit welchem Ziel? Das stimmt nur, wenn Du jede Straftat, wie der Duden, schlicht als "kriminell" definierst. Kriminelle Energie setzt doch eine verbotene Handlung voraus, die auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist (Die Rechtsanwälte mögen diese Definition bitte gnädig gelten lassen). Ist es von Vorteil, sich umzubringen? Ich halte einen Amoklauf für eine Verzweiflungstat.


    Zitat

    Original von Achim
    Grundsätzlich ist aber nicht erklärungsbedürftig, warum einer Böses tut, sondern warum 98% es nicht tun: Was ist der Kitt, der soziale Kleister, der uns nicht zu Bestie werden lässt? Insofern ist der sozialerzieherische "soziale Kälte"-Ansatz obzwar kulturkritisch, nicht mit den Fakten vereinbar.


    Du hast völlig Recht: Was interessieren uns die Aussenseiter - erklären wir lieber das "normale", reale Leben der anständigen Menschen. Guten Tag, Herr Oettinger.
    "Soziale Kälte" ist eine Erfindung von Weltverbesserern und Psychologen - wie gut eine Gesellschaft ohne soziales Netz funktioniert, sehen wir ja am Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist zwar bedauerlich, wenn ein Aussenseiter einen "normalen" ins Jenseits befördert, doch so ist halt das Leben. "Böses" ist genetisch vorbestimmt - vielleicht können wir diese Gene aber bald entfernen. Bestimmt wird dieses Experiment zuerst in Baden-Württemberg gelingen; da sind die Menschen ja vom Grundsatz her "normaler" als beispielsweise in Sachsen-Anhalt.


    Der Kitt, der soziale Kleister, der uns nicht zu Bestien mutieren lässt IST das soziale Netz, dass uns umspannt; oder eben nicht.


    Zitat

    Original von Achim
    Mir stößt dieser Halbsatz auf

    - ja, verflixt: Was lässt die Kinder zu Fußballern und Violinisten werden? Was lässt sie zu ausgefuxten Computerspezialisten und knochenharten Blitzschachspielern werden?


    Selbstverständlich sind Fußballer, Violinisten, Computerspezialisten und knochenharte Blitzschachspieler noch nie als Mörder oder Amokläufer aufgefallen - sondern alles normale und somit anständige Bürger in unserer Gesellschaft.


    Was einer wird hat nichts damit zu tun, wie jemand ist.


    Wenn wir uns nicht bald intensiver um die Aussenseiter kümmern, werden die normalen bald die Aussenseiter sein und dann wird es richtig spannend. Deine Argumentation, lieber Achim, ist wie ein Statement aus der Politik: Das sind alles nur bedauerliche Randerscheinungen, die mit dem richtigen Leben nicht das Geringste zu tun haben. Und das ist, Entschuldigung, schlicht und einfach Blödsinn.


    Freundlich provoziert der
    RaSt

  • von RaSt:

    Zitat

    Das sind alles nur bedauerliche Randerscheinungen, die mit dem richtigen Leben nicht das Geringste zu tun haben. Und das ist, Entschuldigung, schlicht und einfach Blödsinn.


    Dieser Aussage stimme ich 100% zu. Deviantes Verhalten gibt es nur, weil es "Normalität" gibt. Der Diskurs über deviantes Verhalten könnte sich aber jederzeit ändern und irgendwann könnten z.B. die "Spießer" zu den Außenseitern gehören. Ich mag den Spruch zwar nicht, aber er trifft auch teilweise in der Wissenschaft zu: Ausnahmen bestätigen die Regel. Ohne Ausnahmen gäbe es keine Regel, darum sind sie untrennbar miteinander verbunden und sollten IMMER gemeinsam betrachtet werden.


    Abgesehen davon ist es zu einfach von krimineller Energie zu sprechen. Fast immer wird bei kriminellem Verhalten von einem zielgerichteten gesprochen, darum ist es besser, das zu verallgemeinern mit abweichendem Verhalten, worunter eben alles fällt, was nicht unserem Konzept der Normalität entspricht, was aber auch bedeutet, das Normalität ein Kartenhaus ist. Auch dieser Tatsache sollte man sich bewusst sein, abgesehen von meinen in der letzten Eintragung ausgeführten Punkten.

  • Zitat

    Original von Michael Höfler
    sehr lustig aber, was auf und um die titanic-seite abgeht; ich finde, auch oder gerade so schlimmes ist nur mit humor zu ertragen. sehr komisch dabei, wie groß andere medien die angeprangerten "geschmacklosigkeiten" abbilden, um sich scheinheilig echauffieren zu können.


    Sarkasmus ist die verzweifelte Form der Ironie - doch auch ich habe über die gewählte Grafik von "Titanic" lachen müssen! Und auch der Text: ... Realschule holt auf ... Für Nichtbetroffene ein gelungenes Wortspiel.


    Viele Grüße
    RaSt

  • Ich bin ja für Meinungsfreiheit etc. Aber, sorry, das ist einfach respektlos. Ich weiß, es ist Satire, so wie heute auch viel Satire um den 11.September, Irak und Guantanamo Bay geliefert wird, nicht zu vergessen Holocaust und Drittes Reich, aber wie RaSt sagt:

    Zitat

    Sarkasmus ist die verzweifelte Form der Ironie


    Wer aber noch am selben Tag so etwas schreiben kann, ist in meinen Augen ein erbärmlicher Augenverschließer, der Aufmerksamkeit erheischen will. Berechtigt oder nicht, will ich gar nicht fragen, aber was diese Satire schafft ist Abstand zur Tragödie für diejenigen, die NICHT betroffen sind und das ist grundsätzlich mMn ein falscher Ansatz. Trauerarbeit ist verdammt nochmal wichtig, da kann nicht einfach schon ein Witz gemacht werden, auf Kosten der Opfer wohlgemerkt. Abgesehen davon gibt es nur eine Gruppe von Menschen, die wirklich das Recht hätten, solche Witze zu machen: Die Angehörigen der Opfer.

  • Zitat

    Original von Hauke
    Abgesehen davon gibt es nur eine Gruppe von Menschen, die wirklich das Recht hätten, solche Witze zu machen: Die Angehörigen der Opfer.


    Wie denn das?


    Aber so ein Amokankündigungsformular käme so macher Beamtenseele doch bestimmt gerade richtig ...

  • Zitat

    Original von Petra


    Aber so ein Amokankündigungsformular käme so macher Beamtenseele doch bestimmt gerade richtig ...


    Genau, vor allem, wenn dann noch eine Gebühr fällig wird


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Wie denn das?


    Eben gar nicht. Sie würden das ja auch nicht wollen, also soll man da die Klappe halten (sorry).


    Ich habe mal gehört, erst wenn man über Hitler Witze machen kann, wird er in seiner ganzen Erbärmlichkeit vorgeführt. Angefangen bei "Der große Diktator" bis zu "Mein Führer" wurde es ja auch immer wieder getan (neuestens jetzt auch in "Inglorious Basterds" von Tarantino), aber auf der Seite, die ich gerade bei Titanic gesehen habe, wird sich nicht lustig über den Täter gemacht (das Amokankündigungsformular ist ja schon ein berechtigter Satire-Witz und dazu habt ihr recht), sondern über die Opfer-Statistik! Das meinte ich, nicht das Formular. Und diese Opfer-Statistik, von wegen Realschule holt auf, ist einfach geschmacklos, besonders so kurz danach.
    Mache dich lustig über den Täter, ist das Geschmackssache, mache dich lustig über die Opfer, ist das geschmacklos.

  • Hallo ihr Lieben,


    die Sache hat für mich zwei Ebenen. Meine eigene Gemütslage, die zu äußern wenig Sinn hätte, weil es eine Trauerarbeit ohne Verbindung zu wirklichen Menschen ist, eine, die ich in ihrer Geschwindigkeit dem Medienzeitalter zu verdanken habe, weil ich nicht auf den Bänkelsänger warten muss, der mir die Geschichte erzählt, sondern den Bildern kaum entkommen kann. Dabei sind mir die Opfer oder Täter nicht näher oder entfernter, als sie es in früheren Zeit gewesen wären.


    Die andere ist die allgemeine Sinnsuche, für mich eine Fluchtreaktion, nun etwas zu unternehmen, das zukünftig solche Ereignisse verhindert. Ich verhehle nicht, dass ich auch davon träume, aber ich sehe keinen Weg dahin. Kein rechtliches System hat lange genug gehalten, um evolutionäre Folgen zu hinterlassen. Keines kann erklären, warum es neben den regelhaften Rechtsverletzungen solche Ausbrüche gibt, die durch ihr schieres Ausmaß ein Entsetzen erzeugen, das der Fassungslosigkeit in Aktionismus zu entkommen sucht. Das ist menschlich. Nur weiter bringt es uns nicht.


    Also akzeptieren, das das immer wieder passieren wird?


    Jein. Kein langgezogenes, sondern ein eindeutiges.


    Ja,
    weil es genauso sein wird. Weil es dazu eben keine Waffen, Egoshooter oder Einsamkeiten braucht, wie die Geschehnisse in Salem zeigen, wo drei Mädchen nur Aberglauben und Furcht der anderen benutzten, um über Monate viele Menschen in den Tod zu treiben. Nicht gegen alte Männer, die im paranoiden Schub über eine Schule herfallen (der erste Amoklauf an einer deutschen Schule, der als solche wahrgenommen wurde, fand 1964 in Volkhoven statt, mit einem selbstgebauten Flammenwerfer, damals hat man dann über den freien Verkauf von Chemikalien "diskutiert)". Dieser Täter passt so überhaupt nicht in unsere jetzigen Vorstellungen von jung, männlich, Egoshooter, dass er häufig in Vergessenheit gerät), nicht gegen junge Männer, die auch Columbine im Kopf haben können, aber nicht müssen.


    Das Phänomen selbst dürfte älter als der Name sein und der reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Dass soziale Kontrolle allein nicht greift, darauf deutet vielleicht hin, dass es gerade eine Gesellschaft mit extremer sozialer Kontrolle war, die den Begriff erfinden musste. Aber wie gesagt, solche Verbindungen ohne entsprechende Untersuchung des Materials zu ziehen, ist immer gewagt.


    Nein,
    weil es wichtig ist, so viel wie möglich zu verstehen, um vielleicht doch einmal im richtigen Moment reagieren zu können, wohl wissend, dass das ein Zufall sein wird, ein glücklicher dazu. Denn es ist wirklich eine Frage der Wahrscheinlichkeit auf den einen Egoshooter unter Milliarden zu treffen, der sich in der "grüblerischen Phase" befindet, oder einen von Milliarden Eigenbrödlern, oder Veteranen oder, oder,...


    Und hier sind Fallstudien über/mit die/den Täter/n ein realistischerer Zugang, als sich einer umfassenden Verhaltensstudie von 8 Milliarden zu widmen. Erstens steht eben keiner außerhalb des zu untersuchenden Systems, was Interaktionen zwangsläufig werden lässt, zweitens haben wir keine Methoden, die sicherstellen, dass das Abbild, das Fragebogen wie Befragungen erzeugen, auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprechen und nicht etwa nur Abbildung der Wunschvorstellungen der Befragte sind, drittens wäre das Referenzsystem ja nicht integer, weil kaum abzuschätzen ist, welches überhaupt gelebte Wirklichkeit wiederspiegelt, von den kulturellen Unterschieden mal ganz abgesehen.


    Nur sollte die Forschung an dem Phänomen eben ohne Rummel, Aufregung und Zorn vonstatten gehen, im wissenschaftlichen Diskurs. Keine Sorge, mir ist klar, dass das kein toter Raum ist, Eifersucht, Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis auch da fröhliche Urständ feiern, aber die Wahrscheinlichkeit ist in diesem Umfeld einfach höher, dass neben all den menschlichen Gefühlen auch die Kognition eine Chance erhält. Mehr ist für mich nicht zu erwarten.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Original von Hauke
    Ich habe mal gehört, erst wenn man über Hitler Witze machen kann, wird er in seiner ganzen Erbärmlichkeit vorgeführt. Angefangen bei "Der große Diktator" bis zu "Mein Führer" wurde es ja auch immer wieder getan (neuestens jetzt auch in "Inglorious Basterds" von Tarantino), aber auf der Seite, die ich gerade bei Titanic gesehen habe, wird sich nicht lustig über den Täter gemacht (das Amokankündigungsformular ist ja schon ein berechtigter Satire-Witz und dazu habt ihr recht), sondern über die Opfer-Statistik! Das meinte ich, nicht das Formular. Und diese Opfer-Statistik, von wegen Realschule holt auf, ist einfach geschmacklos, besonders so kurz danach. Mache dich lustig über den Täter, ist das Geschmackssache, mache dich lustig über die Opfer, ist das geschmacklos.



    hallo hauke,


    es ist ein (durchaus ambivalenter) witz über die opfer-statistik, nicht über die opfer. sowas kann leider an jeder schule vorkommen, von daher trägt die unterscheidung gymnasium vs. realschule nicht viel dazu bei zu erklären, warum bei einem individuum sämtliche sicherungen und meta-sicherungen durchbrennen.


    viele grüße,
    michael

  • Hallo,


    ich würde gerne an einen von Judiths Sätzen anknüpfen (ich hoffe, ich habe nicht überlesen, dass das unter diesem Gesichtspunkt schon lange im Forum diskutiert wird):


    Zitat

    Nur sollte die Forschung an dem Phänomen eben ohne Rummel, Aufregung und Zorn vonstatten gehen


    Da liegt für mich auch einer der Gründe, warum sich Katastrophen dieser Art immer wiederholen, wohlgemerkt EINER der Gründe, nicht der einzige:


    Das alles wird zu sehr an die Öffentlichkeit gezerrt. Wer auch immer in seinem Leben das Problem hat, dass er sich nicht beachtet genug fühlt und dieses Problem sich bei ihm zu einer massiven seelischen Störung entwickelt, der fühlt sich durch den Medienwirbel geradezu bestätigt.
    Ein einziges Mal bekommt man Aufmerksamkeit. Ich meine manchmal, es wäre schlauer, wenn sich die Medien eine Art Selbstzensur auferlegen würden und das alles nicht immer wieder derartig breit ausbreiten würden.


    Natürlich MUSS darüber diskutiert werden. Aber was neben den Diskussionen passiert, das ist eben schlimmster voyeuristischer Journalismus, und der kann sich meiner Ansicht nach verheerend auswirken.


    Liebe Grüße
    Anja