Kriegserklärung an die Leser
Wenn Erholung bei der Lektüre bedeutet, dass man endlich auf zwei Sätze stößt, die man beinahe sofort versteht (also nach nur zwei- bis dreimaligem Lesen), dann hält man Dietmar Dath in den Händen. Wenn man ein Gefühl hat, vergleichbar mit dem, als würde man sich mit den dritten Zähnen, wahnsinnig vor Hunger, an einem versteinerten Brot versuchen - und schließlich ein paar Brocken herausgebrochen bekommen, die sich dann kaum herunterschlucken lassen, wobei sie die Speiseröhre aufreißen - dann liest man „Die Abschaffung der Arten“. Vergesst alle Vergleiche auf dem Cover, in der Beschreibung und im Klappentext, den ganzen Humbug mit Charles Darwin, Philip K. Dick und George Orwell, die völlig unzutreffende Zusammenfassung und all das. Und Douglas Adams, der da auch irgendwo erwähnt wird - dessen Zeug ist gegen dieses Buch, was „Die kleine Raupe Nimmersatt“ im Vergleich mit Kafkas Gesamtwerk ist. Denkt eher an die wirklich schwierigen Passagen von David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“, diesem tausendfünfhundert-Seiten-Trumm quasi ganz ohne Zusammenhang, an den „Ulysses“ oder an Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, also die Sorte von Büchern, die jeder zu Hause hat, der sich kulturbewusst gibt, ohne mehr als zwei, drei Seiten gelesen zu haben, weil das einfach nicht geht. Was vermutlich auch die Juroren feststellen mussten, die Daths „Roman“ trotzdem bis auf die Shortlist für den Buchpreis 2008 gehievt haben, und all die Feuilletonkläuse, die in der Werbung für die Schwarte zitiert werden. Das ist alles nur Ulk. „Die Abschaffung der Arten“ zu lesen, das ist so, wie sich der Koyote fühlen muss, wenn ihm wieder mal ein hausgroßer Fels auf den Kopf donnert, weil der Roadrunner die Falle natürlich längst durchschaut hatte.
Worum geht es? Na ja, äh, hüstel. Was ich verstanden habe: In so ungefähr 400 Jahren ist die Herrschaft der Menschen, die „Langeweile“, überwunden, die Tiere haben die Evolution in die Hand, Pardon, in Tatze/Pfote/Huf genommen und sich - gesteuert, wie man später erfährt - in „Gente“ verwandelt, sprachfähige Lebewesen, die noch tierische Körper besitzen, aber eigentlich nach Lust und Laune in die Anatomie eingreifen können. Die wenigen Menschen, die übrig sind, haben die Gente ihrerseits genetisch dergestalt manipuliert, dass sie keine Hände mehr haben, so dass aus ihnen endlich die brutalen und verblödeten Honks geworden sind, die sie immer schon waren. Aber auch „Bene Gente“, die vorherrschende Ideologie, ist nicht gut genug, es muss immer weiter gehen, die Regulierungs- und Selbstvervollkommnungslust kennt kein Ende, und auf einem anderen Kontinent, mit dem möglicherweise das ehemalige Amerika gemeint ist, sind statt der Gente megatranszendente, auf Menschenfrauen basierende Keramikwesen entstanden oder im Entstehen begriffen, die auch noch multidimensional unterwegs sind - und zudem ziemlich blutrünstig. Über die Gente herrscht Cyrus Blabla Undnochsiebzehnnamen Golden, der mehrere hundert Jahre alte Löwe, der möglicherweise längst kein Löwe mehr ist, und dessen Frau, die schließlich, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Art Wald ist, die ganz andere Pläne hat, und die promiske Tochter sowieso. Namensgebung, Szenenabfolge, Dialogaufbau und sprachliche Gestaltung sind so ungeheuer kompliziert, dass man den Überblick schon verliert, bevor man richtig hingeschaut hat, und dann spielen auch noch drei tierische Helden (ein weißer Tiger, ein Tinkerpferd und ein Marder) eine besondere Rolle, aber plötzlich endet alles und geht auf dem Mars und auf der Venus weiter, in archaischen Szenarien, hunderte von Jahren später. Es gibt nie und an keiner Stelle irgendwas, an dem man sich als Leser festhalten könnte, die Erklärungen sind spröde und überdreht und dann auch wieder ungeheuer klug, was grundsätzlich, um nicht missverstanden zu werden, für das gesamte Buch gilt, das von einer Schlauheit und Belehrtheit und sprachlichen Kunstfertigkeit zeugt, die wirklich beeindruckt, die aber so sperrig kanalisiert wurde, dass sich Menschen mit einem IQ unter 300 wie Neandertaler vorkommen, die eine Saturn V zum Mond steuern sollen. Ich vermute, dass ein durchschnittlicher Satz ungefähr ein Dutzend Verweise und Andeutungen enthält, die man mit profunden Kenntnissen in Mythologie, Literaturtheorie, Wissenschafts- und Religionsgeschichte verstehen könnte, aber an die kommt man so gut heran wie an Hinweise in einem „Escape Room“, der mit Beton ausgegossen wurde. Wobei die Frage nach dem Wozu noch überhaupt nicht gestellt wurde. Nach allem, was ich über das Buch gelesen habe, ist sie auch von Menschen, zu denen ich aufblicken würde, wenn ich müsste, bislang nicht beantwortet worden. „Die Abschaffung der Arten“ ist ein Un-Buch, denn der über 500 Seiten lange Text sieht nur so aus, als wolle er gelesen werden. Das Gegenteil ist der Fall, und unterm Strich ist dieser Grenzganz zwischen Genie und Wahnsinn ganz eindeutig auf der falschen Seite heruntergekippt.
Und, dennoch. Nach dem Zuschlagen des Schmökers stellt sich eine Ahnung ein, ein Gefühl davon, worum es gegangen sein könnte, nämlich um das, wonach zu streben sich lohnt, um die Frage, was Merkmale mit Glück zu tun haben, um Gleichheit und Widersprüchlichkeit, um den Sinn von Evolution und ihre Ziele. Da Dietmar Dath bekennender Kommunist ist und regelmäßig zur Wahl der DKP aufruft (gibt’s die eigentlich noch?), war ich skeptisch, ob es sich letztlich um als solche nicht direkt erkennbare Indoktrination handeln könnte, aber dafür ist das Ding zu vielschichtig, und die Leute, die es verstehen könnten, sind vermutlich alle schon Kommunisten. Man kann es also ungefährdet zu lesen versuchen. Viel Spaß dabei.
ASIN/ISBN: 3518461451 |