• Jemand entscheidet sich dafür, die Handlung seines Romans im Jahr – sagen wir – 1956 anzusiedeln. Es ist die Zeit, die ihm für das, was er erzählen will, am geeignetsten erscheint. Nun sind in diesen vergangenen sechs Jahrzehnten einige Paradigmenwechsel aufgetreten. Nicht nur irgendwelche, wissenschaftliche Theorien/Blickwinkel, die sich geändert haben, sondern solche, die mit dem, was er erzählen will, unmittelbar zusammenhängen. „Darf“ sich der Autor da überhaupt auf das Jahr 1956 beschränken oder „muss“ er auch in das Jetzt vorgreifen? („Darf“ und „muss“ nicht von ungefähr in Anführungszeichen; er darf natürlich alles und muss nichts.) Die handelnden Personen agieren 1956 in den ihnen von der Zeit auferlegten Grenzen (inkl. persönlichen, vom „Zeitgeist“ abweichenden Einstellungen). Kein Problem bei einem zeittypischen Krimi, einer Liebesgeschichte. Da braucht’s keinen Vorgriff. Und sonst? Wenn es z. B. um nationalsozialistische Täterschaft geht? „Dämonisierung“, „Viktimisierung“ und „Diversifizierung“ sind wissenschaftliche Auffassungen nationalsozialistischer Täterschaft (grob gesagt) in den 1940-er und 1950-er Jahren, ca. 1960 bis 1990, und ab da bis heute. Wenn sich einer also mit der erzählten Zeit nur auf 1956 beschränkt, begibt er sich damit doch in ein sehr enges Korsett? Und nimmt sich die Möglichkeit einer rückblickenden Betrachtungsweise, wie sie *jetzt* möglich wäre – oder nicht?

  • Monika und ich haben uns in unseren Puff & Poggelromanen (inzwischen 3, der 4. ist in Arbeit) in die 50er Jahre begeben. 1951 - 1953 und 1955. Unsere selbst gesetzte Vorgabe war, so authentisch wie möglich zu sein, es aber für "heutige" Leser annehmbar zu machen, d.h. nicht den Stil der 50er Jahre auch noch zu tradieren. Ich glaube, das haben wir halbwegs hinbekommen, zumindest spiegeln uns das die meisten Leserkommentare, die es mal schriftlich, immer wieder auch mündlich bei den Lesungen gibt. Die Frage, was wir dürfen oder nicht, haben wir vorher für uns selber geklärt und prüfen das jeweils immer neu ab. Ein allgemeines "Autor darf, oder Autorin darf nicht" gibt es m.E. nicht.


    Vielmehr stellt sich doch die Frage, was man erreichen will. Wenn "erinnernde Rückblicke" gewünscht sind aus der Perspektive eines "heute", dann macht man das eben. Und wenn man das nicht will, erzählt man direkt aus der Zeit.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Bei mir geht es nicht um einen erinnernden Rückblick, sondern um einen anderen Blickwinkel - durch eine Person, die "damals" noch gar nicht geboren worden war. Die Geschehnisse, um die es geht, bleiben natürlich die selben. Aber die Rezeption ist heute eine andere. Und wenn ich diesen "heutigen" Blickwinkel unterließe, fehlte was - fürchte ich, jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem das meiste ohnehin noch Theorie ist.

  • Die Frage, die sich mir stellt ist:


    Wenn sich einer also mit der erzählten Zeit nur auf 1956 beschränkt, begibt er sich damit doch in ein sehr enges Korsett? Und nimmt sich die Möglichkeit einer rückblickenden Betrachtungsweise, wie sie *jetzt* möglich wäre – oder nicht?


    Aber offenbar ist mir nicht gelungen, das Problem verständlich darzustellen ... :bye

  • Eigentlich nicht. Die andere Variante wäre, strikt in der Vergangenheit zu bleiben und allein dem Leser den heutigen Blickwinkel zu überlassen.


    Wenn es eine Person in der Geschichte gibt, die in diese Zeit schaut aus einer heutigen Perspektive, dann sind beide Zeitebenen zwingend zu berücksichtigen. Wenn du nur eine Geschichte erzählst, die in der Vergangenheit spielt und keine Person in einer anderen Zeit, dann ist es nicht nötig, einen weiteren Gesichtspunkt einzubringen. Man kann es machen, sozusagen als Trick, aber man muss es nicht.


    Der Leser spielt keine Rolle. Der hat immer den "heutigen Blickwinkel".


    Petra, ich habe den Eindruck, du machst es Dir gerne selbst etwas kompliziert. Vielleicht weil Dir etwas, was zu einfach daher kommt, nicht lohnenswert erscheint?

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  • ich habe den Eindruck, du machst es Dir gerne selbst etwas kompliziert. Vielleicht weil Dir etwas, was zu einfach daher kommt, nicht lohnenswert erscheint?


    Mag sein, dass ich zu komplizierten Konstruktionen neige, die mir dann womöglich irgendwann über den Kopf wachsen.
    Eine Frage wie diese ausloten zu wollen und nicht einfach drauflos zu schreiben, sollte darunter aber nicht fallen, meine ich.

  • Ich habe eine Frage gestellt bzw. nach Meinungen gefragt. Du, als Einziger, der geantwortet hat, bist der Meinung, ich hätte mir die Antwort schon selber gegeben - obwohl ich das verneint habe. Deshalb - weil offenbar keiner was dazu zu sagen hat (was natürlich völlig legitim ist): "gebe ich es auf".

  • Ich habe eine Frage gestellt bzw. nach Meinungen gefragt. Du, als Einziger, der geantwortet hat, bist der Meinung, ich hätte mir die Antwort schon selber gegeben - obwohl ich das verneint habe.…


    In Posting (3) hast Du Dir die Antwort gegeben. Zumindest nach meinem Verständnis.


    In Posting (8) habe ich das nach meinem Verständnis noch einmal gespiegelt.

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  • Hallo Petra,
    ich habe Deine Frage noch nicht richtig verstanden. Willst Du eine Geschichte in den 50ern schreiben, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt und hast Sorge, dass ohne einen Blickwinkel von heute etwas verloren geht bzw. falsch verstanden werden könnte?
    Ich glaube, es ist schwer das so theoretisch zu beantworten, wenn man nicht weiß, was genau Du erzählen willst. Ich denke, im Prinzip geht beides, aber es kommt eben sehr darauf an was Du erzählen willst. Willst Du die rückblickende Betrachtungsweise? Und wofür wäre diese für die Geschichte wichtig? Was würde verloren gehen, wenn Du diese rückblickende Betrachtungsweise nicht hättest? Wäre es dann immer noch die Geschichte, die Du erzählen wolltest? Was würde die Geschichte gewinnen, wenn sie "nur" in der von Dir vorgegebenen Zeit spielen würde? Bewusste Beschränkung kann ja auch ein Gewinn sein für eine Geschichte.
    Vielleicht geht meine Antwort jetzt total an Deiner Frage vorbei. Das ist jetzt alles sehr im theoretischen, sorry.
    Viele Grüße,
    Heidrun

  • HWillst Du eine Geschichte in den 50ern schreiben, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt und hast Sorge, dass ohne einen Blickwinkel von heute etwas verloren geht bzw. falsch verstanden werden könnte?


    Hallo Heidrun,


    Du hast mich goldrichtig verstanden! (Wobei ich die Gefahr weniger sehe, mit der Geschichte falsch verstanden zu werden als dass etwas verlorenginge.)


    Ich möchte eine Geschichte in einer Zeit ansiedeln, die (nicht nur in der Wissenschaft, sondern) gesellschaftlich anders mit der Problemstellung umgegangen ist. Dass ich diese Zeit wähle, ist unabdingbar – Jahrzehnte später wären diese Personen schlicht nicht mehr am Leben. Heute blicken folgende Generationen anders auf das Thema. Stark verkürzt: Durch die räumliche Nähe zu den Tätern suchten Nicht-Täter in den Nachkriegsjahren größtmögliche Distanz. Jemand, der sich aktiv schuldig gemacht hat, erschien damals als Böses schlechthin, als pathologisch, als das Gegenteil zu den Normalen und Gesunden (= Dämonisierung). Dem folgte eine Zeit, in der man stark an psychologischen Mechanismen wie Gruppendruck und Gehorsamsbereitschaft festhielt (= Viktimisierung). Das war halt „die Zeit“. Heute sieht man (Wissenschaft/Gesellschaft) das nicht mehr so, schon allein deshalb, weil diese Nähe weg ist. Heute fällt es schwer, Schuld unter „Psychopathologie“ oder „tragische Verstrickung“ abzulegen. Seit ca. 1990 wird auch mehr nach Schuld der „kleinen Leute“ gefragt.


    Natürlich gab es damals und gibt es heute Menschen, die das anders sahen – der gesellschaftliche Konsens war aber der Beschriebene. Wenn ich jetzt eine Geschichte in den 50ern ansetze, muss ich dem meines Erachtens Rechnung tragen. Ein heutiger Leser, der einer anderen Generation angehört, mehr noch, ich als Verfasser, der einer anderen Generation angehört, bliebe da aber in gewisser Weise der Zeit verpflichtet. Deshalb mein Gedanke: Kann das gut gehen? Muss eine „Jetzt-Person“ hinein? Oder kann diese Funktion auch schon eine „Damals-Person“ erfüllen, die halt „anders tickt“? Oder …


    Es bleibt immer noch theoretisch – allein, weil ich selbst auch nicht sehr weit fortgeschritten bin. Deine Fragen haben mir aber schon geholfen. Ich werde mir das noch durch den Kopf gehen lassen. Vielen Dank dafür!


    Gruß,
    Petra

  • Liebe Petra,
    ich finde das Thema spannend und habe selbst auch - in verschiedenen Romanen und einem (neuen) Sachbuch darüber geschrieben. Ich verstehe allerdings nicht genau, was du möchtest, bzw. worin dein Problem liegt.
    Vielleicht wird es leichter verständlich, wenn du hier mehr von deiner Geschichte (des bisher Geschriebenen) offenbar oder sie denen, die dir mit Rat und Tat zur Seite stehen möchten, mailst.
    Aus meiner Sicht ist es so: wenn du aus der Sicht des Jahres 1956 schreibst, hat da nichts zu suchen, was an späteren Erkenntnissen auftritt. Um es kurz zu sagen: auch 1956 war noch die Zeit des Vergessenwollens, des Wiederaufbaus, des Neuanfangs. Und in den beiden deutschen Staaten wurde einiges unterschiedlich gesehen und gedacht. Die Normen und Werte waren traditionell, teils geprägt von der Naziideologie.


    Gruß
    Maryanne

  • Liebe Petra, ich habe diese Geschichte geschrieben ("Die Unschuld der Kastanienblüten"), der Roman erscheint im Frühjahr 2017. Ich berichte über den Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart, wobei der Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit liegt und sich mit den Problemen des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Die beiden Protagonisten sind zu der Zeit Kinder. Mit ihrem Heranwachsen ändert sich natürlich ihr Verständnis der Probleme. Sie bleiben aber immer präsent. Hanno ist Jude, und er wächst mit dieser Belastung auf, wird sie immer spüren, und je erwachsener er wird, desto mehr schärft sich sein Blick auf sein Anderssein. Der Zeitgeist ist nie starr, auch er ändert sich. Das berücksichtige ich natürlich. Auch die Wirkung auf die handelnden Personen ist dem unterschiedlichen Zeitgeist unterworfen.
    Schreib deinen Roman, so wie du es für richtig hältst. Eine testgefügte Regel gibt es nicht. Lass Personen und Zeit miteinander korrespondieren, sich verändern, reagieren. Dann spielt es keine Rolle, welcher Epoche oder Zeitströmung du den Vorzug geben möchtest.
    Liebe Grüße
    Bettina


  • Vielleicht wird es leichter verständlich, wenn du hier mehr von deiner Geschichte (des bisher Geschriebenen) offenbar oder sie denen, die dir mit Rat und Tat zur Seite stehen möchten, mailst.
    Aus meiner Sicht ist es so: wenn du aus der Sicht des Jahres 1956 schreibst, hat da nichts zu suchen, was an späteren Erkenntnissen auftritt. (...) Die Normen und Werte waren traditionell, teils geprägt von der Naziideologie.


    Hallo Maryanne,


    der Text ist noch nicht weit genug fortgeschritten, um ihn vorzustellen. Ich sehe aber ein, dass die Frage an sich zu theoretisch ist. Um Erkenntnisse geht's mir weniger als um Auffassungen und um Raum, den gesellschaftliche Normen lassen oder halt beschneiden.
    Hier wäre ohnehin nicht der richtige Platz für Textauszüge - aber vielleicht irgendwann im BT-Bereich.

    Gruß,
    Petra

  • Hallo Bettina,


    spannend, Dein nächstes Buch! Obwohl das - wenn man sich die Neuerscheinungen anschaut, die sich mit dem Thema befassen, nicht der Fall ist, fühle ich mich mit diesem Projekt eher wie einer, der im lange Vergangenen wühlt und das - besonders bei den Problemen, die sich *heute* darstellen - nicht sollte.


    Vielen Dank Euch beiden!


    Gruß,
    Petra