Jacob & Wilhelm Grimm
Kinder- & Haus-Märchen
Die »Kleine Ausgabe« von 1825
mit einem Nachwort von Peter Rühmkorf
Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins
Über Märchen existieren viele Vorurteile: »Erzähl keine Märchen«, sagt man, wenn man jemanden unterstellt, dass er die Unwahrheit sagt. Das Märchen Kinderkram sind, ist eine landläufige Meinung. Das schlimmste Vorurteil aber ist, dass Märchen immer ein Happy-End haben. Das führt dazu, das in Verfilmungen ein solches angedichtet wird, sollte in einer Märchenvorlage eins fehlen. Dramatischster Fehltritt ist »Arielle, die Meerjungfrau«, basierend auf dem Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Vermutlich dauerrotiert er in seinem Grab heute noch darüber, dass seine Protagonistin sich nicht in Schaum auflöst und zum Luftgeist wird, sondern ein Leben als Mensch geschenkt bekommt.
Nicht um Kunstmärchen ging es den Grimms, als sie mit ihrer Märchensammlung anfingen, sondern um Volksmärchen, rein und unverfälscht dem Volksmund entnommen. Angeregt von Clemens Brentano und Achim von Arnim begannen sie Märchen zu sammeln und aufzuzeichnen, wobei ihnen Freunde nicht unwesentlich halfen, so etwa die beiden Schwestern von Droste-Hülshoff. Ganz unverfälscht, ging es dann aber doch nicht. Man griff ein, glättete oder kürzte heraus (etwa die Einhornszene im tapferen Schneiderlein, die in der ersten Auflage der Märchen noch enthalten, später aber entfernt wurde). Zwischen 1812 und 1815 erschienen die »Kinder- und Hausmärchen« in zwei Bänden, trafen aber nur auf geringe Resonanz. Wenige hundert Exemplare konnten verkauft werden. Mit der kürzeren Ausgabe, die Wilhelm Grimm im Jahre 1825 besorgte, setzte jedoch der Erfolg ein. Sie enthält die meisten derjenigen Märchen, die inzwischen weltbekannt sind. Bei Haffmanns gibt es diese Ausgabe nun wieder in der Originalfassung, in einem wunderschönen kleinen, gelb eingebundenen Band, mit Lesebändchen und einem erfrischenden Nachwort von Peter Rühmkorf. Der ist nicht mit allem einverstanden, was in den Märchen so erzählt wird, verreißt dabei aber nicht all dies, wie es in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rücksichtslos gemacht wurde, sondern stellt die Bedeutung dieser Sammlung angemessen dar, lobt auch Wilhelm Grimms Sprache, wenngleich er damit auch auf die Distanz zum tatsächlichen »Volksmund« hinweist.
Die Sammlung beginnt mit dem »Froschkönig oder der eiserne Heinrich«, einem Märchen, das bei genauer Betrachtung keineswegs auf das »glückliche Ende« fixiert werden darf. Allzu sperrig ist, was in dem Märchen passiert und ungeklärt der aus dem Nichts auftauchende Heinrich mit den drei eisernen Bändern, die er um das Herz gelegt hatte. Tiefenpsychologen, beginnend mit Carl Gustav Jung bis Eugen Drewermann, haben sich um eine Deutung bemüht, alles von Reifeentwicklung bis zur sexuellen Initiation herausgearbeitet (Lesetipp: Hans Jellouschek: Ich liebe dich, weil ich dich brauche - Märchenanalyse des Froschkönigs mit paartherapeutischem Ansatz), doch bevor man sich damit beschäftigt, kann man auch gleich das Märchen selber lesen, ruhig zum wiederholten Mal und sich seine eigene Gedanken machen. Wie zu den anderen Märchen auch.
Bereits diese kleine Sammlung zeigt, dass die Verniedlichung der Märchen auf Happy End keineswegs gegeben ist. Das trifft schon beim dritten Märchen (Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen) nicht zu. Oder ist es ein glückliches Ende, wenn er endlich Furcht empfindet? Nur im übertragenen Sinn, und selbst dann bleibt ein schaler Beigeschmack. Auch »Das Lumpengesindel« geht nicht glücklich aus, zumindest der Wirt leidet am Ende arg unter dem Schabernack und Betrug der Lumpen. Auch der »Fischer und syne Fru« tragen am Ende nicht das Glück davon. Der Butt sagt zum Schluss: »Ga man hen, se sitt all wedder in’n Pispott. Daar sitten se noch hüt up dissen Dag.« Schön auch, dass dieses Plattdeutsche Märchen nicht in hochdeutscher Übertragung gebracht wird (wie in manchen Ausgaben) sondern in der ursprünglichen plattdeutschen Fassung. Nur in dieser kommt die Schönheit des Märchens richtig zur Geltung:
»Mandje! Mandje! Timpe Te!
Buttje! Buttje in de See!
Mine Fru, de Ilsebill,
Will nich so, as ick wol will.«
»Na, wat will se denn?« sed de Butt. – »Ach! sed de Mann, miin Fru will Pabst warden.« - »Ga man hen, sed de Butt, se is’t all.«
Dann die Beschreibungen des Meeres, das sich von Mal zu Mal verändert, immer bedrohlicher wird, das kann eine hochdeutsche Übertragung nicht in angemessenem Maße widerspiegeln.
Man kann ständig in dieser Sammlung lesen. Immer wieder. Ich zumindest. Sich über die Symbolik Gedanken machen (das häufige Auftauchen der Zahlen 3 und 7 etwa, oder die Tiergestalten mit ihren passenden Eigenschaften), zur Kenntnis nehmen, das Aberglaube (Hexen) und Antisemitismus hier und dort herausspiegeln. Beides aber tritt nicht in den Vordergrund, wird nicht zum Selbstzweck sondern ist allenfalls der Zeit und den Umständen geschuldet. Die vielen Hexen etwa, die nicht selten am Ende passend verbrannt werden oder anders zu Tode kommen, spiegeln nur im Ansatz den Wahnsinn der Inquisistion wieder. Letztendlich sind sie selbst Symbol für manche Eigenschaft, die in fast jeder Persönlichkeit enthalten ist und gegen die man ankämpfen sollte - wenn man kann.
Und zu dem Vorurteil, das Märchen nur Kinderkram sind, lohnt schon die Betrachtung des Titels, den die Grimms ihrer Sammlung gegeben haben: Kinder- & Hausmärchen. Nicht nur für Kinder, heißt das, sondern für alle, die im Haushalt leben. Für Jung und Alt sozusagen.
Die kleine Haffmann-Ausgabe hat bei mir die Gesamtausgabe fast verdrängt. Sie liegt besser in der Hand, lässt sich überall mit hinnehmen und enthält tatsächlich das Beste aus der ganzen Sammlung (mit wenigen Ausnahmen). Ich meine, dass dies Buch wert ist, in jeder privaten Büchersammlung zu stehen und ich glaube auch, das man ein kleines bisschen anders geworden ist, nach der Lektüre dieses Buches, zumindest dann, wenn man nicht nur oberflächlich gelesen hat.