Wilhelm und Jacob Grimm: Kinder- & Haus-Märchen (Kleine Ausgabe)

  • Jacob & Wilhelm Grimm
    Kinder- & Haus-Märchen
    Die »Kleine Ausgabe« von 1825
    mit einem Nachwort von Peter Rühmkorf
    Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins


    Über Märchen existieren viele Vorurteile: »Erzähl keine Märchen«, sagt man, wenn man jemanden unterstellt, dass er die Unwahrheit sagt. Das Märchen Kinderkram sind, ist eine landläufige Meinung. Das schlimmste Vorurteil aber ist, dass Märchen immer ein Happy-End haben. Das führt dazu, das in Verfilmungen ein solches angedichtet wird, sollte in einer Märchenvorlage eins fehlen. Dramatischster Fehltritt ist »Arielle, die Meerjungfrau«, basierend auf dem Kunstmärchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Vermutlich dauerrotiert er in seinem Grab heute noch darüber, dass seine Protagonistin sich nicht in Schaum auflöst und zum Luftgeist wird, sondern ein Leben als Mensch geschenkt bekommt.


    Nicht um Kunstmärchen ging es den Grimms, als sie mit ihrer Märchensammlung anfingen, sondern um Volksmärchen, rein und unverfälscht dem Volksmund entnommen. Angeregt von Clemens Brentano und Achim von Arnim begannen sie Märchen zu sammeln und aufzuzeichnen, wobei ihnen Freunde nicht unwesentlich halfen, so etwa die beiden Schwestern von Droste-Hülshoff. Ganz unverfälscht, ging es dann aber doch nicht. Man griff ein, glättete oder kürzte heraus (etwa die Einhornszene im tapferen Schneiderlein, die in der ersten Auflage der Märchen noch enthalten, später aber entfernt wurde). Zwischen 1812 und 1815 erschienen die »Kinder- und Hausmärchen« in zwei Bänden, trafen aber nur auf geringe Resonanz. Wenige hundert Exemplare konnten verkauft werden. Mit der kürzeren Ausgabe, die Wilhelm Grimm im Jahre 1825 besorgte, setzte jedoch der Erfolg ein. Sie enthält die meisten derjenigen Märchen, die inzwischen weltbekannt sind. Bei Haffmanns gibt es diese Ausgabe nun wieder in der Originalfassung, in einem wunderschönen kleinen, gelb eingebundenen Band, mit Lesebändchen und einem erfrischenden Nachwort von Peter Rühmkorf. Der ist nicht mit allem einverstanden, was in den Märchen so erzählt wird, verreißt dabei aber nicht all dies, wie es in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rücksichtslos gemacht wurde, sondern stellt die Bedeutung dieser Sammlung angemessen dar, lobt auch Wilhelm Grimms Sprache, wenngleich er damit auch auf die Distanz zum tatsächlichen »Volksmund« hinweist.


    Die Sammlung beginnt mit dem »Froschkönig oder der eiserne Heinrich«, einem Märchen, das bei genauer Betrachtung keineswegs auf das »glückliche Ende« fixiert werden darf. Allzu sperrig ist, was in dem Märchen passiert und ungeklärt der aus dem Nichts auftauchende Heinrich mit den drei eisernen Bändern, die er um das Herz gelegt hatte. Tiefenpsychologen, beginnend mit Carl Gustav Jung bis Eugen Drewermann, haben sich um eine Deutung bemüht, alles von Reifeentwicklung bis zur sexuellen Initiation herausgearbeitet (Lesetipp: Hans Jellouschek: Ich liebe dich, weil ich dich brauche - Märchenanalyse des Froschkönigs mit paartherapeutischem Ansatz), doch bevor man sich damit beschäftigt, kann man auch gleich das Märchen selber lesen, ruhig zum wiederholten Mal und sich seine eigene Gedanken machen. Wie zu den anderen Märchen auch.


    Bereits diese kleine Sammlung zeigt, dass die Verniedlichung der Märchen auf Happy End keineswegs gegeben ist. Das trifft schon beim dritten Märchen (Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen) nicht zu. Oder ist es ein glückliches Ende, wenn er endlich Furcht empfindet? Nur im übertragenen Sinn, und selbst dann bleibt ein schaler Beigeschmack. Auch »Das Lumpengesindel« geht nicht glücklich aus, zumindest der Wirt leidet am Ende arg unter dem Schabernack und Betrug der Lumpen. Auch der »Fischer und syne Fru« tragen am Ende nicht das Glück davon. Der Butt sagt zum Schluss: »Ga man hen, se sitt all wedder in’n Pispott. Daar sitten se noch hüt up dissen Dag.« Schön auch, dass dieses Plattdeutsche Märchen nicht in hochdeutscher Übertragung gebracht wird (wie in manchen Ausgaben) sondern in der ursprünglichen plattdeutschen Fassung. Nur in dieser kommt die Schönheit des Märchens richtig zur Geltung:


    »Mandje! Mandje! Timpe Te!
    Buttje! Buttje in de See!
    Mine Fru, de Ilsebill,
    Will nich so, as ick wol will.«


    »Na, wat will se denn?« sed de Butt. – »Ach! sed de Mann, miin Fru will Pabst warden.« - »Ga man hen, sed de Butt, se is’t all.«


    Dann die Beschreibungen des Meeres, das sich von Mal zu Mal verändert, immer bedrohlicher wird, das kann eine hochdeutsche Übertragung nicht in angemessenem Maße widerspiegeln.


    Man kann ständig in dieser Sammlung lesen. Immer wieder. Ich zumindest. Sich über die Symbolik Gedanken machen (das häufige Auftauchen der Zahlen 3 und 7 etwa, oder die Tiergestalten mit ihren passenden Eigenschaften), zur Kenntnis nehmen, das Aberglaube (Hexen) und Antisemitismus hier und dort herausspiegeln. Beides aber tritt nicht in den Vordergrund, wird nicht zum Selbstzweck sondern ist allenfalls der Zeit und den Umständen geschuldet. Die vielen Hexen etwa, die nicht selten am Ende passend verbrannt werden oder anders zu Tode kommen, spiegeln nur im Ansatz den Wahnsinn der Inquisistion wieder. Letztendlich sind sie selbst Symbol für manche Eigenschaft, die in fast jeder Persönlichkeit enthalten ist und gegen die man ankämpfen sollte - wenn man kann.


    Und zu dem Vorurteil, das Märchen nur Kinderkram sind, lohnt schon die Betrachtung des Titels, den die Grimms ihrer Sammlung gegeben haben: Kinder- & Hausmärchen. Nicht nur für Kinder, heißt das, sondern für alle, die im Haushalt leben. Für Jung und Alt sozusagen.


    Die kleine Haffmann-Ausgabe hat bei mir die Gesamtausgabe fast verdrängt. Sie liegt besser in der Hand, lässt sich überall mit hinnehmen und enthält tatsächlich das Beste aus der ganzen Sammlung (mit wenigen Ausnahmen). Ich meine, dass dies Buch wert ist, in jeder privaten Büchersammlung zu stehen und ich glaube auch, das man ein kleines bisschen anders geworden ist, nach der Lektüre dieses Buches, zumindest dann, wenn man nicht nur oberflächlich gelesen hat.

    Dateien

    • Grimm.jpg

      (52,82 kB, 4 Mal heruntergeladen, zuletzt: )

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Horst-Dieter,


    vielen Dank für diesen Tipp!


    Immer wieder wollte ich mir gern die Märchen zulegen, war aber wegen der vielen unterschiedlichen Ausgaben unsicher ...

    "Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund." Jan Drees

  • "Nicht um Kunstmärchen ging es den Grimms, als sie mit ihrer Märchensammlung anfingen, sondern um Volksmärchen, rein und unverfälscht dem Volksmund entnommen."
    Das stimmt so nicht ganz und gehört z.T. ins Reich der Legende. Eine Anzahl Grimmscher Märchen sind sozusagen abgekupfert und entstammen der Feder des Franzosen Charles Perrault, der ein gutes Jahrhundert vor den Grimms gelebt hat. Auch Perrault hat schon auf Überlieferungen anderer Autoren zurückgegriffen. Die bekanntesten "Contes de Perrault" sind "Le petit chaperon rouge" (Rotkäppchen), "Barbe-Bleue" (Ritter Blaubart), "Le chat botté" (der gestiefelte Kater), "Cendrillon" (Aschenputtel) und "Le petit poucet" (Däumling).

  • Liebe Bettina,


    die Aussage der damaligen Märchensammler - auch der Grimms - war das Sammeln der volkstümlichen Märchen. Die Grimms haben immer wieder Gewährspersonen vorgeschoben, von denen sie die Märchen erzählt bekommen haben wollen. Das erwies sich in den meisten Fällen als Fake - wie wir heute wissen. Ich habe in meinem Beitrag die Problematik der Bearbeitung angesprochen. Die Grimms wollten davon jedoch nichts wissen. Insofern stimmt das schon, was ich geschrieben habe.


    Das die Initiative, Märchen zu sammeln und aufzuschreiben nicht von den Grimms, nicht einmal von den Deutschen überhaupt erfunden wurde, ist eine andere Sache. Die Italiener und die Franzosen (da vor allem der von dir erwähnte Perrault) haben früher begonnen. Man kann aber nicht einfach sagen, das die Grimms nur abgeschrieben haben. Verschiedene Märchenthemen sind in ähnlicher Form in ganz Europa zu finden. Aufzeichnungen gibt es auch bereits seit dem Mittelalter, und auf diese Aufzeichnungen haben alle sogenannten Märchensammler zurückgegriffen. Abkupfern ist in diesem Zusammenhang nicht korrekt. Die Grimms kannten die französischen Varianten und nahmen dies auch zum Anlass, Märchen aus der Sammlung wieder zu entfernen oder gar nicht erst aufzunehmen. Eine der Gewährsleute der Grimms war Dorothea Viemann, die hugenottische Vorfahren hatte und von daher sicher manchen französischen Stoff mitbrachte.


    Die Grimms waren auch nicht die einzigen Märchensammler. Bechstein und Musäus beispielsweise waren (und sind) auch populär bis heute, obwohl sie nie den Status der Grimmschen Sammlung erlangt hatten (allenfalls Musäus noch mit seinen Rübezahlmärchen). Aus den Varianten der Überschneidungen kann man erkennen, wie Stoffe sich wandeln, wenn sie von Region zu Region wandern.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Vielen Dank Horst- Dieter, bei mir stehen unterschiedliche Ausgaben der Kinder und Hausmärchen. Bei der Ausbildung zum Märchenerzähler haben wir die dreibändigen Märchen in einem Einschub bekommen.
    [buch]3150231914[/buch] das Bild kann ich nicht hochladen???


    Ein besondere Ausgabe der Märchen hat Heinz Rölleke heraus gegeben.[buch]3821862475[/buch] Rölleke ist ein Experte für Märchen bei der Europäischen Märchengesellschaft.
    In diesem Buch hat er vieles zusammengetragen, ähnlich wie Du es beschreibst. Sehr viele Hintergrundinformationen.


  • Ein besondere Ausgabe der Märchen hat Heinz Rölleke heraus gegeben.…



    Von Rölleke gibt es auch eine empfehlenswerte Gesamtausgabe bei Reclam:


    [buch]315030024X[/buch]


    aber die ist schon etwas für hartgesottene Märchenfans. Für den täglichen Gebrauch reicht die Haffmannsausgabe mit den 50 Märchen allemal aus.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Das stimmt so nicht ganz und gehört z.T. ins Reich der Legende.


    Nunja, liebe Bettina,


    manche uns bekannten Märchen aus der Grimmschen Sammlung tauchen auch in etwas entfernteren Ländern als Volksmärchen auf. Das kann daran liegen, dass da irgendwann der eine Märchensammler vom anderen abgeschrieben hat, oder dass die Geschichte selbst über Jahre und Jahrhunderte gewandert ist.
    Der entscheidende Unterschied der Grimms zu anderen Sammlern wie z. B. Brentano und Arnim ist in meinen Augen der, dass die Grimms meines Wissens nach keine eigenen Märchen erfunden und in die Sammlung geschmuggelt haben. In "Des Knaben Wunderhorn", der Volksliedersammlung von Brentano/Arnim sind etliche Eigenprodukte hineingemogelt.


    Herzlichst


    Wolf P.

    "NOW is the happiest time of your life." Daevid Allen ( :gitarre )

  • Lieber Wolf,
    dennoch hält sich hartnäckig die Legende, dass die Brüder Grimm am Kaminfeuer einer alten Frau gesessen und sich die Märchen haben erzählen lassen. Dass das nicht stimmt, schreibt HD ja auch und bezeichnet es als Fake. Gemeint hat man wahrscheinlich Dorothea Viehmann, die aus dem Famileinschatz der hugenottischen Vorfahren etwas herübergerettet hat, was weitgehend nicht dem Volke abgeschaut war, sondern aus tradierten schriftlichen Quellen stammte oder bereits als Sammlung erschienen war wie die Contes de Perrault. Vor hunderten von Jahren mögen die Märchen dem Volk entstammt, dann mündlich und schriftlich verbreitet worden und durch die Welt gewandert sein.
    Liebe Grüße aus Potsdam,
    Bettina

  • Liebe Bettina,


    Dorothea Viemann hatte ich in meiner Antwort an Dich erwähnt. Es war aber nicht die einzige Gewährsquelle der Grimms. Dass es sich bei den Märchentexten der Brüder nicht um Original-Volkston handelt, habe ich bereits in meinem Erstposting geschrieben. Trotzdem greifst Du zu kurz, wenn Du behauptest, die Grimms hätten einfach nur abgegeschrieben oder "nacherzählte" Quellen benutzt. Wie Wolf schon sagte: Viele bekannte Märchenmotive sind nicht nur in Perraults Sammlung zu finden sondern Europaweit. Das jemand die zuerst aufgeschrieben hat, heißt ja nicht, dass alle anderen sie dann als Quelle benutzt haben, selbst wenn das in dem einen oder anderen Fall (durchaus auch bei den Grimms) so vorgekommen ist.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • (...) Viele bekannte Märchenmotive sind nicht nur in Perraults Sammlung zu finden sondern Europaweit. Das jemand die zuerst aufgeschrieben hat, heißt ja nicht, dass alle anderen sie dann als Quelle benutzt haben, selbst wenn das in dem einen oder anderen Fall (durchaus auch bei den Grimms) so vorgekommen ist.
    (...)


    Deshalb nennen die Grimms ihre Märchen in den Buchtiteln auch nicht deutsche Märchen. Sie suchten zwar einen ursprünglichen "Volkston", den sie aber paradoxerweise erst in ihrer redaktionellen und literarischen Bearbeitung des gesammelten Materials zu finden glaubten: Vor allem Wilhelm Grimm war es, der dabei um ca. 1837 die neue literarische Gattung des Grimmschen Buchmärchens erfand, das er als sein geistiges Eigentum gegen Verleger verteidigte, die es als Gemeingut betrachteten.
    Übrigens haben die Grimms wohl niemals Märchen in der originalen mündlichen Tradition gehört. Sie hatten kaum Kontakt zu Menschen aus den unteren Schichten. Aber wenn ihnen ein Schäfer mal ein "volkstümliches" Märchen erzählte, dann wird es ein entschärftes und gereinigtes, von allen sozialkritischen, blasphemischen und obszönen Inhalten befreites Märchen gewesen sein. Außerdem ist es den Grimms wohl nie in den Sinn gekommen, den Original-Wortlaut der mündlichen Darbietung in der literarischen Form zu übernehmen; die wirkliche mündliche Rede galt damals als kunstlos und ungenießbar.

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Ich finde das Thema zu spannend, um es ad acta zu legen. Gerade lese ich W.Grimm (an Wiegand, Kassel 26.4.1812) über die Familie von Haxthausen: "Vor kurzem war der jüngste Haxthausen hier... Seine Schwestern wissen viel Märchen, und da hat er mich eingeladen, den Sommer hinzukommen und sie aufzuschreiben."
    Und Wilhelm G. an Nyerup über die Drucklegung des ersten Märchenbandes, Kassel, 12.7.1812:
    "Mein Bruder und ich sind eben im Begriff, eine Sammlung von Volks- und Kindermärchen drucken zu lassen. ... Unsere einzige Quelle dabei ist die mündliche Überlieferung gewesen, die uns nicht ganz arm geflossen, da wir an sechzig etwa, recht schöne Stücke zusammengebracht haben; wir werden auf diese Weise manches Unbekannte geben."
    Und über die Quellen schriebt er:
    "... So ist es uns, wenn wir den Reichtum deutscher Dichtung in frühen Zeiten betrachten und dann sehen, daß von so vielem nichts lebendig sich erhalten, selbst die Erinnerung daran verloren war und nur Volkslieder und diese unschuldigen Hausmärchen übriggebliegen sind. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und reiner Zeit aus der andern überliefert haben."
    aus:Die Brüder Grimm, ihr Leben und Werk, hg. von Dr. Hermann Gerstner, Langewiesche Brandt Verlag 1952

  • Ich schrieb es ja schon: Die Vorstellung, dass alles der mündlichen Überlieferung stammt, haben die Grimms selber genährt. Aber nicht nur. Sie haben ja Quellen angegeben bei der ersten Auflage. Bei späteren wieder unterlassen und zuletzt in einem Zusatzband doch wieder veröffentlicht. Was von diesen "Quellen" zu halten ist, wurde ja inzwischen herausgearbeitet. Es sind eben "Grimms Märchen", die durchaus in den meisten Fällen auf Märchenmotiven beruhen, die über Jahrhunderte weitergegeben wurden, mündlich und schriftlich, sich dabei verändert haben und in der Fassung der Grimms noch einen ganz eigenen Duktus bekamen. Amos hat bereits eine gute Quelle für die Hintergründe der Märchen in Grimmscher Fassung verlinkt. Wer etwas über Märchenmotive (nicht nur der Grimms) erfahren will, greift am Besten zum Scherf:


    [buch]3406519954[/buch]

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • bettina
    Bei Scherf findet sich z.B. zum Märchen "Allerleirauh" folgendes:


    Zitat


    Ebensowenig wie PERRAULT unmittelbar von BASILE übernahm, stützten sich die Brüder GRIMM auf PERRAULT oder auf eine Wiedergabe der PERRAULTASCHEN Fasssung etwa durch ihre Gewährsleute, die Töchter HASSENPFLUG. Gewiß, die Ausgangslage ist in beiden Fassungen gleich - aber mit der Übernahme der geringen Dienste am fremden Hof entwickeln sich die Motivketten, die zur Erkennung der Königstochter führen, auseinander.

    Walter Scherf: Das Märchen Lexikon Band 1, München 1995, S. 16



    Was ich sagen will: Die Behauptung, die Brüder hätten einfach nur abgekupfert, ist nicht hinreichend stichhaltig zu belegen. Das Ganze ist viel differenzierter anzuschauen. Natürlich liegen mit den Grimmschen Märchen keine Ergebnisse reiner Feldforschung vor, wie sie selbst glauben machen wollen. Andererseits haben die Grimms durchaus Informationen zu ihren Quellen angegeben, wenn auch nicht in ausreichender Form. Die Frage der Märchenaufzeichnung war auch unter den Romantikern umstritten. Clemens Brentano war mit den ersten Ergebnissen der Grimms überhaupt nicht einverstanden. Anfangs hatten die Brüder auch einen eher kollektiven Ansatz. 1811 ging ein offizieller Aufruf zur Mitarbeit an der Sammlung von den Brüdern heraus. Im Laufe der Jahre fokusierte sich sich Wilhelm immer stärker auf diese Sammlung so, dass heute Ton und Fassung weitgehend ihm zugeschrieben werden dürfen.


    Die Aussage meiner Rezension halte ich jedoch aufrecht: Die Märchen in der Fassung der Grimms sind nach wie vor lesenswert, in der kleinen Ausgabe auch für diejenigen, die sich nicht intensiver mit Märchen (speziell auch der Sammlung der Grimms) auseinandersetzen wollen.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Das "Allerleirauh" ist tot. Man hat ihm das "h" gestrichen und es wesenlos gemacht. Das ist der Wahn der neuen Rechtschreibung und macht mich wütend. "Rauchwaren" = "Pelzwaren" darf es dementsprechend nicht mehr geben. Irgendwelche Sprachidioten haben den etymologischen Hintergrund verkannt, sie haben nicht gewusst, dass "ruch" (mhd) oder "ruh" oder "rauh" eben rauhe Dinge wie Pelz benennt. Die Brüder Grimm als Sprachwissenschaftler würden sich im Grabe umdrehen, aber mussten den Unsinn nicht mehr erleben. Wahrscheinlich hat das Allerleirauh in modernen Ausgaben sein h und damit seine vielen kleinen Pelze verloren. Soifz! :(

  • Das "Allerleirauh" ist tot. Man hat ihm das "h" gestrichen und es wesenlos gemacht. Das ist der Wahn der neuen Rechtschreibung und macht mich wütend. "Rauchwaren" = "Pelzwaren" darf es dementsprechend nicht mehr geben. Irgendwelche Sprachidioten haben den etymologischen Hintergrund verkannt, sie haben nicht gewusst, dass "ruch" (mhd) oder "ruh" oder "rauh" eben rauhe Dinge wie Pelz benennt. Die Brüder Grimm als Sprachwissenschaftler würden sich im Grabe umdrehen, aber mussten den Unsinn nicht mehr erleben. Wahrscheinlich hat das Allerleirauh in modernen Ausgaben sein h und damit seine vielen kleinen Pelze verloren. Soifz! :(


    Das stimmt so nicht, bereits im Althochdeutschen gibt es den Auslaut ohne Konsonant:

    Zitat

    (...) der auslautende konsonant des stammes ist bereits ahd. bisweilen geschwunden: irtae (für hirtae) rûen Steinmeyer-Sievers 2, 488, 25; mhd. im auslaut:


    ich bin verlegen als ein sû:
    mîn sleht hâr ist mir worden rû.
    Walther 76, 16;


    Grimmsches Wörterbuch

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Da magst du Recht haben, lieber Jürgen. Dennoch ist das h in rauh etymologisch berechtigt, auch wenn es zu gewissen Zeiten schon einmal verloren ging.


    Wieso sollten Schreiblerner heute eine Sonderregel lernen (Regel: Kein Dehnungszeichen h nach dem Diphtong au; Beispiele: lau, schlau, Pfau etc. etc.) - nur weil rau wortgeschichtlich von einem Wort (rauch, rauh etc.) abstammt, dessen ursprüngliche Bedeutung (nämlich u.a. behaart) heute nur noch pensionierten Studienräten geläufig ist?
    Nicht nur in lerntheoretischer und rechtschreibungssystematischer, auch in ästhetischer Hinsicht gefällt mir das rau viel besser als rauh: der Hauchlaut h schleift das schöne rau-klingende und zerklüftet aussehende au wieder glatt und widerspricht so der Wortbedeutung ;).

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Heute beim Frühstück mit meinen Kindern und Schwiegerkindern (alles keine pensionierten Studienräte) mal herrlich gefachsimpelt über rhetorische Figuren. Gehirnakrobatik, hatSpaß gemacht. Ich finde das nicht verwerflich. es ist auch egal, wer Recht hat, allein die Beschäftigung mit Sprache zum Zweck einer eventuellen Annäherung an eine vermutete Wahrheit ist ein lohnender Zeitvertreib. Dafür sind wir doch hier, oder?

  • …allein die Beschäftigung mit Sprache zum Zweck einer eventuellen Annäherung an eine vermutete Wahrheit ist ein lohnender Zeitvertreib. Dafür sind wir doch hier, oder?


    Und das kontrovers diskutiert werden darf - oder gar soll! - gehört auch dazu. Liebe Bettina, wenn ich mal nicht einer Meinung mit Dir bin und Gegenteiliges äußere, dann fasse das bitte immer unter diesem Gesichtspunkt auf. Schön, dass Du Dich äußerst und noch schöner, wenn der Austausch nicht nur in Schulterklopfen besteht.


    :)

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann