Am Abend des 31. Oktober 2013 gibt eine Frau in Soest ihrer dreieinhalb Monate alten Tochter Fee-Marie das Fläschchen, wechselt dem Säugling noch einmal die Windeln, legt ihn dann ins Bett, deckt ihn aber nicht zu. Um 23.45 h steigt die Mutter in den Zug und fährt zu einem Mann nach Münster. In Münster kauft die Hartz-IV-Empfängerin für 300 Euro Speed und Amphetamine und besucht dann die Halloween-Party in einer Diskothek, wo sie im Drogenrausch bis zum Sonntag durchfeiert. Erst am fünften November kehrt sie nach Soest zurück. Als sie ihre Wohnung betritt, ist das Baby tot – qualvoll verhungert und verdurstet, wie der Gerichtsmediziner später feststellen wird. Die Frau legt sich neben dem toten Kind schlafen, als wäre nichts geschehen. Am nächsten Tag meldet sie fröhlich auf Facebook, daß in Soest Kirmes ist, und fährt dann wieder mit dem Zug nach Münster, wo sie zwei Wochen bleibt. Die ganze Zeit über liegt das verwesende Kind in der Wohnung in Soest.
Zum Zeitpunkt des Todes von Fee-Marie werden Mutter und Kind seit acht Monaten durch einen Fachdienst im Auftrag des Soester Jugendamtes betreut. Sechs Stunden in der Woche wird die arbeitslose Mutter, die viel Zeit in Kneipen und auf Partys verbringt, vom Jugendamt zu Hause betreut; nur zwei Tage, bevor die Mutter Fee-Marie dem sicheren Tod überläßt, ist eine Betreuerin zum letzten Mal bei Mutter und Kind. Obwohl die Wohnung total zugemüllt ist und Fee-Marie schon seit Wochen nicht mehr richtig gefüttert und gewickelt wird, will das Jugendamt davon nichts gemerkt haben. Es vergehen vierzehn Tage, bis das Jugendamt endlich die Tür öffnen läßt, hinter der immer noch das tote Kind liegt. Diese Tragödie, die zur Zeit vor dem Arnsberger Landgericht verhandelt wird, setzt eine ganze Reihe von Fällen, in denen Jugendämter versagt haben, mit trauriger Logik fort.
2006 wird in Bremen die Leiche des zweieinhalb Jahre alten Kevin im Kühlschrank seines Vaters gefunden. Der Vater ist ein Junkie im Methadon-Programm, aus dem Gefängnis ausgebrochen, bedroht Nachbarn und Bekannte mit der Waffe, hat eventuell Mitschuld am Tod von Kevins Mutter. All das weiß das Jugendamt, ja die Behörde ist sogar Amtsvormund des Kindes - und tut trotzdem nichts.
2012 stirbt in Hamburg die elfjährige Chantal, weil sie das Methadon getrunken hatte, das für ihre vom Jugendamt ausgesuchte Pflegemutter bestimmt war. Ebenfalls in Hamburg wird 2013 die dreijährige Yagmur Yetis von ihrer eigenen Mutter so lange geprügelt, bis sie an einem Leberriß stirbt. Obwohl das Mädchen seit der Geburt vom Jugendamt betreut wird, der bekanntermaßen gewalttätige Vater mit dem Gewehr auf Facebook posiert, das Kind zwischen einer Pflegefamilie und den eigenen Eltern hin- und herwechselt, ist dem Jugendamt bei diversen Hausbesuchen nichts aufgefallen. Als Yagmur am 18. Dezember 2013 stirbt, stellen die Ärzte bei der Obduktion mehr als 80 Blutergüsse und Abschürfungen und einen nie behandelten Armbruch fest. Die Wunden und Blutergüsse wurden von der Mutter überschminkt, damit man sie nicht gleich erkennt.
In Leipzig verdurstet 2012 der zwei Jahre alte Kieron-Marcel, als seine Mutter sich neben ihm mit einem Drogencocktail ins Jenseits spritzt. Auch hier ist die Mutter im staatlich geförderten Methadon-Programm, auch hier werden Mutter und Kind vom Jugendamt betreut, auch hier ist die vom Staat bezahlte Wohnung voller Müll und Unrat – und auch hier kann das Jugendamt natürlich nichts verbessern, geschweige denn etwas verhindern. Diese entsetzliche Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Eine Analyse dieser Fälle ergibt erstens, daß die Jugendämter offensichtlich nicht in der Lage sind, Mißhandlung, Mißbrauch und sogar Mord von Kindern zu verhindern, selbst wenn Eltern und Kinder intensiv betreut werden. Die Gründe dafür sind bekannt: Die Mitarbeiter der Jugendämter sind eben auch nicht mehr als Verwaltungsbeamte, sie betreuen viel zu viele Fälle und verlieren den Überblick, viele kennen „ihre“ Familien kaum, manche Mitarbeiter hegen privat Sympathien für Drogengenfamilien und haben viel Nachsicht mit Kriminellen, und anderen ist das Schicksal ihrer Schützlinge schlicht wurscht.
Das nächste Problem liegt bei harten Drogen und ihrer Verharmlosung. In vielen Familien, in denen Kinder mißhandelt und umgebracht werden, spielen Drogen eine große Rolle, nicht wenige Eltern sind im staatlich finanzierten Methadonprogramm, was sie vom Heroin wegbringen soll, was aber oft nicht funktioniert. Denn Methadon ist längst zu einer Ersatzdroge des schönen Scheins geworden, die Süchtige wieder halbwegs normal erscheinen läßt, an der Sucht selber jedoch nichts ändert.
Ein wichtiger Grund für Kindesmißhandlungen und Kindermord ist jedoch die Einstellung unserer Gesellschaft zu Kindern. Hätte die Soesterin ihre Katze so umgebracht, wie sie ihr Kind umgebracht hat, dann hätte es auf Facebook einen Shitstorm sondergleichen gegeben und die junge Frau wäre mit Morddrohungen zugeschüttet worden. Bei einem Kind aber werden von Anwohnern und Freunden ein paar Kerzen und selber gemalte Pappschilder aufgestellt, während die Journalisten meinungsführender Blätter, insbesondre aber Psychologen, Pädagogen und Experten für solche Taten genau wie für das Versagen der Jugendämter regelmäßig ganz viel Verständnis zeigen. So werden z.B. in der ZEIT für den Tod von Yagmur weniger die Eltern, als die übliche Melange aus sozial schwachem Stadtteil mit hoher Arbeitslosenzahl, niedrigen Einkommen und hohem Ausländeranteil verantwortlich gemacht. Als im aktuell tagenden Untersuchungsausschuß zum Fall Yagmur Mitarbeiter von Jugendamt und Familiengerichten haarsträubende Versäumnisse erkennen lassen, kann die ZEIT darin lediglich erkennen, daß die Gefahr, welche die kleine Yagmur das Leben gekostet hat, „im System versickert sei“.
Hinter diesem Verständnis steckt auch eine These, die - in den Hirnen von Philosophen geboren – seit Jahren durch Philosophenkongresse, Internet und Zeitungen geistert. Diese These besagt, daß ein Kleinkind zwar ein Mensch, aber keine Person ist, und deshalb noch Jahre nach der Geburt straflos getötet werden kann bzw. dies möglich sein sollte. Angezettelt hat diese Diskussion der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer, Professor für Bioethik an der Universität Elite-Universität Princeton und weltweit eine der ganz großen Nummern auf dem Gebiet der Ethik. In seinem Standardwerk „Practical Ethics“ (Cambridge University Press, New York 2011) schreibt er, daß ein Fötus nicht mehr wert sei, als ein nichtmenschliches Lebewesen, weil er noch keine Person sei, keine Bewußtsein von sich selbst habe, keine rationalen Entscheidungen treffen und sich nicht selbst als ein in Raum und Zeit verortetes Wesen begreifen könne. Deshalb könne, fährt Singer fort, ein Fötus auch nicht dieselben Rechte wie eine echte Person beanspruchen. Wenn aber ein Fötus keine Person ist und deshalb straffrei getötet werden kann, dann ist ein Neugeborenes auch keine Person und sollte deshalb ebenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt – Singer sagt nicht genau, bis wann – straffrei getötet werden können.
Natürlich ist Singer nicht direkt für die Mißhandlung von Kindern verantwortlich, aber er und manche seiner Fachgenossen sind es, die das inhumane Hintergrundrauschen erzeugen, das sich bei Diskussionen um Abtreibung und Kindesmißhandlungen mit dem herbeigeredeten Zerfall der Kernfamilie und der damit einhergehenden Aufwertung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften zu einer unheilvollen Allianz verbindet. In einer postkapitalistischen Spaßgesellschaft, in der viele Erwachsene zeitlebens Teenager bleiben wollen, in der die Ethik der Verantwortung kleingeredet und die von der Biologie vorgegebenen Gesetzte und Grenzen hauptsächlich dazu da sind, ausgetrickst zu werden, genießen Kinder keinen hohen Stellenwert mehr.
Nach offiziellen Statistiken werden in Deutschland pro Jahr 160 Kinder getötet und 60.000 mißhandelt. Die Dunkelziffer ist aber sehr hoch, weshalb Michael Tsokos, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité, von 320 getöteten Kindern im Jahr und von 200.000 Mißhandlungen ausgeht. Zum Vergleich: in ganz Deutschland gibt es pro Jahr 240.000 Verkehrsunfälle mit Verletzten.
Diese Zahlen und das fast schon systematische Versagen der Jugendämter bei Kindesmißhandlungen zeigen, daß Staat und Behörden nie die besseren Eltern sein können; daß die philosophisch gerechtfertigte Abwertung von Leib, Leben, Geburt und Empfängnis in der Praxis enorme und schädliche Auswirkungen haben kann; und daß die utilitaristische Spaß-Ethik, in der das ganze Leben auf den Wohlführfaktor reduziert wird, manchmal mörderische Konsequenzen hat.