Stellen wir uns einmal vor, bei den nächsten Olympischen Spielen läuft der jamaikanische Sprinter und mehrfache Olympiasieger Usain Bolt nicht nur seine Hausstrecken, also hundert Meter, zweihundert Meter und die Hundert-Meter-Staffel, sondern auch noch fünftausend Meter, zehntausend Meter und den Marathon. Was würde passieren? Nun, Bolt würde in keiner Disziplin mehr eine Medaille gewinnen. Warum nicht? Weil Bolt ein Sprinter ist und kein Übermensch, weil kein Läufer Kurz-, Mittel- und Langstreckler in einer Person sein kann.
Bei den Tenören ist das ganz ähnlich, die teilt man auch in unterschiedliche Disziplinen ein, nur nennt man die hier „Stimmlagen“. Da unterscheidet man einmal den hohen italienischen Belcanto-Tenor („Tenore di Grazia“) vom lyrischen Tenor. Der Tenore di Grazia ist das männliche Gegenstück zum Koloratursopran und wird hauptsächlich in den Opern von Bellini, Rossini und Donizetti verlangt, wo er höchsten Höhen erreichen und größte Agilität (Beweglichkeit) der Stimme beweisen muß. Der profilierteste lebende Vertreter – denn solche Sänger sind fast ausgestorben – ist der Peruaner Juan Diego Flórez.
Danach kommt der lyrische Tenor, der nicht ganz so hoch hinauf muß (jedoch trotzdem bis zum hohen C), aber über eine kräftigere Stimmbasis verfügt, jugendlich-dramatische Rollen singt, ein Orchester überstrahlen kann und muß und über ein warmes, silbriges Timbre hat. Der lyrische Tenor ist aus Sicht des Publikum der Tenor schlechthin. Bekannte Partien sind Alfredo in la Traviata, der Herzog in Rigoletto (Verdi) und Rodolfo in La Bohème (Puccini). Vertreter waren früher Richard Tauber, Jussi Björling, Fritz Wunderlich, Peter Schreier, Nicolai Gedda und Luciano Pavarotti, heute wäre Rolando Villazón zu nennen.
Dann kommen die Heldentenöre. Davon gibt es drei: den italienischen, auch „Spinto“ geannnt, die bekanntest Partie ist der Don José in Carmen, berühmte Vertreter waren Benjamino Gigli, Peter Anders und Carlo Bergonzi. Kräftiger und ernster ist der jugendliche Heldentenor, als da wären Florestan aus Fidelio (Beethoven) oder Max aus dem Freischütz (Weber). Zwei der bekanntesten Tenöre der Welt gehören hier her: Enrico Caruso und Placido Domingo.
Nach unten abgerundet wird das Tenorfach durch den Wagnerischen Heldentenor. Hier werden mächtige, volltönende Stimmen verlangt, die über enorme Kraft verfügen, auch noch die größten Orchesterbesetzungen übertönen und stundenlang singen können. Die bekannteste Rolle ist Wagners Siegfried, aber auch Tannhäuser, Lohengrin, Siegmund, Tristan und Parsifal gehören hierzu. Berühmte Vertreter sind James King, Wolfgang Windgassen, Peter Hofmann und René Kollo.
In der Geschichte des Gesanges hat es nie einen Sänger gegeben, der alle Stimmfächer bei den Tenören abgedeckt hat – kein Caruso, kein Wunderlich und auch kein Domingo konnte und wollte das. Bislang. Jetzt allerdings gibt es einen, der scheinbar alles kann, und der heißt Jonas Kaufmann. Kaufmann ist 44 Jahre alt und stammt aus München, wo er an der Musikhochschule Diplome in Opern- und Konzertgesang abgelegt hat. Er wird heute allgemein als der führende Tenor der Welt angesehen, singt genauso an der New Yorker Met wie in der Carnegie Hall, an der Mailänder Scala wie im Londoner Covent Garden, bei den Salzburger und Bayreuther Festspielen. Kaufmann singt alles quer Beet: Verdi und Wagner, Donizetti und Puccini, Mozart, Schubert, Richard Strauss, Opern, Messen und Lieder.
Er erhält weltweit hervorragende, ja verzückte Kritiken. Kann da also einer etwas, was tausend andere Tenöre in den letzten 200 Jahren nicht konnten? Verfügt Jonas Kaufmann über ein Betriebsgeheimnis, ein Geheimrezept, eine spezielle Atemtechnik? Die eine Antwort ist: leider nein. Und die andere lautet. Kaufmann singt gar nicht so besonders gut, und oft singt er richtig schlecht.
Das fängt damit an, daß er eigentlich kein hohes C hat. In der Kavatine des Faust ("Salut demeure chaste et pure“) aus Gounods Oper Margarete erreicht Kaufmann das hohe C nur mit der Kopfstimme, und auch das nur mit größter Mühe. Auch in der Blumenarie aus Bizets Carmen gelangt er nur sehr mühsam zum b‘ unter dem hohen C, und der Abschluß von „Lunge da lei...De‘ miei bollenti spiriti“ aus Verdis Traviata geht in Fortissimo-Gebrüll unter. Aber Probleme bereiten Kaufmann nicht nur hohe Passagen in italienischen Tenor-Arien, sondern auch Szenen aus Wagner-Opern, obwohl gerade Wagner, der selten Spitzentöne, rasche Skalen und weite Sprünge verlangt, Kaufmann doch entgegenkommen sollte. Aber auch in der Romerzählung aus Tannhäuser („Inbrunst im Herzen“) ist Jonas Kaufmann nicht in der Lage, das neunzehnmal wiederholte es‘ in „Hast du so böse Lust geteilt, dich an der Hölle Glut entflammt“, welches immerhin eine Sext unter dem hohen C liegt, anders als verzerrt und gepreßt hervorzubringen. Da Kaufmann überdies immer Schwierigkeiten hat, hohe Töne direkt zu attackieren, greift er wahllos zu einem schluchzenden Portamento, welches Intervallsprünge und das direkte Ansingen hoher Töne erleichtert, aber seit Jahrzehnten verpönt ist. Caruso hat es kaum jemals verwendet, Benjamino Gigli wurde immer dafür kritisiert.
Diese ernüchternde Bilanz zeigt sich auch in Schuberts Schöner Müllerin und seiner Winterreise, wo der Sänger die Umlaute fast immer gequetscht und unrein hervorbringt („Rödr“ statt „Räder“), schnelle Achtel- und Sechzehntel Passagen (z.B. in „Mut!“ in der Winterreise) selten korrekt verständlich zu singen vermag und ganz allgemein Schuberts Mini-Dramen im Lied-Format entweder im Fortissimo brüllt oder im Pianissimo haucht. Auch in der Winterreise fällt Kaufmanns unzureichende Höhe im Durteil von „Gute Nacht“ oder in „Rückblick“ („zwei Mädchenaugen glühten“) negativ auf.
Jonas Kaufmann verfügt also weder über eine makellose Gesangstechnik noch über eine herausragende Stimme – und trotzdem gilt er augenblicklich als bester Tenor der Welt und ist im Moment der einzige Superstar der klassischen Musik. Warum ist das so?
Es gibt ein Bündel von Gründen. Erstens ist die Konkurrenz nicht gerade groß, gute Tenöre sind seit Jahren Mangelware, und Rolando Villazón, Kaufmanns einziger wirklicher Konkurrent, hat sich die Stimme ruiniert. Dann sieht Kaufmann außergewöhnlich gut aus, er könnte auf dem Laufsteg Anzüge vorführen und jederzeit James Bond spielen. Drittens ist Jonas Kaufmann ein sympathischer, freundlicher und bescheidener Mensch, der sich in Turnschuhen und T-Shirt fotografieren läßt, mit allen Menschen reden kann und dies auch tut. Viertens ist er zwar ein stimmlicher Tausendsassa, aber einer mit einem großen Repertoire, jemand, auf den Verlaß ist. Kaufmann traut sich alles zu, macht alles und irgendwie schafft er auch alles. Schließlich verfügt Jonas Kaufmann zwar über keine hohe und bewegliche, dafür aber über eine gewaltige Stimme, die über die Dezime vom kleinen c bis zum e‘ kraftvoll und mächtig tönt. Hier kann er richtig schmettern, und das mögen die Leute.
Der ganze Rummel verkennt jedoch eines: Kaufmann ist kein Tenor, sondern ein hoher Bariton. Die Grenzen zwischen einem Bariton mit tenoralen Höhen und einem Heldentenor sind fließend, der Bariton Sherill Milnes gelangte komfortabel bis zum a‘ unter dem hohen C, Josef Metternich erreicht in „Largo al factotum“ aus Rossinis Barbier mit der Kopfstimme das hohe C besser als Kaufmann. Wenn das stimmt, warum singt dann Kaufmann nicht als Bariton? Weil kein noch so guter Bariton der Welt jemals den Ruhm geerntet und die Einnahmen erzielt hat, die ein zweitklassiger, aber beliebter Tenor sich erwerben kann.
[buch]B00GOI2ZTG[/buch]