Liebe Experten,
ich lerne, so gut ich eben kann, an Kritiken (am Eigenen und Fremden), über Aussagen in Büchern, Foren usw. Zusätzlich versuche ich meinen Sinn für Authentizität von Figuren und Szenen zu schärfen, denn ich denke, dass Bilder einfach flüssig sein sollten, um gut zu sein. Und es gibt ja viel Beispiele, wo dies Autoren so gelingt, dass ich in die Handlung gezogen werde, als ob mich der Leitstrahl eines Raumschiffs umklammert hält, wobei ich Wehrloser es nicht einmal bemerke. Außer der Hunger oder die Augenlieder - naja, wie's halt ist.
Jetzt ist mir zwar bekannt, dass Bestseller nicht unbedingt deshalb welche sind, weil sie supergut geschrieben sind, sondern weil die Geschichte oder das Genre grad passt oder der Verlag viel dafür bezahlt hat. Nun stieß ich gestern auf diesen 'Bestseller' und frage mich, ob all das, was ich mir an Gespür und technischem Know-how versuche anzueignen Quatsch ist oder ich plötzlich wahrnehmungsgestört bin. Dabei ist Klaras Lange Reise von Reinhold Kusche bei einem Verlag herausgekommen, der mit Sicherheit ein Lektorat hat. Bin ich überpenibel geworden? Ist das am Ende eh alles so in Ordnung? Ich kenne mich nicht mehr wirklich aus und bitte um Eure Meinung. Anschließend die erste Seite und ihr könnt hier auch eine Lesprobe für den Kindle laden, aber da geht's genauso weiter ...
Klaras Lange Reise von Reinhold Kusche
Der Geschichtenerzähler
...
oder es gibt keine Zufälle
An einem angenehm warmen Spätsommerabend im Jahre 1988 am äußersten, westlichen Ende der zu Großbritannien gehörenden Scilly-Inseln steht am Bishop Rock, der westlichsten Klippe Mitteleuropas, eine junge Frau. Scheinbar regungslos schaut sie auf die aufbrausenden Wellen, die schäumend, kraftvoll und mit lautem Getöse unaufhörlich gegen die Klippen donnern. Es zeigt sich ein wahrhaft beeindruckendes und geräuschvolles Naturschauspiel, welches von besonderer Ausstrahlung und erregender Schönheit zeugt. Die hellen Sonnenstrahlen zaubern auf die Wasseroberfläche einen goldgelben Glanz. Diese schimmernden Lichtreflexe tanzen auf den Wellen, als hätten sich dort unzählige Feen versammelt, die ein märchenhaftes Fest feiern. Lang und kreischend schallt der Ruf eines Schwanns Möwen, der nach Fischen suchend immer wieder um den Leuchtturm wirbelt, durch die flirrende Luft.
Der Gesichtsausdruck dieser Frau verrät ihre sanfte, friedliche Stimmung, ihr Blick wirkt geistesabwesend und gedankenverloren. Ein Geheimnis scheint sie zu umwehen. Ihre von der Abendsonne rötlich verfärbten, dunkelblonden Haare wehen ihr wild durch das Gesicht. Der Wind treibt einzelne, dickbauchige Schäfchenwolken vor sich her. Ganz weit im Westen leuchtet am Himmel die Sonne noch mit letzter Kraft im orangefarbenen Licht. Plötzlich und unvorhergesehen beruhigt sich der böige Wind für ein paar Minuten und eine alles durchdringende Stille macht sich breit, langsam und gemächlich dahin schleichend. Diese unwirkliche, unheimliche Atmosphäre wird nur von den vom Wind aufgepeitschten Wellen, die immer noch kräftig gegen die kleine Felseninsel brausen, gestört.
Die schlanke, junge Frau registriert diese gespenstig anmutende Stille fast beiläufig, offensichtlich völlig gefesselt unter dem Eindruck ihrer eigenen Gedankenwelt. Von der Atmosphäre ungerührt, lächelt sie indes freudig und schließt genüsslich und mit voller Hingabe die Augen. Ihrer inneren Intuition vertrauend schreitet sie bedächtig und zielstrebig einige felsige Steine hinab, sodass die heranbrausenden, wilden Wellen der rauen, kalten See ihre nackten Füße spielerisch umspülen können. In ihr entwickelt sich ein überschäumendes Glücksgefühl, welches ihr Erscheinungsbild wie ein aufgehender, leuchtender Stern am frühen Nachthimmel erstrahlen lässt.
Sie steht aufrecht auf der kleinen Felseninsel, in ihrem Rücken ragt der aus Granitblöcken errichtete Leuchtturm mächtig zum Himmel empor, dessen Dach den Himmel zu berühren scheint.
Sie breitet ihre Arme ausladend aus und wendet ihre Aufmerksamkeit nach innen, die Augen immer noch fest verschlossen...