Hallo Thomas,
hallo ihr Lieben,
ich kann nicht alles einfach so stehen lassen, was du schreibst, einfach deshalb, weil du mich mit dem wir vereinnahmst, obwohl ich eine völlig andere Lesart diese Textes habe.
Zitat1. Erzählperspektive: Richtig, wir wechseln von einem gemäßigt auktorialen (könnte viel stärker sein, denken wir an Dickens oder Thomas Hardy) zu einem personalen Erzähler und wieder zurück zum auktorialen Erzähler.
Wenn wir noch einen Beweis für die Überlegenheit der strukturalen TA über alle anderen Formen der TA bräuchten – nun hier ist er. Nur sie strukturale TA kann befriedigend erklären, warum die Erzählperspektive wechselt.
Du verwirrst mich, weil mir deine Definition eines auktorialen Erzählers nicht klar ist. Allein in den Kopf einer Figur zu schlüpfen und die Welt aus deren Augen zu betrachten ist jedenfalls kein Bruch zur personalen Erzählweise. Jeder auktoriale Erzähler (und Dickens benutzt oft genug da den retrospektiven Ich-Erzähler, wo er als Muster für den AE genannt wird ;)) kann in den Kopf jeder Figur schlüpfen, ohne seine Verlässlichkeit oder den Blick auf die Figur zu verlieren und der Erzähler bleibt in diesem Text immer verlässlich. Wo wäre er denn subjektiv? Bitte mit Textstelle. Er kann, isoliert betrachtet, durchaus so viele Zeiger für den PE haben, dass die Stelle wie ein PE erscheint, der Kontext aber hat ihn längst als auktorial gesichert und genau darum funktioniert er dann auch.
Ein wichtiger Zeiger dafür, dass der auktoriale Erzähler nie verschwindet, besteht darin, dass Lerch nie ohne Artike Wachmann genannt wird. Dass würde ein personaler Erzähler nur tun, wenn die Figur dissoziiert und von sich selbst in der dritten Person spricht. Dafür gibt der Text aber keinen Anhalt her. Das es auch Sätze gibt, die den Blick auf Lerchs Vorstellung fokussieren, aber keine Sicherung wie der Wachmann enthalten heißt nicht, dass sie nicht mit solchen eindeutigen Zeigern des AE eingeleitet werden:
"daß das Pferd des Wachtmeisters sich verhielt und mit schiefem Kopf und hörbarem Atem gegen den Boden stierte. Ein Schenkeldruck brachte es wieder vorwärts, und nun war die Frau in einem Hausflur verschwunden, ohne daß der Wachtmeister hatte ihr Gesicht sehen können. Aus dem nächsten Hause lief eilfertig mit gehobenem Kopfe ein Hund heraus, ließ einen Knochen in der Mitte [...] Sogleich sprangen noch zwei Hunde hinzu: ein magerer, weißer, von äußerst gieriger Häßlichkeit, dem schwarze Rinnen von den entzündeten Augen herunterliefen, und ein schlechter Dachshund auf hohen Beinen. Dieser hob seinen Kopf gegen den Wachtmeister
Nicht weit vom letztgenannten Stadttor, wo sich ein mit hübschen Platanen bewachsenes Glaçis erstreckte, glaubte der Wachtmeister Anton Lerch am ebenerdigen Fenster eines neugebauten hellgelben Hauses ein ihm bekanntes weibliches Gesicht zu sehen. Neugierde bewog ihn, sich im Sattel umzuwenden, und da er gleichzeitig aus einigen steifen Tritten seines Pferdes vermutete, es hätte in eines der vorderen Eisen einen Straßenstein eingetreten, er auch an der Queue der Eskadron ritt und ohne Störung aus dem Gliede konnte, so bewog ihn alles dies zusammen, abzusitzen, [...] durch welche sich ein beleibter, vollständig rasierter älterer Mann im Augenblicke zurückzog.
Indem aber dem Wachtmeister der Name der Frau einfiel
Alle grünen Wörter sind mehr oder minder starke Zeiger für einen AE, der dem Leser einen Einblick in die Vorstellung der Figur gewährt, aber eben nicht zur personalen Sichtweise wechselt,
voller Name - Blick von außen auf die Figur, die schon gar nicht Wachmeister auf die Idee kommt von sich als Wachmeister Anton Lerch zu denken
gleichzeitig - Blick von außen auf die Handlung der Figur
vermutete - weicherer Zeiger, könnte durchaus auch PE verwenden, aber jede weitere Wahrnehmung jenseits der Vermutung treten nicht hinzu, also schwächt er den AE nicht
so bewog ihn das alles zusammen - das ist eine Erzählerbewertung der Handlungen der Figur
Und am Ende wieder Ausstieg über den Artikel + Wachmeister.
Das ist nicht personal erzählt, sowas von überhaupt nicht, sicher nicht auf der Zeichenebene, aber auch nicht auf allen anderen
Und was ist ein gemäßigt auktorialer Erzähler?
Zitat
Ganz verstehen wir das aber noch nicht, weil wir in der TA noch nicht so weit sind. Soviel aber können wir schon sagen: Teil 1 ist der sujetlose Teil des Texte. Das ist also der Teil, in dem die Handlung noch nicht eingesetzt hat.
Wieso? Die Handlung setzt im ersten Satz ein, aber spätestens im dritten baut sie Spannung auf: "Kaum hatte das Streifkommando die äußerste Vorpostenlinie der eigenen Armee etwa um eine Meile hinter sich gelassen, als zwischen den Maisfeldern Waffen aufblitzten und die Avantgarde feindliche Fußtruppen meldete." Ab dem vierten ist sie handlungsgeprägt: "Die Schwadron formierte sich neben der Landstraße zur Attacke, wurde von eigentümlich lauten, fast miauenden Kugeln überschwirrt, attackierte querfeldein und trieb einen Trupp ungleichmäßig bewaffneter Menschen wie die Wachteln vor sich her."
Nur weil diese nicht direkt an menschliche Figuren gebunden ist, heißt das noch lange nicht, dass es keine Handlung gibt.
Und mit Verlaub, was "wir" verstehen, weißt du nicht, du weißt, was du verstehst. Das ist keineswegs zwangsläufig das, was die Methode zum Ergebnis haben kann oder irgendeiner von uns so sieht.
Zitat
Anders ausgedrückt: Sehr viele Texte etablieren am Anfang ein Modell der Welt, sie zeigen uns, was der Hintergrund = Folie = Grundlage für den Text ist. Der Text stellt uns in diesem Teil die Welt nur vor, den Raum, die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Es wird eine Grundordnung präsentiert – die nur deshalb aufgestellt wird, damit sie später verletzt werden kann = damit später die anfangs gezogenen raumsemantischen und anderen Grenzen von der Hauptfigur (und nur von ihr) überschritten werden können.
Das ist ja durchaus richtig, aber du lieferst keinen Beleg, dass das innerhalb eines auktorialen Erzählers wie dem der Reitergeschichte auch so ist. Die einzige Grundlage dafür ist die Annahme, dass der Protagonist zwangsläufig ein Mensch sein muss. Das ist eine mögliche und sicher die konventionelle Lesart, aber durchaus nicht die einzig mögliche,
Zitat
Ein bekanntes Beispiel dafür sind Stadt- oder Dorfgeschichten. Die meisten klassischen Western im Film sind Dorfgeschichten und funktionieren so: Am Anfang des Textes wird die Westernstadt gezeigt, wie sie normal funktioniert, ausgewählte Figuren und ihre Beziehungen zueinander werden gezeigt. Und dann reiten die Schurken in die Stadt und die Handlung beginnt, weil die anfangs etablierte Grundordnung gestört wird.
Hier müssten wir uns erst einmal darauf einigen, was Handlung ist. Für mich sind schon die Interaktionen zwischen den Figuren in der gesetzten Welt Handlung, für dich offensichtlich nicht. Wieder mangelt es an Definitionen, ohne die die STA einfach nicht funktioniert, weil man nicht über den Gegenstand sprechen kann.
Also, was ist Handlung, was sind im Gegensatz dazu die Interaktionen der Figuren und der Welt in der geordneten Eingangssituation?
Zitat
Genau das tut HvHT hier auch: Er zeigt einen Raum, stellt Figuren und ihre Beziehungen vor. Er zeigt z.B., dass die Figuren in einer gesellschaftlichen Gruppe mit starker Kohäsion vertikal-hierarchisch integriert sind.
Zitat
Eines müssen wir noch bedenken: Das Gebiet außerhalb der Stadtmauern ist von jeder semantisch anders besetzt als das Innere. Traditionell waren die Richtstätten außerhalb der Stadtmauern, wohnten da die ärmeren Menschen, die ohne Bürgerrechte, war da die Bannmeile, die heute noch im französischen Wort für Vorstadt: banlieu fortlebt.
Das ist MA, die junge Neuzeit hat die Vorstädte zu Villenvierteln aufgewertet, Hamburg, Edinburgh, London, Berlin, sogar Wien. Welches Referenzsystem hat der Text benutzt? Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Du?
Liebe Grüße
Judith