TA 4: Rilke und Hofmannsthal

  • Zitat

    Original von AchimW


    Zuerst einmal finde ich die Sprache für eine Höllenfahrt sehr, sehr nüchtern...
    Achim



    Da bin ich jetzt aber baff, lieber Achim, wo ich doch hin und wech bin von HvHT´s glühenden Worten...und genau die sinnlichen Beschreibungen der Orte, ziehen mich in die Gefühlswelt des Wachtmeisters Lerch hinein. Das HvHT einfach drauf: über die Dingewelt das Innere verdeutlichen. Wie z.B. hier, in meinem Lieblingsgedicht von ihm:


    Die Beiden

    Sie trug den Becher in der Hand
    - Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand -,
    So leicht und sicher war ihr Gang,
    Kein Tropfen aus dem Becher sprang.


    So leicht und fest war seine Hand,
    Er ritt auf einem jungen Pferde,
    Und mit nachlässiger Gebärde
    Erzwang er, daß es zitternd stand.

    Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
    Den leichten Becher nehmen sollte,
    So war es beiden allzu schwer:
    Denn beide bebten sie so sehr,
    Daß keine Hand die andre fand
    Und dunkler Wein am Boden rollte.


    ...seufz....


    wie kann man schöner die Aufregungen der Liebe (und noch so viel mehr) umschreiben?



    Zitat

    Original von AchimW
    Da ich kein Germanist bin, stehe ich staunend vor den Theorien, die Thomas hier vor uns ausgebreitet hat und lerne...
    Achim


    dem schließe ich mich hier an, wenn ich darf. Ich kann Texte nur rein intuitiv erfassen...das dann wiederzugeben, fällt mir oft schwer.
    Umso spannender, hier völlig neue Ausdrücke und Werkzeuge zu begreifen...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

    Einmal editiert, zuletzt von lametta ()

  • Hallo Achim,


    guckt du hier.


    Für mich wird immer klarer, warum es so schwierig ist, bei gerade diesem Text mit der STA Ergebnisse zu erzielen. Die Räume sind nicht binär. Selbst in Mailand gibt gleichzeitig Bedrohung und Versprechen, fast überall sonst auch. Die semantischen Zuordnung greifen zu grob, gerade weil Hoffmannsthal so intensiv mit (Kleinst)-Räumen arbeitet, die aber nie .einfach so in zwei "Untermengen" zu unterteilen sind.


    Die Grenzüberschreitungen sind auch nicht eindeutig. Ja, Lerch will Besitz und Anerkennung, aber der Rittmeister will die Schwadron bewahren (und wahrscheinlich natürlich auch sein Leben). Und er überschreitet die Grenze eben auch, denn er stellt den Lerch nicht vor ein Kriegsgericht, sondern erschießt ihn.


    Vielleicht ist das der Grund, warum die Schönheit verloren geht, denn die Ordnung ist nur zu halten, wenn man gegen sie verstößt. Damit hätte auch die Schwadron als "Held" eine Grenze zur Grausamkeit überschritten.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Original von Judith
    … Die semantischen Zuordnung greifen zu grob, gerade weil Hoffmannsthal so intensiv mit (Kleinst)-Räumen arbeitet, die aber nie .einfach so in zwei "Untermengen" zu unterteilen sind.



    Judith


    Liebe Judith,


    ist das so? Hat HvHt (um mal bei TWJs Abkürzungen zu bleiben) bewusst mit (Kleinst-)Räumen gearbeitet? Oder arbeitet die Literaturwissenschaft mit »Räumen« die sie in den Texten der Schriftsteller zu finden versucht?


    Da ein wesentliches Merkmal dieser TAs ja das Handwerkliche sein soll interessiert mich dies brennend.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Lieber Horst-Dieter,


    *seufz* noch mehr Text??? Aber, wenn's hilft... dann danke für die Arbeit :colts und für den Link


    Hallo Lametta,,,
    sorry, ja, dabei bleibe ich. Rilke läßt mich - nach meinem höchstpersönlichen Gefühl, viel näher an seinen Protagonisten heran, vielmehr hinein. Bei Rilke habe ich das Gefühl, ich erlebe die Geschichte durch seinen Cornet hindurch. Bei Hoffmannsthal blicke ich eher von oben drauf. Glühende Worte? Hat das jetzt was mit Genetik zu tun, wenn das so unterschiedlich aufgenommen wird??? :achsel
    Für mich ist das echt ein distanzierte Blick durch die militärische Brille, wie ein Mensch an seinen eigenen Begierden vor die Hunde geht. Ich geb zu, ich habe jetzt nicht tagelang über den Texten gebrütet. Ich habe sie spätabends gelesen und dann hat sich meine Meinung so gebildet.


    Hallo Judith,
    danke für den Link. Auch wenn er noch mehr Arbeit bedeutet :bonk. Muss wohl sein :bonk Nicht-binäre Räume? :bonk Kleinst-Räume? :clown ;( Ich dachte bisher, wir Beamten drücken uns kompliziert aus. Aber die Germanisten schlagen uns um Längen!!! :bier


    Okay, ich stürze mich in die Arbeit und suche nach Kleinst-Räumen...


    ... mit einem großen, gefüllten BETONMISCHER! :colts


    Liebe verwirrte Grüße
    Achim

  • Hallo Stefanie,


    na ja, das Problem ist, dass die Methode - wie alle literaturwissenschaftlichen Methoden -, dazu da ist, mit viel Aufwand in einem Feld zu arbeiten, das man gut kennt. In der Situation war ich weder, was die Übung im Umgang mit der Methode betrifft, noch die Zeit und das Umfeld des Texte.


    Außerdem sind sie alle samt darauf ausgerichtet, bestehende Texte zu untersuchen. Dass dabei Ergebnisse herauskommen können, die auch dem Handwerk zum Erstellen dieses Forschungsgegenstandes dienen, ist wahrscheinlich, aber für Autoren eben nicht der einzige Weg, dahin zu kommen. Und sicher nichts der einfachste, weil er so viel Vorarbeit braucht, die eben die Wissenschaft ausmacht.


    Wenn man semantische Zuordnungen einfach nur aus der Liste auswählt, tut man Lotmanns Ansatz Unrecht. Wenn man es intuitiv tut, kann man treffen oder auch nicht (und da wären wir wohl einzuordnen, allesamt), wenn man es "wisschenschaftlich" machen will, braucht es erst einmal einen Datensatz, den man bearbeiten kann.


    Um handwerklich Grenzüberschreitungen zu untersuchen, wäre es IMHO durchaus nützlich, sich auch mal eine wissenschaftliche STA zu einem Text vorzunehmen, da ist die Daten-Arbeit erledigt, und sich dann die Strukturen im Text anzusehen, mit denen diese Räume erzeugt werden. Überhaupt denke ich, dass literaturwissenschaftliche Methoden auf diese Weise das Handwerk leichter erschließen.


    Nur, essentiell sind sie eben nicht, dafür, dazu reichen die einzelnen Texte.


    Liebe Grüße
    Judith.

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Original von Horst Dieter


    ...ist das so? Hat HvHt (um mal bei TWJs Abkürzungen zu bleiben) bewusst mit (Kleinst-)Räumen gearbeitet? Oder arbeitet die Literaturwissenschaft mit »Räumen« die sie in den Texten der Schriftsteller zu finden versucht?


    Da ein wesentliches Merkmal dieser TAs ja das Handwerkliche sein soll interessiert mich dies brennend.
    Horst-Dieter


    Da sich das in Hofmannsthals Texten immer wieder findet ist das wohl eines seiner Stilmittel und genau das, was mich an seinen Gedichten immer wieder fasziniert. Er schein kühl zu bertrachten, macht dies aber mit einer Sprache, die ihn sogleich wieder lügen straft und als ganz dicht dran entlarvt...
    Wieviel davon bewusst ist, wusste nur er selber...
    Und ist es so nicht immer in der Kunst: Die Schönheit (Ästhetik, etwas rund finden...etc...) liegt im Auge des Betrachters...

    [buch]3866855109[/buch]


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  • Hallo Achim,


    na ja, das hängt ja ganz von deiner Neugier ab, ob du dich dem aussetzt. :D


    Wenn es dir um den Strukturalismus geht, ist es aber viel spannender den anderen Lotmann zu lesen, der sich damit beschäftigt, wie Sprach- und andere Kulturakte Neues schaffen:


    ASIN/ISBN: 3518294962


    und besonders:


    ASIN/ISBN: 3518295446


    LIebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Original von lametta

    Und ist es so nicht immer in der Kunst: Die Schönheit (Ästhetik, etwas rund finden...etc...) liegt im Auge des Betrachters...


    Das mag sein, aber darüber will ich jetzt gar nicht diskutieren. Es geht uns ja um das: "Wie hat er's gemacht?" neben dem "Wie hat er's gemeint?" Insofern ist meine Frage an Judith noch offen.

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Judith,


    es ist ja bald Weihnachten und meine Frau sucht noch Geschenkideen :D.


    Ich glaube, allein schon solche Begriffe wie »semiotischen Explosionen« sind den Preis für den Lohmann wert 8-).


    Liebe Grüße
    Achim

  • Hallo Horst-Dieter,


    Zitat

    Original von Horst Dieter


    Liebe Judith,


    ist das so? Hat HvHt (um mal bei TWJs Abkürzungen zu bleiben) bewusst mit (Kleinst-)Räumen gearbeitet?



    Das sind drei Fragen, von denen ich erst mal nur zwei beantworten kann, weil ich da noch so einen Reader fertigstellen muss.


    Ob der das bewusst getan hat, kann ich nicht beantworten. Ob das die können, die ausreichend tief in der Materie stecken, weiß ich nicht. Für das Handwerk ist das aber auch nicht wichtig IMHO.


    Zitat


    Oder arbeitet die Literaturwissenschaft mit »Räumen« die sie in den Texten der Schriftsteller zu finden versucht?


    Genau daraus ist der Ansatz der STA entstanden, Lotmann stellt sie den chronologischen, an der Wortfolge entlang arbeitenden Methoden gegenüber und versucht, die Grenzen zu finden, an denen Neues entsteht.


    Hier käme dann das Handwerk auch ins Spiel. Welche Stilmittel eingesetzt werden oder entstehen, wenn die beiden Räume einander begegnen.



    Zitat


    Da ein wesentliches Merkmal dieser TAs ja das Handwerkliche sein soll interessiert mich dies brennend.


    Horst-Dieter


    Zu den Kleinsträumen versuche ich nachher noch mal ein Beispiel auseinanderzubauen, ganz ohne STA.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



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  • Zitat

    Original von AchimW
    Hallo Judith,


    es ist ja bald Weihnachten und meine Frau sucht noch Geschenkideen :D.



    Achim


    Echt? Du schenkst deiner Frau Bücher von Lotmann?

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Leute,


    1. Was ist das für eine Geschichte und was war das für ein Typ, der sie schrieb? Ich fange mal mit der Geschichte an, verrate alles gleichsam schon vornweg, und dann schauen wir, ob die Text gewissermaßen zur Analyse passt.


    2. Für mich ist der Cornet eine Coming-of-Age-Story. Unter dieser Rubrik kann man eine ganze Anzahl verschiedener Typen von Geschichten subsumieren, auch Romane und Theaterstücke, die sich aber alle auf ein Strickmuster reduzieren lassen.
    In CoA-Geschichten geht es immer um die Probleme, die ein Mensch hat, wenn er vom Kind/Jugendlichen zum Erwachsene wird. Die hauptsächlichen Gegensatzpaare, die diese Geschichten durchziehen und ihre Figuren organisieren, sind diese.


    - Kind/Jugendlicher: - abhängig – unselbständig – nicht geschlechtsreif – sexuelle Identität nicht ausgebildet - noch nicht in die Gesellschaft mit allen Funktionen integriert – sucht Sinn und Aufgabe des Lebens - hat Identität noch nicht gefunden – hat noch keine Rolle in der Gesellschaft übernommen;


    - Erwachsener: unabhängig – selbständig – geschlechtsreif – sexuelle Identität ist ausgebildet - funktional in die Gesellschaft integriert – hat Sinn und Aufgabe (Identität) gefunden – hat seine Rolle in der Gesellschaft übernommen;


    3. In allen Gesellschaften und seit jeher wurde der Übergang (Transition) von der Jugend ins das Erwachsenenalter als problematisch erfahren und ist deshalb immer eines der zentralen Themen aller Gesellschaften. In vielen Stammesgesellschaften gab und gibt es noch Initiationsriten, die die Aufnahme des jugendlichen in den Kreis der erwachsenen Männer oder Frauen rituell und zeremoniell überhöhen und so auf der Symbolebene den Übergang erleichtern und abschließen.


    Nelson Mandela hat z.B. in seiner interessanten Autobiographie seine Beschneidung und den Adoleszenz-Ritus seines Stammes (der Xhosa) mit Humor, Einfühlungsvermögen und der warmen Fähigkeit zur Erinnerung beschrieben, die den ganzen Menschen Mandela auszeichnet.


    Es gibt viele Symbole und Riten, die die Aufnahme des jungen Mannes in den Kreis der Erwachsenen anzeigen: Er darf Pfeife rauchen, in den Krieg ziehen und töten, die Purpurtoga tragen, die Feinde essen, er darf im Männerhaus schlafen, mit den Männern jagen, er erfährt Geheimnisse, lernt Zaubersprüche, die Stellen, wo das beste Wild sich aufhält, macht einen Führerschein, muss Mutproben (Komasaufen, private Autorennen) ablegen etc.


    All diese Riten und Akte, die sich immer auch symbolischen Überhöhungen (Tätowierungen, Haarschnitte, Kleidung, Tragen von Gegenständen, neue Namen etc.) niederschlagen, sollen dem Jugendlichen zeigen, dass seine Kindheit nun endgültig vorbei ist, dass er (oder sie) nun für immer zur Gesellschaft der Erwachsenen gehört, wo er mehr Freiheiten, aber auch mehr Pflichten und Verantwortung hat.


    4. Drei Dinge vor allem sind es, die im Übergang vom der Jugend zum Erwachsenenalter wichtig sind:


    - a) die noch nicht vorhandene sexuelle Identität von Kindern und Jugendlichen muss durch eine klare und eindeutige sexuelle Identität ersetzt werden. Kinder gelten in vielen Gesellschaften als vorsexuell (das Mädchen) und geschlechtlich nicht festgelegt, weshalb vorübergehende homoerotische Neigungen, die viele Kinder haben, von fast allen Gesellschaften tabuisiert und radikal bekämpft werden.


    Das ist mit einer der Gründe, warum in fast allen traditionellen Gesellschafte Homosexualität so radikal bekämpft wird. Die Gesellschaft will das Individuum in sexuelle Rollen zwingen, die hauptsächlich einer ungehinderten Fortpflanzung dienen.


    - b) die Kindheit und Jugend gilt als Zeit der Sorglosigkeit, aber auch der Triebhaftigkeit und der Zeit, in der das Leben nicht oder kaum kontrolliert ist. Im Erwachsenenalter verlangen nun die meisten Gesellschaften eine strenge Triebkontrolle (nicht nur der Sexualität, sondern auch von Faulheit, Fresssucht, Gewaltbereitschaft) bzw. eine Kanalisierung der sexuellen Triebe in der Ehe.


    - c) schließlich verlangen alles Gesellschaften (bis auf moderne westliche Industriegesellschaften), dass der Erwachsene eine funktional nützliche Rolle in der Gesellschaft einnimmt und diese als sinnhaft begreift, sie lebt und vertritt;


    - das Ziel aller Gesellschaften bei der Initialisierung der Jugendlichen in die Gesellschaft der Erwachsenen ist es immer, ihnen eine stabile, funktionale Identität zu geben, die ihr reibungsloses Funktionieren in der Gesellschaft ermöglicht und garantiert.


    Die Resultat einer erfolgreichen Sozialisation (= erfolgreiches Hineinwachsen in die Gesellschaft) ist dann immer das gleiche: Der Erwachsene lebt in einer stabilen Partnerschaft, hat eine Rolle übernommen, die sowohl von der Gesellschaft um ihn herum als auch von ihm selber als sinnvoll wahrgenommen wird; kann sich die meisten komplizierten Phänomene in der Welt (Geburt, Tod, Erschaffung der Welt) im Bezugssystem einer stabilen und überzeugenden symbolischen Ordnung (Mythos, Religion, naturwissenschaftliches Weltbild) erklären, funktioniert und tut dann i.G.u.G. das, was die anderen auch tun und was von ihm erwartet wird.


    4. Es ist klar, dass die Erzeugung solcher Erwachsener in jeder Gesellschaft ein großes Problem darstellt, das den meisten Menschen, insbesondere aber den Priestern, Philosophen, Sinnstiftern und Lehrern immer auch bewusst ist.
    Eine der Hauptschwierigkeiten bei einer erfolgreichen Sozialisation ist der Konflikt, der sich zwischen den älteren und der jüngeren Generation abspielt, meist also zwischen Eltern und Kindern, oft aber auch zwischen den Alten, die jetzt die Macht haben, und den Jungen die sie später haben werden, aber jetzt schon wollen, und natürlich zwischen den Sinnstiftern, den Ideologen von heute und den Ideologen von morgen.


    (Seitengedanke: Die RAF war nichts anderes als die militante und mörderische Zuspitzung in einem Generationskonflikt, der durch das Dritte Reich verzögert und zugespitzt worden ist und dem durchaus eine gewisse Berechtigung innewohnte. Das ist auch der Grund, warum in der linken Folklore die RAF sich bis heute beträchtlicher Sympathien erfreut.)


    5. Natürlich kann auf diesem Wege der Transition vieles schiefgehen. Und da Literatur sich kaum jemals mit der Bestätigung einer bestehenden Welt und mit der reinen Darstellung der sujetlosen Welt („Gabi ist heute nicht vom Rad gefallen“ ist nicht erzählenswert) beschäftigt, sondern immer mit dem Außergewöhnlichen, der Verletzung von Normen und der Überschreitung von Grenzen (der Teufel ist als Pudel erschienen; Raskolnikow hat die alte Frau mit einem Hackebeil erschlagen; Stiller wird verhaftet und behauptet, nicht Stiller zu sein), beschäftigt sich Literatur bei Coming-of-Age-Stories öfter mit einem verfehlten Übergang zum Erwachsenenleben, als mit einem geglückten. Die sind die Fehler, die beim Übergang von der Jugend zum erwachsenenleben passieren können:


    - a) Es findet gar kein Übergang statt: d.h. der Jugendliche wird zwar älter, bleibt aber sein ganzes Leben lang ein Kind, wird also nicht funktionierender Teil der Erwachsenengesellschaft, nimmt keine Vernünftige Rolle ein, verdient kein Geld, übernimmt keine Ämter, integriert sich nicht, heiratet nicht, hat keine Kinder, ist also unnütz.


    Das vielleicht schönste Beispiel für diese Art von Geschichte ist der Arme Spielmann von Grillparzer. Viel von ETA Hoffmann gehört dazu, fast alle längeren Texte von Eichendorff, Brentano, Achim von Arnim, viel bei Thomas Mann (Tod in Venedig: bestes Beispiel für eine Hauptfigur, die ihre sexuelle Identität nie gefunden hat und daran zugrunde geht), jede Menge bei C.F. Meyer, Gottfried Keller, Leute aus der zweiten Reihe wie Jacob Wassermann, Ernst Weiss etc.


    Diese Art von Geschichten waren die Lieblingsgeschichten der literarischen Romantik und sie sind oft bis heute unwiderstehlich. Die Romantik hat hunderte, tausende von Sonderlingen, Freaks, Kranken und Künstlern zum Thema ihrer Geschichten gemacht, und alle sind eigentlich Figuren, die den Übergang in die Erwachsenengesellschaft nicht vollzogen haben und damit gesellschaftlich gescheitert sind.


    Diese Geschichten sind nie tot zu kriegen, insbesondere, das bereits Büchner (Lenz) den von der Gesellschaft ausgestoßenen, der den Übergang nicht schafft, von der Aura des Versagers befreit hat und zum wahren Helden stilisierte.


    - b) Reifeverzögerung: Das ist ein einfaches Modell, das aber ebenfalls viele Anhänger hat: Die Transition vom Jugendlichen zum Erwachsenen dauert länger als üblichen und manchmal dauert sie ein ganzes Leben. Forrest Gump wäre ein Trivialbeispiel, Pole Poppenspäler eines aus dem Realismus.


    - c) Transition wird vollzogen, endet aber mit dem Tod: Das ist ein komisches Modell. Die literarische Figur wird erwachsen, stirbt aber unmittelbar oder bald danach. Das ist beim großen Gatsby so, natürlich bei Francis Macomber, überhaupt ist das bei vielen sehr männlichen Helden der Fall und bei Autoren, die Geschichten gerne um die Kriege und bewaffnete Konflikte ranken, Kipling wäre ein anderes Beispiel.


    - d) Transition wird vollzogen und endet erfolgreich: Das ist natürlich Wilhelm Meister, die zweite Version des grünen Heinrich und praktisch alle Geschichten nach dem Muster: Boy meets girl, looses girl to another man, wins girl back, then marries her (oder umgekehrt). Die Hälfte aller amerikanischen sog. "Romantic Comedies“ läuft nach genau diesem Muster.

  • Jetzt schauen wir uns mal an, wo und wie der Cornet da hineinpasst.


    Wir können den Cornet in drei Teile zerlegen:


    1.Teil: REITEN, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht … Hoch willkommt das Horn. Horch: Poltern, Klirren und Hundegebell ! Wiehern im Hof, Hufschlag und Ruf.


    2. Teil: RAST ! Gast sein einmal. … Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.


    3. Teil: IM Vorsaal über einem Sessel hängt der Waffenrock, das Bandelier und der Mantel von dem von Langenau … Dort hat er eine alte Frau weinen sehen.
    Semantisch können wir die drei Räume so charakterisieren:


    1. Teil: kindhaft - vorsexuell – teilweise homoerotisch – sexuelle Identität noch nicht eindeutig ausgebildet - gemeinschaftlich – Mutterbindung nicht gelöst


    Textstellen: der kleine feine Franzose, ist wie ein Kind, auf seinem feinen weißen Spitzenkragen, blüht der Kleine noch einmal auf, JEMAND erzählt von seiner Mutter, Klein war


    Hier ziehen also Kinder in den Krieg, die sich gegenseitig erotisch anziehend finden und starke Mutterbindungen haben. Der kleine Franzose hat eine Freundin (die aber aussieht wie die Hauptfigur, also der von Langnau) und ist bereits sexuell initiiert.


    Durch die Weitergabe des Rosenblattes (das Liebessymbol schlechthin, steht aber auch für Verschwiegenheit und Sex) beginnt er die Initiierung der Hauptfigur in ein sein erotisches Leben und die allmähliche Loslösung von der Mutterfigur. Das ist die erste Stufe des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen.


    Kaum später wird die Hautfigur vom General persönlich zum Standartenträger ernannt und steigt nun in der Hierarchie der Gemeinschaft höher. Er beginnt also in der vom Text aufgestellten Gesellschaft eine höhere Funktion einzunehmen und wächst somit in die Gesellschaft hinein - er übernimmt eine spezifische, sogar glanzvolle Rolle.


    2. Teil: - sexuell – heterosexuell – sexuelle Identität klärt sich - weniger gemeinschaftlich – individueller – funktionaler


    Die Devise ist jetzt: Cherchez la femme, aber zweimal noch widersteht der Cornet dem Ruf der Frau:


    Die Hauptfigur lehnt den sexuellen Kontakt mit der Frau, die an den Baum gebunden ist, ab (Und er schaut: es bäumt sich. Es bäumt sich ein Leib, den Baum entlang, und ein junges Weib, blutig und bloß, fällt ihn an: Mach mich los !, Ihn graust), worauf er gleich an die Mutter schreiben muss.


    Erst im Schloss mit einer älteren, verheirateten Frau kommt es dann zum tatsächlichen sexuellen Kontakt, der auf dieser Ebenes das Erwachsenwerden des Cornets abschließt.


    EINER, der weiße Seide trägt, HAST Du vergessen, daß Du mein Page bist für diesen Tag? Verlässest Du mich? Wo gehst Du hin? Dein weißes Kleid gibt mir Dein Recht -. «


    Hier kommt es nun zu einer Substituierung von Figuren: der Cornet ersetzt den Gatten der Gräfin, während die Gräfin seine Mutter ersetzt.


    Rilke hat für die Initialisierung seiner Hauptfigur ein Model (ältere verheiratete, erfahrene Frau schläft mit jüngerem, unerfahrenem Mann) gewählt, das nicht nur eine gewissen Passivität der Hauptfigur unterstellt, sondern dem er selbst sein ganzes Leben lang gefolgt ist. Rilke hatte am liebsten sexuelle Beziehungen mit Gräfinnen und Herzoginnen, je älter und je reicher desto lieber.


    3. Teil: - sexuell initiiert – sozial integriert – Rolle gefunden - Mutterbindung gelöst - Transition abgeschlossen - Tod


    Der 3. Teil baut sofort einen Konflikt auf zwischen der Sphäre der Sexualität und der der gesellschaftlichen Rolle. Der Cornet ist ein Krieger und als Standartenträger via die große symbolische Bedeutung der Fahne für die Gemeinschaft wichtiger, als die hierarchische Stellung der Figur dies eigentlich rechtfertigen würde.


    Die Hauptfigur muss nun eine Entscheidung treffen: Weiter im Bett liegen bleiben und Sex haben – oder seine Rolle draußen in der Gesellschaft wahrnehmen und – sterben.
    Ein Grund dafür, warum dieser Text ein Jahrhundert lang lang nun schon so beliebt ist, ist u.a. der, dass er recht einfach gestrickt ist. Dreimal (Märchen, Bibel) ruft die die Gesellschaft nach der Hauptfigur – bis der Cornet endlich in der Lage ist, die Frau durch die Fahne zu substituieren, was der Text ohne große Subtilität so ausdrückt: Auf seinen Armen trägt er die Fahne wie eine weiße, bewusstlose Frau.


    Fazit: Der Text von Rilke ist wesentlich einfacher gebaut als der Text von HvHT, was zu einem Teil seine Beliebtheit erklären mag. Rilke liefert hier seine Version eines Themas ab, das wahrlich ein paar tausend Jahre alt ist. Auf der höchsten semantischen Ebene haben wir es mit dem Konflikt zwischen Kindheit/Jugend und Erwachsenenwelt zu tun. Der Text greift die beiden wichtigsten Aspekte dieses Übergangs paradigmatisch auf: Einmal auf der Ebene der Sexualität und dann auf der Ebene der Integration in die Gesellschaft. Der Text favorisiert eindeutig die Integration in eine eng und hierarchisch konstruierte Gesellschaft gegenüber einer ausschweifenden Sexualität.


    Stellt sich nun noch die Frage, ob der Tod der Hauptfigur die Integration in die Gesellschaft negiert. Meine Antwort ist recht einfach: Glaube ich nicht. Der Tod des Protagonisten ist eine konventionelle narrative Formel, Rilke steht hier in einer sehr langen Tradition eines Diskurses, der sich schon bei Homer findet.

  • Beim HvHT fehlt noch Teil 4 und dann möchte ich noch gerne beide Texte vergleichen und ein paar Überlegungen dazu anstellen, ob und inwiefern die STA für das eigene Schreiben hilft.


    Eines sage ich gleich vorweg: Es gibt keinen Literaturwissenschaftler, der nicht heimlich selber schreibt, alle Germanisten, Theaterwissenschaftler, Anglisten – die ganze Michpocke eben, die haben alle die Schulbladen voll mit Texten. Nur wird selten was Gescheites daraus, eine große Ausnahme wird für immer Umberto Eco bleiben, aber auch der wird nur mit dem Namen der Rose überleben, mit dem aber ganz sicher.


    Ich denke persönlich, dass man überhaupt nichts von STA verstehen muss, um selber gut zu schreiben. Es gibt Talente, die sind so gut, so originell und solche geborenen Geschichtenerzähler, dass ihnen auch das Handwerk zufliegt. Tolstoi war so ein Typ, F. C. Fitzgerald, Lawrence, Katherine Mansfield – ach es gibt viele.


    Trotzdem denke ich manchmal gerne in den Kategorien der STA. Seit ich das als Student gelernt habe (und es gab Jahre meines Lebens, da habe ich mich damit sehr ausführlich beschäftigt und sogar eine Diplomartbeit darüber geschrieben), hat mich die Methode nie wieder ganz verlassen.


    Es ist ein bisschen so wie bei einem Musiker, der irgendwann mal Harmonielehre und Kontrapunkt studiert hat, und das vielleicht später aktiv nie mehr braucht. Aber er verfügt über das Wissen, und dadurch hört und versteht er Stücke anders. Das ist vielleicht das Entscheidende!

  • Bevor Achim vielleicht einen schweren Hautausschlag auf Lotman bekommt (und ja, der ist wirklich harter Stoff!), möchte ich gerne diese Einführung in die Literaturtheorie empfehlen, welche einen gut les- und fassbaren Überblick über alle wichtigen Literaturtheorien der Moderne bietet. Darin befindet sich auch ein Abriss über den Strukturalismus nebst Kritik daran. Toll ist auch das Einführungskapitel, in dem es nicht weniger als um die Frage "Was ist Literatur" geht. Wenn ich es mir recht überlege, wäre dieses Einführungskapitel auch ein guter Text, um hier diskutiert zu werden.

  • Hallo Leute,


    bevor ich mich jetzt wieder der Bilanzanalyse zuwende, die ab und zu auch recht schön ist, noch schnell einige Punkte:


    1. Der Cornet ist sicher nicht einer der Paradetexte für die Raumsemantik. Trotzdem kommen in dem Text natürlich topographische Räume vor. Die Frage ist natürlich, welche Bedeutungen (= semantische Felder) weist der Text diesen Räumen zu.
    Einfacher gefragt: Wie werden die Ebenen, durch die der Cornet reitet, beschrieben, welche Bedeutung haben sie? Wie sieht es mit dem Schloss aus?


    2. Coming-of-Age-Geschichten sind allgegenwärtig und machen mit die wichtigsten Geschichten auch in der modernen Literatur aus. So gehört z.B. der Fänger im Roggen, einer der am besten verkauften Romane des 20. Jahrhunderts, dazu, aber auch viele andere bekannte Geschichten, natürlich auch Filme.


    Hier wären ein paar rein zufällig ausgewählte Bespiele, alles Geschichten, in denen es um den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen geht:


    ASIN/ISBN: B0020K4YIW

    ASIN/ISBN: 3937793151

    ASIN/ISBN: 3499226022

  • Zitat

    Original von AchimW
    Da ich kein Germanist bin, stehe ich staunend vor den Theorien, die Thomas hier vor uns ausgebreitet hat und lerne schweigend... nicht ganz. Du schreibst, dass es das Vorrecht, des Protagonisten ist, die Grenze seines Raumes zu überschreiten, während die anderen Figuren in diesem Spiel innerhalb ihrer Grenzen zu verweilen haben. Habe ich dich richtig verstanden? Das wäre nach meinem Dafürhalten sehr... statisch und ich weiß nicht, ob ich dem würde folgen wollen. Jedenfalls nicht unbedingt als Prämisse für meine Plotterei.


    Hallo Achim,


    1. Spar dir das Staunen! Deinen Steuerberater bestaunst du auch nicht, weil er was vom Steuerrecht versteht und dich – hoffentlich – gut berät. Ich trage hier eine Theorie vor, die ich während meines Studiums anzuwenden gelernt habe. Das ist nichts Besonderes!


    2. Doch Achim, die Theorie der semantischen Grenzen und ihrer Überschreitung kann für dich beim Plotten sehr wichtig sein. Das ist das Herzstück der Lotmanschen TA, das hat Lotman so als erster bündig und überzeugend formuliert, und damit kann man auch gut arbeiten.


    Ohne diese Theorie kann eigentlich gar nicht definiert werden, wer die Hauptfigur ist, wer nicht, und was den Unterschied zwischen beiden ausmacht. Für dich selbst kannst du das gut einsetzen:


    - du kannst von vornherein klar definierte semantische Bereiche im Text gestalten;


    - du kannst deutliche Grenzen zwischen den Texten festlegen;


    - du kannst die Grenzen nur für eine oder zwei Figuren passierbar machen.


    Achim, nenn mir drei literarische Werke, die dich sehr stark beeindruckt haben, die du immer wieder gerne liest, oder von denen du was für dein Schreiben lernen konntest. Vielleicht kenne ich eines davon. Dann untersuchen wir ganz kurz gemeinsam, was die semantischen Räume ausmacht, schauen nach den Grenzen und definieren danach die Hauptfiguren. Du wirst verblüfft sein, wie gut das funktioniert.


    3. Übrigens: Die STA ist besonders beim Schreiben von Genre-Texten: Fantasy, SF, historische Romane etc. von allergrößter Hilfe. Gerade Leser von Genre-Texten, die keine „hohe“, sondern eben Unterhaltungsliteratur wollen, finden klare Strukturen, semantische Felder und deutliche Trennungen immer sehr wohltuend – und genau mit dem werden sie von erfolgreichen Autoren ja auch bedient.


    Was glaubst du, wie gut man den Herren der Ringe, die Sachen von Karl May, das Parfüm von Süskind, praktisch alle Vampir-Romane, die ganzen Werwolf-Geschichten, natürlich alle Märchen, Sagen und Mythen mit der STA analysieren kann.


    Auch bei guter SF, z.B. bei Solaris von Lem, würde das spektakulär funktionieren.


    Also, wirf mir drei Titel zu! I’m hungry! (Ich bin aus Ungarn).

  • Beginn: Als der Wachtmeister mit dem schönen Beutepferd zurückritt, warf die in schwerem Dunst untergehende Sonne eine ungeheure Röte über die Hutweide.
    Der vierte Teil ist dominiert von der Sphäre des Todes, die ganze Landschaft wirkt wie in Blut getränkt, alles ist rot, die Sonne geht unten und sogar die eigentlich weißen Uniformen wirken rot.


    Wenn es richtig ist, dass die Hauptfigur in Teil 3 die Warnungen vor Tod und Hölle ignoriert und in Verletzung der hierarchischen Ordnung der dargestellten sozialen Welt den Tod selbst angegriffen hat, dann muss nun der Gegenschlag kommen. An dieser Stelle zeigt sich, ob die bestehende soziale Ordnung, die hier durch die Armeeeinheit dargestellt wird, verletzt werden kann - oder nicht. Von einem revolutionären Text könnte man nun vielleicht erwarten, dass die Verletzung der Ordnung toleriert und vielleicht sogar durch die Infragestellung der Ordnung eine neue geschaffen wird.
    In der RG ist das aber nicht der Fall. Das Universum schlägt zurück. Die Hauptfigur muss bestraft werden und zwar maximal, eben mit ihrem Tod. Der Text präsentiert auf seiner Oberfläche die maximale Strafe überhaupt, die es für eine Disziplinverletzung in einer Armee geben kann: die standrechtliche Hinrichtung, ja fast schon eine beiläufige Ermordung, ohne Gericht, ja ohne den Wachtmeister auch nur gehört zu haben.


    In einer vielleicht etwas kühnen Interpretation schlage ich vor, den Rittmeister und den fremden weißen Offizier als zwei Gestalten einer Person, natürlich des Todes zu sehen. Die Hauptfigur hat in Teil 3 einerseits die höchste Autorität seines Truppenteils angegriffen, eben den Rittmeister, der hier als fremder Offizier (= Tod) auf einem fehlfarbenen Schimmel aufgetreten ist.

  • Auf der höchsten Ebene durchzieht den Text der Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft. Mit diesem Gegensatz sind einige semantische Subsysteme verknüpft. Alles zusammen können wir vielleicht so darstellen:


    Gemeinschaft (Armee): gemeinschaftlich – hierarchisch (vertikal integriert) – diszipliniert - Triebunterdrückung – gesund - lebendig – schön – funktional – christlich


    Hauptfigur (Wachtmeister): -individuell – hierarchielos – demokratisch – (horizontal integriert) – disziplinlos – keine Triebunterdrückung – krank – tot – hässlich – unchristlich bzw. glaubenslos.


    Die wichtigste Gegensatz ist der zwischen Gemeinschaft und Individuum, den der Text ganz klar so beantwortet, dass die Gemeinschaft wichtiger ist als das Individuum und ein totales Verlassen der Gemeinschaft nur mit dem Tod bestraft werden kann.
    Das ist das semantische Koordinatensystem, das hinter der Textoberfläche steht. Auf der Textoberfläche wird der Plot nun vom Autor so organisiert, dass die Hauptfigur sich sowohl topographisch (= auf der Ebene der Landschaft) als auch semantisch (= auf der Ebene der Bedeutungen, die der Text der Topographie als auch allen anderen Spähern zuweist) in exzentrischen Kreisen immer weiter von der Gemeinschaft entfernt. Mit Kreisen meine ich die Tatsache, dass die Hauptfigur nach jeder Entfernung von er Truppe wieder zuvor zurückkehrt, sich gleichzeitig im Inneren aber immer weiter von ihr entfernt.


    Die erste Entfernung findet nach dem Verlassen der Stadt Mailand statt und wieder durch die Begegnung mit einer Prostituierten ausgelöst. Dies führt auf der Ebene der Psyche der Hauptfigur zu erotischen Tagträumen, aber auch zu Gedanken, die die eigene Stellung innerhalb der Hierarchie in Frage stellen und letztendlich aufheben. Mit einem Wort: Der Wachtmeister fühlt sich höher und besser, als er ist.


    Die zwei Entfernung führt die Hauptfigur auf der topographischen Ebene in ein tiefer liegendes, halbverfallenes Dorf, das mit allen Zeichen einer Hülle (Gewalt, Nacktheit, Verfall) ausgestattet ist. Am Ende dieser Entfernung steht die Begegnung der Hauptfigur mit dem eigenen Spiegelbild, die ich als Warnung interpretiere: Der Wachtmeister sieht sich im Spiegel und soll sehen, dass er nur der ist, der er eben ist - und nicht mehr.


    Die dritte Entfernung verleitet den Hauptfigur dazu, einen Offizier zu töten, der auf einem Schimmel sitzt. Substituiere ich den bleichen, jungen Offizier auf dem Schimmel mit der Figur des Todes, dann stellt dies die dritte und stärkste Auflehnung gegen die Ordnung der Welt dar. Die Hauptfigur leugnet den Tod.
    Im letzten Teil wird diese Infragestellung der Ordnung durch die dargestellt Welt sanktioniert – und zwar mit dem Tod. In einer weiteren Substituierung wird der Tod nun durch den Rittmeister ersetzt, der sich seinen Schimmel zurückholt und den Wachtmeister nun erschießt.


    HvHT setzt sich in diesem Text also mit einer zentralen Frage jeder Weltordnung und jeder zeit, aber insbesondere auch seiner eigenen Zeit auseinander: Wie steht der Einzelne zur Gesellschaft? Was ist wichtiger? Wann und wie muss sich der Einzelne der Gesellschaft unterordnen, wie stark sind die Integrationsmechanismen der Gesellschaft, wann können sie gelockert werden? Wann sind sie wie und mit Sanktionen bewehrt durchzudrücken?


    HvHT war ein konservativer Mensch, der im Ersten Weltkrieg für den Krieg eintrat, aktive Kriegspropaganda (mit Artikeln und sogar einem Kinderbuch) betrieben hat, und nach dem Ende des Krieges den Verlust der Monarchie nie verwunden hat.
    In diese Haltung fügt sich die RT, in der eine straffe Gesellschaftsordnung zentripetalen Abweichungstendenzen machtvoll gegenübertritt, in Zeiten der Konfrontation strikten Triebverzicht verlangt und auch nicht die geringste Insubordination duldet, gut ein.