Dies ist keine Buchbesprechung im üblichen Sinne, sondern eher eine Genrebesprechung - oder eine Genre-Einführung - für die, die eigentlich überhaupt keine Comics lesen, so wie ich.
Für die, die Comics lesen, ist die Form des literarischen Comics sicher nicht neu (und ich freue mich über Empfehlungen!). Für manche aber vielleicht doch – wenigstens der ein oder andere Titel...
Ein paar Worte zu den Auswahlkriterien: Für mich waren Comics bis vor kurzem eigentlich überhaupt keine Kunstform. Wenn ich mal einen las, dann tat ich das, als wär’s ein Roman. Ich las im Wesentlichen die Texte, aus den Bildern zog ich nur die Informationen, die unbedingt notwendig waren.
Die meisten Comics sind dann ziemlich flach. Manchmal witzig, bestenfalls.
In Frankreich habe ich dann festgestellt, dass es nicht nur „Asterix“ gibt. Und dass dort ALLE Comics lesen (auch unter Literaturliebhabern fühlte ich mich wie der letzte Ignorant). Sehr verschiedene, das schon, und zum Manga- oder Fantasy-Fan bin ich nicht geworden. Noch immer ist mir der Text sehr viel wichtiger als die Bilder.
So viel zur sehr sehr subjektiven Auswahl.
In den folgenden Empfehlungen (Empfehlungen, keine Kritiken!) geht es also um Bücher, in denen Bild UND Text wichtig sind. Wo die Bilder eine richtig gute Geschichte erzählen, und trotzdem der Text nicht trivial ist (Fantasy-Freunde werden mich hängen, für diesen Satz.). Wo das Genre der Geschichte ein literarisches ist – und nicht ein unbedingt ein comic-übliches:
“Comics may no longer be the „real name“ for a narrative medium that intimately intertwines words and pictures but isn’t necessarily comic in tone.” (Art Spiegelman über „Graphic Novels“.)
So, wie ja schon in illustrierten Büchern die Bilder die Geschichte verstärken können, funktioniert das auch in literarischen Comics. Nur eben noch mehr – ein Teil des „Textes“ steckt nur in den Bildern. So dass man sogar Anregungen aus der bildlichen Umsetzung schöpfen kann: Die zeichnerische Darstellung der Panikattacken im „alltäglichen Kampf“ – wie würde ich das wohl mit Worten machen?
Voilà meine persönlichen Lieblinge. Deutsche Originale sind keine dabei, ich habe hier noch nichts gefunden, was aber nicht viel heißt. Das Genre der „Graphic Novel“ hat meines Wissens jedenfalls keine lange Tradition im deutschsprachigen Raum. Ein wenig länger ist die Tradition in Amerika (wohl jeder kennt Art Spiegelmans „Maus“), in Frankreich und Belgien.
Geordnet sind die Bücher nach... wie ich sie kennen lernte...
Paul Auster, Paul Karasik, David Mazzucchelli : Stadt aus Glas (City of glass)
Den Text muss man wohl nicht kommentieren. Die Umsetzung ins Bild fügt eine echte Ebene dazu – er enthält viel mehr, als nur die „Wer spricht mit wem und wo“ - Informationen. Die Zeichnungen sind schwarz-weiß, und häufig fast holzschnittartig - mit großen schwarzen Flächen. Die Atmosphäre ist bedrohlich, und sie wird es immer mehr, je mehr Quinn sich selbst verloren geht. Die zusätzliche Ebene ist besonders deutlich bei der Darstellung einzelner Monologe (oder innere Monologe) – oft über mehrere Seiten. Ein Beispiel: Als Quinn das erste Mal Peter Stilman begegnet, stellt dieser sich vor: “No questions, please. Yes. No. I am Peter Stillman. I say this of my own free will. That is not my real name. No. Of course, my mind is not all it should be, no. But nothing can be done about that. This is called speaking, the words come out for a moment and die. Strange, is it not? I myself have no opinion. (...)“. Zum gesamten Monolog gehören 65 Bilder, die vom Verschwinden handeln, und vom eingesperrt sein. Mit durchaus ungewöhnlichen bildlichen Metaphern (see yourself...).
Mit einem Vorwort von Art Spiegelman (« A Graphic Novel! Bah ! »), jedenfalls in der englischen Ausgabe (in der deutschen weiß ich’s nicht).
Marjane Satrapi: Persepolis 1-4
Auch in Deutschland kein wirklicher Geheimtipp mehr: Marjani Satrapi erhielt auf der Frankfurter Buchmesse 2004 den Preis für den besten Comic des Jahres.
In den vier Bänden ihrer gezeichneten Biographie erzählt Marjani Satrapi von ihrer Kindheit im Iran. Sie überlebt die islamische Revolution (1979) in der Atmosphäre ständiger persönlicher Bedrohung – sie wächst in einer Familie von Intellektuellen auf. Mit 14 wird sie ins Ausland geschickt, in Sicherheit – erst nach Wien, später zieht sie nach Paris. Die Erzählung beginnt mit ihrer Kindheit, führt dann ins Exil, beschreibt den Kulturschock in Wien, mitten im Erwachsen werden, und reicht über die Besuche der Eltern bis zu ihrer (vorläufigen) Rückkehr in den Iran und ihrer ersten Ehe (mit 21), bevor sie endgültig nach Europa (Paris) zurückkehrt. Die Bilder sind schwarz-weiss, und nicht sehr filigran, passen zum einfachen Erzählton des Kindes. Schon das erste überzeugt – es geht um die Frustration und das völlige Unverständnis der Zehnjährigen gegenüber dem neuen Kopftuchgesetz („Das bin ich mit 10 Jahren“- ein Mädchen mit Kopftuch. „Und das ist meine Schulklasse“ – vier Mädchen mit Kopftüchern) – und alle anderen auch.
Nur manchmal ein ganz klein wenig plakativ – man sollte im Kopf behalten, dass das Buch auf französisch geschrieben ist, und ganz klar für den westeuropäischen Markt – sozusagen auch als eine Art Einführung in die jüngere iranische Geschichte.
Comic.de: „Nach den bisherigen Erfolgen des Buches im Ausland, vor allem aber aufgrund der großen literarischen Qualitäten dieses Werks konnte die Entscheidung der Jury von comic.de kaum überraschen. COMIC DES JAHRES 2004 ist "Persepolis" von Marjane Satrapi.“
Jacques Tardi:
120, Rue de la Gare (Text Leo Malet), Nestor-Burma Reihe, Die Macht des Volkes Bd. 1-4
Jacques Tardi macht alles, Krimi, Geschichte, Kriegs, Sozialdrama, Romanillustration. Nur düster muss es sein. Meist schwarz-weiss (selten bunt), nicht jugendfrei, nicht optimistisch. Textanfang von « Broullard sur le pont de Tolbiac » (ein « Nestor Burma »-Krimi ) : Dans son regard la folie...
Unglaubliche Details in den Bildern – in Paris kann man die Straßen der Comics entlang laufen, mit dem Buch in der Hand nach oben sehen und Ecke für Ecke wieder finden. Für Comicanfänger vielleicht am ehesten geeignet: die Krimis um den Privatdetektiv Nestor Burma (z.B. 120 rue de la Gare). Nestor Burma läuft durchs Paris der 40er Jahre, raucht, trinkt, vögelt die Sekretärin und fängt manchmal auch einen Verbrecher (meistens nicht). Der Kriegshintergrund ist immer präsent, durch Patrouillen auf den Strassen, Lebensmittelknappheit, Ausgangssperren, und häufig auch durch die Natur der Verbrechen.
Für Hartgesottene: „Die Macht des Volkes 1-4“ erzählt die Geschichte der Pariser Kommune nach dem Roman von Jean Vautrin, „Grabenkrieg“ spielt in den Gräben des ersten Weltkriegs. Tardis Bilder sind grauenhaft, brutal, trotz der Farblosigkeit. Für mich hart an der Schmerzgrenze.
Manu Larcenet: Der alltägliche Kampf 1-3 (Le combat ordinaire)
Der alltägliche Kampf des Photographen Marco: Gegen seine Angstzustände, seinen faschistischen Nachbarn, die Alzheimerkrankheit und den Selbstmord seines Vaters und die Vietnamvergangenheit eines väterlichen Freundes.
Bücher über das Nicht-Erwachsen-werden-wollen, über die Zeit der Entscheidungen. Erinnert an so einige Berliner Kneipenromane, wo es den (Anti-)Helden ähnlich geht.
Nur hier heißt die Katze Adolf, weil sie so gemein sein kann – Franzosen machen so was.
"... am Ende ist nicht nur das kleine rothaarige Mädchen auf einmal die eigene Freundin, sondern auch die Sommerferien sind für immer vorbei. Ein großartiges, wunderschönes, bittersüßes Debüt." (Spiegel Online zu Band 1)
Ein Buch (ein Comic!), von dem ich wünschte, ich hätte ihn geschrieben. Also: geschrieben. Wüsste gerne, ob das geht. Eine Romanadaptation eines Comics, statt wie üblich umgekehrt ?
Charles Berberian, Philippe Dupuy: Monsieur Jean, Band 1 - 7
Für zwischendurch: M. Jean ist Schriftsteller in Paris, auch er ist anfangs mitten im Erwachsen werden. Dann jedoch stehen auch hier Durchbrüche an, und Entscheidungen: Das erste Buch, die erste feste Freundin, das erste Kind (nicht ganz freiwillig). Die alten Freunde sind jetzt entweder Unternehmensberater oder immer noch chaotisch links, und anfangs navigiert Jean ein bisschen hilflos zwischen alten und neuen Werten.
Insgesamt hat man das Gefühl, er wird mit den Autoren älter... ganz sicher aber wächst ihnen die Figur mehr und mehr ans Herz: Die ersten Bände bestehen noch aus kurzen (einseitigen) Geschichten, die dann immer länger werden. Jeans Charakter wird dabei immer mehr ausgemalt, auch die Zeichnungen werden immer präziser. Immer weiter geht es weg vom kurzen witzigen Comic – ich finde die Serie ab Band 3 richtig gut.
Wer französisch kann, sieht diese Entwicklung schon an den Titeln :
L’amour, la concierge - Les nuits les plus blanches - Les femmes et les enfants d'abord - Vivons heureux sans en avoir l'air - Comme s’il en pleuvait - Inventaire avant travaux - Un certain équilibre
Leider noch nicht auf deutsch !