"Anatevka", um wachzurütteln

  • Ich finde es wirklich wichtig, dass wir hier bei dem Thema "Kultur als Hilfe" (etwas Besseres ist mir auf die Schnelle als Motto nicht eingefallen) bleiben und uns nicht wieder in politischen Grundsatzgesprächen verzetteln.

    Anjas Ansatz hat viel für sich, finde ich. Unser Leo berichtete aus der Schule, dass ein Mitschüler das Video des Mörders aus Halle herumzeigte und einer sagte: "Warum schießt der mehrmals auf die Frau? Die ist doch schon tot. Das ist Munitionsverschwendung."


    Solche verrohten Seelen erreicht man wohl mit gar nichts mehr. Allerdings scheint mir, dass man mit Verweis auf den Nationalsozialismus von vornherein Trotz erzeugen kann. Vielleicht gehört Nationalsozialismus für einige Schüler zu einer durchaus erwünschten Provokation. Vielleicht ist die Zeit zu lange her, und (junge) Menschen sagen: Das war eine andere Zeit, und was damals war, hat mit unserer Wirklichkeit heute nichts mehr zu tun.


    Ein Musical wie "Anatevka" abstrahiert. Die Vertreibung dort stammt ja auch der Zarenzeit. Vielleicht kann das eine Hilfe sein, zusammen mit der Musik.


    Da fallen mir noch weitere Beispiele ein. Dieses etwa. Es stammt von 1997. Wirkt aber recht frisch.


    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Was mich an den Äußerungen dieses Mitschülers, die Alexander zitiert hat, am meisten irritiert: Mein Sohn ist nicht auf einer Brennpunktschule, sondern auf einem ganz normalen Oberstufengymnasium (so heißen hier in Ö. die Gymnasien, auf die man in der 9. Klasse wechselt).


    Ich kann mir zwar inzwischen (leider) vorstellen, dass die Neonazi-Szene auch auf den Gymnasien zu treffen ist. Aber die Wortwahl war so ... ja, ich würde es wirklich "verroht" nennen.


    Solche Menschen erreicht man weder mit Musicals noch mit Romanen oder Filmen. Aber vielleicht ein paar andere. Vielleicht sogar am ehesten die, die sich bisher gar keine Gedanken zu dem Thema gemacht haben.

  • Die Menschen, die sich gedanklich gegen Nationalismusvergleiche immunisiert haben, erreicht man auch nicht über andere Epochen oder ähnlich gelagerte Szenerien. Die machen gleich dicht, wenn Schlüsselbegriffe und/oder gewisse Personengruppen drin vorkommen oder fangen mit Leugnen oder Relativieren an. Die große Mehrheit dieser Vergangenheitsverweigerer möchte lieber ihren übertriebenen und gottesanbetungsähnlichen Nationalstolz ausleben dürfen. Da stören die schwarzen Flecken der Realität nur und folglich muss eine alternative Paralleldimension an dessen Stelle treten, die dann bis aufs Blut verteidigt werden muss, egal wie idiotisch diese Dimension daherkommt. Das läuft dann sowas wie der Film Iron Sky im Gehirn ab...in Endlosschleife.

  • Und ich will nicht nörgeln, aber mit Musicals erreicht man sie erst recht nicht. Das ist die politisch mit Sicherheit wirkungsloseste Kunstform von allen, noch hinter naiver Malerei, Origami und Liebeslürik. :evil:

    Wer mir wirklich, wirklich, wirklich wehtun will, der schleppe mich in ein verdammtes Musical. Das ist nämlich nicht nur die politisch wirkungsloseste, sondern auch noch die überflüssigste Kunstform von allen. Eine Mischung aus Operette, Schlager, Bauerntheater und Laienschauspiel. Grausig.


    Und jetzt bitte keine Liste von total tollen Musicals. Das ist oxymorotisch.

  • Wer mir wirklich, wirklich, wirklich wehtun will, der schleppe mich in ein verdammtes Musical.

    Okay. Dann anders. Dann eben nicht zur Prävention, sondern als Strafe für Glatzen: Erst ein paar Stunden "Evita" in Wiederholung, dann das "Phantom der Oper", dann noch ein bisschen "Cats" und "Starlight Express" - und zum Schluss dann "Anatevka". Wenn sie dann noch leben.


    (Auf "Westside Story" lass ich aber nichts kommen"!)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Wer mir wirklich, wirklich, wirklich wehtun will, der schleppe mich in ein verdammtes Musical.

    Ich würde dich niemals dorthin schleppen, so etwas haben wir auch mit unseren Kindern nicht gemacht. Für kulturelle Veranstaltungen gab es Vorschläge, die sie ablehben oder annehmen konnte. Auf diese Weise haben sie auch Musical erlebt, Theater und Oper. Operette habe ich schon der eigenen Befindlichkeit wegen ausgelassen. Als aber unsere Jungste plötzlich kam und wissen wollte, was eine Operette ist und ob wir uns so etwas nicht mal anschauen könnten, sind wir mit ihr zu einer Aufführung von Orpheus in der Unterwelt gegangen. Mit Offenbach macht man ja nicht so viel verkehrt. Da die Würzburger das gleich auch noch ein wenig modernisiert hatten - statt Pariser Cafe gab es die Döner-Bude und beim Abgang in die Hölle wurde Highway to hell gespielt - war unsere Tochter hell auf begeistert. Meine Warnung, das aber nicht auf das Genre 1:1 zu übertragen hat sie aber Ernst genommen. Dir würde ich "Lost in the Stars" von Kurt Weill empfehlen, weil das so weit von der üblichen Musical Masche entfernt ist wie Offenbach mit seinen Operetten vom restlichen Schmalz. Was ich eigentlich sagen will: Es kann ein Genre noch so Scheiße sein, irgendwo am Rand findet man dann doch hier und da noch einen Edelstein.

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    Emanuel von Bodmann


  • Schön. Wir wissen jetzt, dass Tom keine Musicals mag. Er ist jetzt auch allerdings nicht so wirklich die Zielgruppe von Anjas Idee. Neonazis hören auch wohl eher selten Kurt Weill. Was sie aber vielleicht sehr wohl hören, ist so was wie Udo Jürgens, wenn der "Griechischer Wein" singt.


    Um um solche Einfallstore geht es in diesem Thread.


    Ich recherchiere gerade für einen Krimi zu einer Untergruppe des Black Metal, die dezidiert nationalsozialistisch ist. Solche Subgenres könnte man evtl. auch umlenken auf andere Musik. Da sind die Hörer dann nur noch satanistisch. :evil

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Wir könnten gemeinsam ein Musical für (also eigentlich gegen) Neonazis schreiben und meine wilde These widerlegen. Vorschläge für geile Arbeitstitel könnten wir gleich zu sammeln anfangen. Und später jemanden suchen, der die Musik macht. Da wird sich auch jemand finden. Ich kenne Leute. ;)


    Die Idee ist vielleicht wirklich nicht schlecht ... ?!?

  • Hallo Tom,


    schön zu wissen, dass Du kein Musical-Fan bist:). Bin ich auch nicht, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. Dieser Film ist aber auch weniger Musical als eher ein Film mit Musik.

    Bei uns zu Hause lief das früher ganz autoritär: Wir bekamen alle ein Theater-Abo verpasst, und was da angeboten wurde, das wurde auch angeschaut:). Ähnlich mache ich das inzwischen mit meinem Sohn, fies autoritär: Ich lege fest, er hat anzuschauen. Und er kann von Glück reden, dass ich kein Wagner-Fan bin:).


    Ich denke, ab einem bestimmten Alter weiß jeder sehr genau, was er/sie mag und was nicht. Du solltest jetzt tatsächlich in diesem Alter sein ... Mein Sohn ist es noch nicht ganz, dem wird einfach von Zeit zu Zeit ein bisschen Kultur verordnet. Basta!:) Mindestens mal die Stücke, die ich zur Allgemeinbildung rechne.


    Aber es geht bei Anatevka ja auch gar nicht nur um Schüler. Es geht auch um all die guten, biederen Fernsehshow-Gucker und um die, die sich Samstags ganz gerne volkstümliche Sendungen einschalten. Ich will jetzt um alles in der Welt nicht sagen, dass seien alles samt und sonders Rechtsradikale, bitte nicht missverstehen. Aber ein Teil von ihnen wird sicher eine gewissen gedanktliche Nähe zu AfD, FPÖ und Co haben. Und die würden garantiert auch anstelle der samstäglichen Musikanten-So-klingts-in-den-Bergen ... wie-auch-immer-Show "Anatevka" sehen, wenn das gerade läuft. Wenn man die schon mal erreichen könnte, wäre auch wieder ein bisschen gewonnen.


    Nebenbei: Anatevka würde ich dann doch noch einige Stufen über der volkstümlichen Verblödung ansetzen. Das, was in dem Film allein schon Herr Topol leistet, ist wirklich gut.


    Aber: Ich bin auch kein Fan von Musicals und von wenigen Strauss-Operetten mal abgesehen, die schon eher Richtung Komische Oper gehen, auch keine Anhängerin von Operetten. Offenbach zählt nicht zur Operette:).

  • Offenbach zählt nicht zur Operette

    Mal abgesehen davon, dass er die Operette erfunden haben soll, habe ich auch nie richtig verstanden, warum man ihn zur Operette zählt :achsel

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