Im Juli wäre Brigitte Reimann 85 geworden.
Wäre.
Wenn sie noch leben würde.
Würde.
Ihre Würde bis zum Schluss spiegelt sich in einem Brief von Christa Wolf an Reimanns Eltern. Die Tochter war gerade 39jährig an Krebs gestorben, ihren Roman „Franziska Linkerhand“ hatte sie unvollendet zurückgelassen.
„In den letzten drei Jahren, als ich mit Brigitte befreundet war, hat mich ihre Art, trotz der Krankheit zu leben und die Ansprüche an sich selbst nicht zu senken, sehr beschäftigt. … Wir haben oft über ihre neuen Einsichten gesprochen, die sie, wenn sie erst dieses letzte Buch beendet hätte, dazu bringen sollten, neu und ganz anders zu schreiben. Wahrscheinlich hätte sie es gekonnt.“ [1]
Wir werden es nie erfahren. Und vielleicht – das macht ihn aus, den Zauber alles Unvollendeten -, ist es ja gut, dass wir Brigitte Reimann nicht neu und anders schreibend erlebt haben. Wer über Dialekt schreibt „so dick, dass du ihn mit dem Messer schneiden kannst“, über Schnurrbärtchen „wie ein zufällig nicht weggeräumtes Requisit“, über Einsamkeit „die nur der des Sterbens vergleichbar ist“ und Dienstreisende in den Hotelbars der Ostberliner Mitte als „nach dem scharfen Parfüm der Gelegenheit schnuppernd“ [2] zeichnet, sollte weder neu noch anders schreiben und uns nicht auch noch die letzten Bilder im Kopf nehmen.
Brigitte Reimann ist keine Unvollendete wie Franz Schuberts Sinfonie in h-Moll. Der hatte nicht weiter daran geschrieben, weil er (laut Überlieferung) „nicht die Notwendigkeit sah, noch einen dritten und vierten Satz zu schreiben, da er alle seine Intentionen schon im ersten und zweiten Satz umgesetzt habe“[3]. Brigitte Reimann ist eine wahre Unvollendete. Und eine von großer Ambivalenz aus Bedauern des zu kurzen Lebens und der Verblüffung, wie viel da hineinpasste.
Es ist desillusionierend, wie wenig der aktuelle Buchmarkt zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der DDR hergibt. Aus dem Leben in der DDR heraus verfasste Texte von Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Volker Braun und all den anderen, die sich was trauten, wie es heute keiner mehr muss, sind fast nur noch antiquarisch zu finden. Nicht so Brigitte Reimann: 1995 noch vom SPIEGEL „die große Unbekannte der DDR-Literatur“[4] genannt, ist ihr Schreibschatz heute nahezu komplett gehoben.
Der Herausforderung, ihn am Leuchten zu halten, während dem Buchhandel die Leser abhanden kommen, hat sich die Berliner Schauspielerin Inés Burdow gestellt. Ihr Radiofeature und Bühnenstück „Die Unvollendete“, das „beängstigend lebendige Psychogramm einer zerrissenen Frau“[5] sucht seinesgleichen in der literarischen Performance.
Bei einer Aufführung in Thomas Rühmanns Theater am Rand war die Stille unter den Zuschauern als Sprachlosigkeit spürbar: Wie kann es sein, dass so starke Stücke deutscher Literatur immer nur als Entdeckung und nicht als Gemeingut gelten?
Diese Schreibe gehört gelehrt, gesungen, zitiert und gelesen. Es sind die Schädlichs, die Buchs, die Havemanns, die Wanders von damals, die uns alles über das Heute wissen lassen. Wozu der große „Wenderoman aus West-Sicht“[6], zu dem Ingo Schulze aufruft? Lieber erstmal Leser mit West-Sicht, die Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“ genauso lesen wie sie Tellkamps Turm erklimmen. Das wär doch mal ein Schritt in Richtung wertschätzender Aufarbeitung. Scheint nur grad nicht in Mode zu sein. So wenig wie „das DDR-Paket“. Dabei „wirkt (es) heute und hier und auch auf das Leben der Westler. Die müssten doch sehen, dass einem das was bedeutet … und die stellen sich vor dich hin und gähnen dir voll in die Fresse. Aber wenn irgendwer zum hunderttausendsten Mal was über die RAF macht, dann kriegen sie feuchte Augen.“[7] Danke, Leander Haußmann.
Bühnenstücke, Spielfilme, Romane über das Leben in der DDR gibt es viele. Bühnenstücke, Spielfilme, Romane aus dem Leben in der DDR sterben in deren Schatten.
Aber was willst du erwarten in einem Land, in dem um ein Einheitsdenkmal gegeifert wird wie um eine unbeglichene Kneipenzeche.
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https://patriciahollandmoritz.wordpress.com/
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Quellen
[1] Brigitte Reimann, Christa Wolf „Sei gegrüßt und lebe – Eine Freundschaft in Briefen“, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar GmbH 1993
[2] Brigitte Reimann „Franziska Linkerhand“, Roman, Aufbau-Verlag GmbH, Berlin, 1998
[3] Ernst Hilmar (Hrsg.): Schubert-Lexikon. Akademische Druck- und Verlags-Anstalt, Graz 1997
[4] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9186492.html
[5] https://www.lr-online.de/nachr…ung-gestorben_aid-2695768
[6] https://www.thueringer-allgeme…aus-West-Sicht-1063342841
[7] https://www.berliner-zeitung.d…nem-stasi-stueck-30705370
Foto Brigitte Reimann © WDR
Foto Inés Burdow © Kuno Troschke