Idee und Verwirklichung

  • Der Schriftsteller Heinrich Seidel (1842 - 1906) schrieb in einem autobiografischen Text:


    Zitat


    Ich bin ein Kopfarbeiter, und viele meiner Erzählungen habe ich fünfzehn Jahre und länger mit mir herumgetragen, bis sie endlich reif und fertig waren. So kommt es, daß immer eine ganze Anzahl von Geschichten in meinem Kopfe friedlich beisammen wohnen und langsam heranwachsen, bis sie mir durch die lange Bekanntschaft wie eigenes Erlebniß vokommen. So spinne ich z. B. augenblicklich abwechselnd an mindestens 10 verschiedenen Kunkeln. Das Aufschreiben macht mir wenig Vergnügen, besonders wenn die Arbeit von größerem Umfange ist. Im Geiste stand mir Alles viel schöner vor Augen, und da die eigentliche Schaffensarbeit gethan ist, so verläßt mich beim Niederschreiben niemals ein Gefühl der Unzulänglichkeit, und ich kann wohl sagen, meine besten Sachen sind unter Ekel und Abscheu auf's Papier gekommen.


    Auf eine gewisse Art und Weise fühle ich mich mit ihm verwandt. Ich schreibe selten etwas spontan auf und wenn, dann sind das nur ganz kurze Sachen (Kurzprosa, schon seltener eine Kurzgeschichte). Manche Texte habe ich Jahrelang einfach nur "im Kopf", andere zumindest ein paar Tage, ehe ich anfange, sie aufzuschreiben oder in Notizen zu fixieren. Dass das Aufschreiben anstrengender ist als das Durchdenken einer Geschichte gebe ich unumwunden zu. Allerdings habe ich niemals unter Ekel oder Abscheu gearbeitet. Wenn das mal eintritt, würde ich das Schreiben aufgeben. Tage, in denen es mir schwerfällt, die nötige Anzahl Zeichen zu schreiben, damit der Abgabetermin halbwegs eingehalten oder zumindest nicht kritisch überschritten wird, gibt es allerdings.


    Mich interessiert, wie es anderen geht. Wer mag dazu etwas schreiben?

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    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Was Seidel schrieb, habe ich mit Interesse gelesen. Das erinnerte mich an Simenon, der ja - angeblich - ohne jegliche Notizen wochen- oder monatelang im Kopf mit Geschichten schwanger ging, bis sie fertig waren, und er sie dann in kürzester Zeit aufschrieb, ohne Ekel und Widerwillen, wie ich annehme.


    Ekel und Abscheu, nein, das empfinde ich beim Aufschreiben nicht. Wenn eine Geschichte so weit Form angenommen hat im Kopf, dass ich das Ende weiß, dann fange ich oft zu früh an zu schreiben, und dann verpufft die Euphorie, wenn ich an eine Stelle gerate, die ich noch nicht genau durchdacht hatte. Mein innerer Lektor hat noch eine zu laute Stimme, daran arbeite ich noch. Umgekehrt ging es mir schon einmal so, dass ich einen vollständigen Plot hatte mit Szenenplan, einzelnen Textstellen schon dazu, und dass ich dann, als es ans Schreiben ging, nicht mehr hineinkam ins Schreiben, weil die Geschichte irgendwie schon fertig war. Sie hatte ihren Reiz verloren. In diesem Spagat zermürbe ich mich manchmal selbst.


    Was mir schwer fällt, ist, mich gleichzeitig mit mehreren Geschichten zu beschäftigen. Ich muss mich auf eine konzentrieren und sie zu einem Ende bringen. Ich kann zum Beispiel momentan die notwendige Revisionsarbeit an einem Roman nicht weitermachen, weil ich an einer Textprobe und einem Exposé für eine Bewerbung arbeite. Deshalb: Hut ab vor Seidel, der zehn verschiedene "Kunkeln" im Kopf hatte - und sie, so nehme ich an - auch sortiert bekam.


    Notizen mache ich dauernd. Ideen für Handlungen, Figuren, Themen schreibe ich auf und alles, was mir dazu einfällt. Vielleicht finden sie eines Tages Verwendung in einer Geschichte, vielleicht auch nicht. Aber mir ist es wichtig, sie festzuhalten, und sei es nur ein einziger Satz.

  • Dem kann ich auch zustimmen.
    Das plotten, das Reifen, die Notizen und die Charakterentwicklung dauert bei mir manchmal Monate. Und auch in diesem Augenblick trage ich mind. ein Dutzend Stories mit mir rum, zu denen es nur wenige Zeilen in meinem Notizbuch gibt, aber innerlich schon deutlich detaillierter sind.


    Im Übrigen empfinde ich das Plotten als den angenehmsten Teil am Schreiben. Das Schreiben selbst und das Überarbeiten und "rund machen" ist Arbeit, alles andere Spaß :D

  • Bei mir steht am Anfang häufig eine unklare Idee, eher ein Gefühl. Die Konkretisierung geht erst über das Schreiben. Erst schreibe ich drei oder vier Seiten, wenn es sich gut anfühlt, suche ich nach dem schmissigen ersten Satz, an dem ich den ganzen Laden aufhängen kann. Dann beginne ich ein zweites Mal. Die Tagesleistung drucke ich immer aus und korrigiere den Ausdruck mit dem Bleistift. Am nächsten Tag fange ich wieder von vorne an und pflege die Korrekturen ein. Das geht solange, bis ich und mein Bleistift zufrieden sind. Bei Romanprojekten mache ich nach dem ersten Kapitel einen groben Plan über das weitere Vorgehen. (Da ich nicht handlungsorientiert schreibe, kann ich mir das erlauben.) Die konkrete Ausarbeitung geschieht wieder durch das Schreiben. Ich versuche, möglichst meinem Gefühl zu folgen - was leider nicht immer, vielleicht auch meistens (noch?) nicht klappt. Deshalb liegen einige Texttorsi in meinen Schubladen. Aber ich habe das sichere Gefühl ")" , dass ich die angefangenen Projekte eines Tages auch noch fertig bekomme...

  • Bei mir ist es so, dass ich eine Geschichte so vage vor mir sehe. Eins, zwei Gedanken. Ich schreibe einen Anfang dazu und der Rest ergibt sich dann während dem Schreiben. Notizen mache ich nur selten. Eher Recherchearbeit, auf die ich dann weiter aufbaue. Oft kommen die richtigen Ideen zur Idee durch die Recherche. Ich bin am Anfang immer total planlos. Oft genug bekomme ich zwischendrinn Panik, da ich ja nur so eine vage Richtung habe. So ein Gefühl, wie es schon Jürgen ausdrückte.
    Mein Rezept besteht dann darin, meine/n Prota einfach etwas machen zu lassen, oft geht es dann von allein weiter. :nick

  • Zitat

    10 verschiedene Kunkeln

    Herrlich! :rofl
    ja, solche Geschichtenfragmente in schwebenden Zuständen habe ich auch.
    Ab und zu ziehen sie vor meinem geistigen Auge vorbei und sagen: hier bin ich wieder!
    Mittlerweile, habe ich keine Angst mehr, sie zu vergessen, selbst wenn ich sie nicht aufschreibe - ich weiß, sie kommen irgendwann wieder und schreien "HalloHallo!"
    Die Gelegenheit, sie aufzuschreiben ergibt sich, wenn sie dran sind.
    Wenn sie dann irgendwann fixiert sind, haben sie im Endstadium tatsächlich nicht mehr viel von den ursprünglichen Ideen an sich.
    Meistens entwickelt sich ein Eigenleben.
    Aber "der Kern" haut noch hin.


  • Mittlerweile, habe ich keine Angst mehr, sie zu vergessen, selbst wenn ich sie nicht aufschreibe - ich weiß, sie kommen irgendwann wieder und schreien "HalloHallo!"
    ….


    Diese Angst musste ich auch erst überwinden. Sie ist mittlerweile restlos verschwunden Inzwischen denke ich, wenn ich die Idee vergessen habe, war sie auch nicht aufschreibenswert.

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    Emanuel von Bodmann


  • Wenn ich eine gute Idee habe, schreibe ich mir ein paar Sätze dazu auf. Meistens sind das nur zwei Seiten. Das schwärt dann weiter und irgendwann habe ich dann das Bedürfnis, aus den zwei Seiten mehr zu machen. Daraus wird dann oft ein bis zu zwanzig Seiten starkes Treatment oder noch länger. Das schreibe ich immer in einem Rutsch, das ist so eine Art Flow, aus dem ich nur rauskomme, indem ich schreibe. Das ist eigentlich fast der schönste Teil. Ehe ich dann richtig mit dem Schreiben anfange, recherchiere, stopfe Logiklöcher, unterhalte mich mit meinen Protagonisten. Erst wenn ich sicher bin, dass ich sie verstanden habe, fange ich an zu schreiben. Dabei halte ich mich aber nicht strikt an mein Treatment. Oft weiche ich davon ab, schlage noch einen Haken oder einen anderen Weg, um ans nächste Zwischenziel zu kommen. Ich kann auch strikt nach Vorgabe schreiben mit Seitenzahl. Aber das fühlt sich dann eher nach Arbeit an. Da kommt es auch mal vor, dass ich mit Unwillen an einen Text gehe, eben weil der Abgabetermin droht. Das freiere Schreiben macht viel mehr Spaß.
    Das lustige am Treatment ist eigentlich, dass da oft Dinge drin sind, die sich mir erst erschließen, wenn ich beim Schreiben an diese Stelle komme. Will heißen, mein Unterbewusstsein macht da eine Menge Vorarbeit, die sich aber eigentlich immer im Nachhinein bestätigt. Aber inzwischen vertraue ich da meiner Intuition. Ich hinterfrage das nicht mehr.
    Und ja, die Anfangsidee hat selten noch etwas mit dem fertigen Buch zu tun, außer der Grundidee.