• Anders als der Schriftsteller des zuvor geposteten Satzes genießt der des folgenden keinen übergroßen Ruhm. Die Amerikaner meinten zwar, er hätte den anspruchsvollsten deutschen Roman seit dem Zauberberg geschrieben (in den 1950er Jahren) und er erhielt einige wichtige Auszeichnungen, aber in der Öffentlichkeit ist er kaum bekannt. Seine Werke sind nur antiquarisch oder in Auswahl - immerhin - über die Gesellschaft, die seinen Namen trägt, zu beziehen. Dieses Jahr soll durch einige Veranstaltungen an seinen 100. Geburtstag erinnert werden.


    Hier nun ein Satz aus einer seiner Erzählungen. Auch wenn es so aussieht, es ist nicht der erste Satz:


    Zitat


    Merlin, der Student, ungeordneten Verhältnissen entwachsen, der Wissenschaft als der nahezu einzigen treibenden Kraft seines Daseins verfallen, wurde in der Familie des Wildaufsehers einer noch patriarchalisch zu nennenden Ordnung gewahr, die sich vornehmlich bei dem auch ihm zugänglichen Mittagsmahl offenbarte, wenn der Hausherr, ein weißhaariger, blauäugiger Mann mit adlerhaftem Gesichtsschnitt, in der dunkelgetäfelten, von Geweihen, Rehkrucken, ausgestopften Fasanen und Auerhähnen geschmückten Wohnstube am Kopf der großen, ausziehbaren eichenen Tafel saß, den Braten zerlegte, das Gespräch anfeuerte oder dämpfte, inmitten der plappernden Kinderschar, der immer noch schönen Hausherrin, der beiden altjüngferlichen Tanten und der ehrwürdigen Ahnin, die meistens schon nach einigen Bissen schläfrig einnickte.

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    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann



  • habe auch mal einen gepostet, aber in einem anderen Forum.


    Hab ich gesehen. Kein besonderer Satz, vom Satzbau und Stil her, aber diskussionswürdig. Jedenfalls regt sich bei mir sofort Widerspruch, dem innerlich fast gleichzeitig widersprochen wird (ziemlich fatal das Ganze). Autor und Buch lassen sich googeln, deshalb verrate ich nichts.

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  • leicht zu erfassen und irgendwie wird mir ein liebevoller Draufblick vermittelt. Ich bin entzückt von den Tanten und der schläfrigen Ahnin...dieser freundliche Klang erinnert mich an Thomas' "Milchwald".
    Wer schreibt da bloß so bildhaft schön und dann noch auf deutscher Sprache über Merlins Jugend vor seiner Druidenkarriere? Als alte Artussagen-Liebhaberin müsste bei mir doch was klingeln???
    Danke auch wieder für diesen schönen Satz, lieber H-D.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Das Raten ist nur ein interessanter Nebeneffekt. Ich möchte in erster Linie den Satz zur Diskussion stellen. Man kann objektiver darüber sprechen, wenn man nicht durch Vorgaben (z.B. Autor) abgelenkt ist. Aber nebenbei ein bisschen zu überlegen, wer könnte den Satz geschrieben haben, ist auch nicht uninteressant. Ich werde aber, falls niemand drauf kommt, in den nächsten Tagen sagen, wer der Hundertjährige ist, der seit 10 Jahren aus keinem Fenster mehr steigen kann (höchstens aus der Kiste).

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  • Zitat

    wenn man nicht durch Vorgaben (z.B. Autor) abgelenkt ist.

    :like


    Zitat

    Kein besonderer Satz, vom Satzbau und Stil her, aber diskussionswürdig. Jedenfalls regt sich bei mir sofort Widerspruch, dem innerlich fast gleichzeitig widersprochen wird (ziemlich fatal das Ganze).


    Ja, mir geht es hier eher um die Aussage als um den Stil und mir geht es da wie dir. Einerseits zustimmend, andererseits Zweifel.
    ich hol den Satz der Einfachheit halber mal hier rein:

    Zitat

    ... Künstler-Verein? Im Grunde war bereits das Wort ein Widerspruch in sich, vom Bindestrich eher getrennt als zusammengehalten. Künstler müssen Einzelgänger sein, eigensinnige jedenfalls, weil nur aus Eigensinn entstehen kann, was ein Werk ausmacht: Stil. Vereine, Gesellschaften, Gruppen, Organisationen - dergleichen lenkt nur ab, nivelliert...


    Schon ein Dilemma in sich: Man möchte rigoros, unbeirrbar, fraglos ... ect. sein und zu seinem Werk stehen und andererseits: man möchte gemocht, anerkannt, verstanden ... usw. sein und sich in einer Gruppe wissen.
    Beides zu gleichen Teilen bekommen ist sehr selten, beißt sich oft oder schließt sich mitunter sogar aus. Ähnlich wie Heike in ihrem Eingangsposting zitierte.

  • Autor des Satzes ist Heinrich Schirmbeck. Ich hätte vermutlich nichts von ihm gewusst, wenn mir nicht Anfang der 1970er Jahre das Buch "Träume und Kristalle" (Societäts-Verlag, 1968) in die Hände gefallen wäre. Der Untertitel "Phantastische Erzählungen" machte mich aufmerksam. Fantasy als Gattungsbegriff gab es damals noch nicht. Die Verflachung der phantastischen Literatur durch dieses Genre hatte noch nicht begonnen. Heute kommt der übliche Fantasyleser mit der Sprache Schirmbecks auch nicht mehr klar. Insbesondere in seiner Novelle »Der Kris« wird deutlich, wie sehr er sie an Kleist geschult hat, nicht nur durch den häufigen Einsatz von »dergestallt«, um einen Satz noch nicht zu beenden und weiterzuführen.


    [buch]3927110213[/buch]


    Seine Veröffentlichungen nach 1980 beinhalteten m.W. auch keine Belletristik mehr, zumindest keine neugeschriebene. Die erst 2005 herausgegebene Novelle "Der Kris" ist ein bis dahin unveröffentlichtes Frühwerk. Die Heinrich Schirmbeck Gesellschaft bemüht sich darum, dass der Schriftsteller nicht vergessen wird. Sein Hauptwerk ist dort in einer dreibändigen Buchkassette noch zu bekommen.


    Nachtrag: Die Erzählung, der der Satz entnommen ist, den ich eingangs zitiert habe, heißt »Das Rosenmal«. In ihr kommt eine seltsame Analogie zur Sprache:


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  • dORIT von gESTERN
    :dhoch:D


    Ich vermute aber, dass Schirmbeck dieses Thema etwas »ernster« aufgefasst hat. Die Analogie stammt übrigens nicht von ihm, sondern von Strindberg.


    Aus den Anmerkungen:


    Zitat


    Das erkenntnistheoretische Thema, das sich an einem Satz des Logikers Kurt Gödel orientiert (Jedes logische System kann nicht durch sich selbst, sondern nur durch ein ihm übergeordnetes System begriffen werden), geht in der Novelle eine Verbindung mit völlig andersartigen Motiven und Elementen ein: mit der platonischen ideenlehre, alchemistischen ideen des Agrippa von Nettesheim, mystischen Vorstellungen Jakob Böhmes, Swedenborgs und Strindbergs und nicht zuletzt der Lehre Ludwig Klages' »Vom kosmogonischen Eros«.

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