Schreiben im Präsens

  • @ Tom
    Sehr interessant, danke!


    Zitat

    Das Verb schleiche steht grammatisch in der Gegenwartsform, aber im Rahmen des Erzählens streift es die Gegenwartsbedeutung ab, das heißt, dass das Erzähler-Ich natürlich nicht jetzt gerade im Dunkeln herumschleicht, das wäre wirklich albern, sondern die Erzählhandlung, das Erzählte findet in der Jetzt-Zeit des Erzählens statt (während der Erzähler sich außerhalb von Raum und Zeit befindet und sich auch dort nur befinden kann.)


    Das stimmt natürlich, der Erzähler ist ja nicht gleich Figur/ Protagonist. Ich glaube, die Erzählstimme tritt im Präsens sehr in den Vordergrund, oder? Im Präteritum hält sie sich mehr zurück.


    Jedenfalls lerne ich hier was aus der Diskussion, was ich meistens erst mal unbewusst und instinktiv einsetze und mir dann nochmal kritisch anschaue. In meinem Roman wechseln die Perspektiven, und die eine wird in der Ich-Form im Präsens erzählt, und da ist die Erzählerin quasi auch die Figur. Ähnlich wie ein Tagebuch, aber es geht darüber hinaus. Die andere Perspektive ist personal, Er im Präteritum. Ich dachte, das nimmt mir kein Mensch ab, konnte es auch nicht wirklich begründen, aber es funktioniert.

  • (...) In meinem Roman wechseln die Perspektiven, und die eine wird in der Ich-Form im Präsens erzählt, und da ist die Erzählerin quasi auch die Figur. Ähnlich wie ein Tagebuch, aber es geht darüber hinaus. Die andere Perspektive ist personal, Er im Präteritum. Ich dachte, das nimmt mir kein Mensch ab, konnte es auch nicht wirklich begründen, aber es funktioniert.


    Eben. :nick


    Abseits der teilweise geradezu literaturwissenschaftlichen Äußerungen zum Wesen der Erzählung (die durchweg richtig sind) bleibt der Aspekt des geschickten Zeitenwechsels innerhalb einer solchen von Bedeutung. Das meinte ich in meinem Posting. Eine Geschichte durchweg im Präsens zu erzählen, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Es gibt wenige gelungene Beispiele. Ein geschickter Wechsel, um plötzliche Nähe, Beteiligung, ja, auch Ergebnisoffenheit (siehe Toms Posting) zu erzeugen, kann ein wunderbares Stilmittel sein. Wenn man´s beherrscht.

  • Ich glaube, die Erzählstimme tritt im Präsens sehr in den Vordergrund, oder?


    Ja, das sehe ich auch so. Ich finde auch besser, von der Erzählstimme zu sprechen, weil man die nicht automatisch mit einer Figur gleichsetzt (sie kann zu einer Figur gehören, muss aber nicht).

  • Mal in die doch ziemlich theoretischen Überlegungen hinein: Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass - entgegen z.B. den Zeiten unserer Eltern und Großeltern - heutzutage viele Menschen ein Ereignis, das ihnen in der Vergangenheit geschehen ist, auch im Präsens erzählen (meist nach einleitenden Worten in der Vergangenheit)?


    spontanes Beispiel: Ihr ahnt nicht, was mir neulich auf der Autobahn passiert ist. Ich fahre also gerade mit 100 auf der rechten Spur, da überholt mich ein .... Der Typ denkt, er ist der King der Autobahn ... ich gebe Gas ... er beschleunigt auch ...


    Der Erzähler will Spannung aufbauen und bedient sich deshalb der Präsensform innerhalb einer Erzählung, die für alle Beteiligten logischerweise in der Vergangenheit liegt. Das wäre in etwa also der Fall von Jürgens Remarque-Zitat. Und? Findet das ein Zuhörer komisch? Macht er sich Gedanken darum? Nein. Es wirkt auf ihn völlig normal. Deshalb bleibe ich dabei, dass man den Gebrauch von Zeiten in der Literatur und durch die unterschiedlichen Erzählerstimmen natürlich theoretisch analysieren kann, aber immer nur mit starkem Blick auf die zeitlich und genremäßig jeweiligen Lesegewohnheiten der Leser, die wie die Sprache selbst, veränderlich sind. Und hier hat sich hinsichtlich des Präsens einfach in letzter Zeit sehr viel verändert. Funktion und Wirkung eines Stilmittels und der Gewohnheitsgrad seiner Empfänger verändern sich quasi gegenseitig und können meiner Ansicht nach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Fontane und Remarque haben seinerzeit mit dem jeweils gewählten Stilmittel unter Umständen eine abweichende Wirkung beim Leser erzielt als der Text auf die heutigen Leser wirkt.

  • st Euch schon einmal aufgefallen, dass - entgegen z.B. den Zeiten unserer Eltern und Großeltern - heutzutage viele Menschen ein Ereignis, das ihnen in der Vergangenheit geschehen ist, auch im Präsens erzählen (meist nach einleitenden Worten in der Vergangenheit)?


    Ist das wirklich ein so modernes Phänomen? Ich dachte, das gibt's schon ewig.
    In jedem Fall meine ich, dass ich, wenn ich so rede, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Zuhörers habe. In der Vergangenheitsform zu reden wirkt mitunter auch einschläfernd.

  • Hallo, Cordula.


    Zitat

    Ist Euch schon einmal aufgefallen, dass heutzutage viele Menschen ein Ereignis, das ihnen in der Vergangenheit geschehen ist, auch im Präsens erzählen


    Das ist meiner Beobachtung nach kein aktuelles Phänomen.


    Man vermittelt Authentizität - auch zeitlicher Art - und es ist in solchen Situationen schlicht leichter, so zu erzählen. Eigentlich müsste man das in der 2. Vergangenheitsform - im Perfekt - erzählen:


    Das Perfekt wird für Sachverhalte verwandt, die (relativ zur Betrachtzeit) in der Vergangenheit abgeschlossen wurden, deren Ergebnis oder Folge aber noch relevant sind. (Wikipedia)


    Das trifft zu, weil man es ja soeben als interessantes Ereignis erzählt. "Ich bin auf der Autobahn gefahren, mit etwa 100 km/h, als vor mir plötzlich einer stark abgebremst hat."


    Verblüffenderweise verwenden hier viele das Präteritum, vor allem Leute aus etwas bildungsferneren Schichten. Aber diese Annahme kann auch einer Fehlwahrnehmung entspringen. Ich meine jedenfalls, gelegentlich an Supermarktkassen Dialoge wie diesen hier belauscht zu haben (natürlich unfreiwillig): "Meine Chantal lief da einfach so, als sie dieser Typ ansprach." In meinen Ohren klingt das seltsam, obwohl ich tatsächlich überwiegend so schreibe.

  • Zitat

    Ist das wirklich ein so modernes Phänomen? Ich dachte, das gibt's schon ewig.

    Ich weiß nicht, wie modern es innerhalb unserer Umgangssprache ist, aber ich weiß, dass meine Eltern oder Großeltern eine Begebenheit so niemals erzählt haben. Ein richtiger Ur-Berliner hat sicherlich schon immer/ewig so geredet, aber ansonsten kenne ich es so, dass mindestens die Unterscheidung Gegenwart - Vergangenheit (welche nun auch immer) in der Umgangssprache vorgenommen wurde. Und irgendwie bestätigt mir Deine Frage ein wenig meine Vermutung, dass es inzwischen ganz normal geworden ist.


    Zitat

    deren Ergebnis oder Folge aber noch relevant sind.

    das trifft aber nur zu, wenn ich etwas erzähle, was zeitnah geschehen ist. Die gleiche Begebenheit aus dem Urlaub im letzten Jahr würde meines Wissens nach korrekt im Präteritum erzählt werden: Ich fuhr auf der Autobahn .... überholte mich .... ich gab Gas ... usw. Allein die Tatsache, dass ich es jetzt erzähle, reicht für die Relevanz, die in Deiner Definition gemeint ist, nicht aus. Hat eine Handlung in der Vergangenheit begonnen und ist sie in der Vergangenheit auch vollständig abgeschlossen, kannst Du meines Wissens nach nicht im Perfekt erzählen.

  • Hallo, Cordula.


    Das stimmt so nicht. Und Du hast das mit der Einleitung Deines Beispiels ja auch ganz gut gezeigt:


    Zitat

    Ihr ahnt nicht, was mir neulich auf der Autobahn passiert ist.


    Niemand sagt: "Ihr ahnt nicht, was mir neulich auf der Autobahn passierte."

  • Nach dem, was bei belleslettres.eu und auch bei Wikipedia steht, hängt der umgangsprachliche Gebrauch von Perfekt und Präteritum von der Region ab: im Norden Präteritum, im Süden Perfekt. Bei belleslettres steht außerdem: "Prä­sens und Per­fekt kom­men nur in wört­licher Rede der Fi­gu­ren vor, wenn die Fi­gu­ren wie in ge­spro­che­ner Spra­che spre­chen (in Unter­hal­tungs­litera­tur gän­gig)."

  • Zitat

    hängt der umgangsprachliche Gebrauch von Perfekt und Präteritum von der Region ab: im Norden Präteritum, im Süden Perfekt.


    Sag ich doch. Bildungsfernere Schichten. :evil

  • Hallo Leute,


    guter Thread! Die Frage nach dem Präsens als Erzählzeit ist interessant! Ich mag das Präsens, weil es unmittelbarer, frischer, näher am Geschehen ist oder doch so wirkt – das ist wohl der entscheidende Punkt!


    Ich habe mir mal überlegt, welche - ganz oder teilweise - im Präsens erzählten Bücher ich gelesen habe, und bin ad hoc zu dieser Liste gekommen:


    ASIN/ISBN: 346202731X

    ASIN/ISBN: 3518365894

    ASIN/ISBN: 3442542103

    ASIN/ISBN: 3596150981

    ASIN/ISBN: 3518378430

    ASIN/ISBN: 3518461931

    ASIN/ISBN: 3518461583

    ASIN/ISBN: 3257239378

    ASIN/ISBN: 3442741130

    ASIN/ISBN: 3832162119

    ASIN/ISBN: 3596903882

    ASIN/ISBN: 3596903904


    Am besten beherrschen das Präsens m.M.n. Remarque, Coetzee, Carver, der fast vergessene Butor und Chuck Palahniuk.


    Stephan Thome, Helmut Krausser, Vargas Llosa und der schreckliche Arnon Grünberg schmeißen Präsens und Präteritum entweder kapitelweise abwechselnd durcheinander oder knüpfen die präsentische Handlungsebe an bestimmte Figuren (Krausser und Vargas Llosa).


    Richtig gut beherrschen tun die Technik die überraschend souveräne Anna Katharina Hahn und J.M. Coetzee. Wer wissen will, wie es nicht geht, der lese Du stirbst nicht.


    PS: Und ja: Im Westen nichts Neues ist vollständig im Präsens verfaßt! Und das war 1928! Sagenhaft!

  • Ein richtiger Ur-Berliner hat sicherlich schon immer/ewig so geredet, aber ansonsten kenne ich es so, dass mindestens die Unterscheidung Gegenwart - Vergangenheit (welche nun auch immer) in der Umgangssprache vorgenommen wurde.


    Ist das so typisch für die Berliner? Dann ist ja mein Textbeispiel für erzählendes Präsens in der Umgangssprache (mit Teilen in der Vergangenheit) nur noch ein Achtel wert:


    Kurt Tucholksy


    Laut Tucholsky kennt der Berliner auch ein erzählendes Futurum :


    Zitat

    Die Alltagssprache hat ihre eigene Grammatik. Der Berliner zum Beispiel kennt ein erzählendes Futurum. »Ick komm die Straße langjejangn – da wird mir doch der Kuhkopp nachbrilln: Un vajiß nich, det Meechen den Ring zu jehm! Na, da wer ick natierlich meinen linken Jummischuh ausziehen un ihn an Kopp schmeißn ... «

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)