TA 9: Johann Peter Hebel - Unverhofftes Wiedersehen

  • Verehrte Anwesende,


    mit ein wenig Verspätung wenden wir uns einem Text zur Analyse zu.


    Grundlage ist der kurze Text "Unverhofftes Wiedersehen" von Johann Peter Hebel. Informationen zum Text findet ihr hier.


    Der Text selbst ist hier frei zugänglich.


    In der Textanalyse sollten uns folgende Fragestellungen leiten:


    - Wie schafft es Hebel, in einem so kurzen Text ganze Menschenleben vor einem ablaufen zu lassen?


    - Welche Rolle spielt der Gegensatz von über der Erde und unter der Erde im Text?


    - Kann (und soll) ich heute noch eine KG schreiben, in der ganze Epochen, Lebensalter und Generationen vor mir vorbeiziehen/abrollen?


    - Oder ist das mit der modernen KG überhaupt nicht mehr vereinbar, also total überholt/out/veraltet/tot/blödsinnig? Und wenn das so sein sollte - warum?


    - Oder ginge es vielleicht doch noch? Dann aber wie? Wie sähe ein modernes Unverhofftes Wiedersehen aus?


    Ich möchte ebenfalls die Anregung von Horst Dieter aufgreifen, den Rhythmus der TA von zweiwöchig auf vierwöchig zu ändern, da mancher Text zu lang, manchem die Zeit zu knapp ist.


    Herzlichst


    Wolf P.

    "NOW is the happiest time of your life." Daevid Allen ( :gitarre )

  • Ich versuche schon mal eine Antwort auf die erste Frage:


    Zitat


    - Wie schafft es Hebel, in einem so kurzen Text ganze Menschenleben vor einem ablaufen zu lassen?


    weil das nämlich am einfachsten ist.


    Johan Peter Hebel (1760 - 1826) zählt Ereignisse auf, die ihm und seinen Zeitgenossen präsent waren. Es war damals leichter, die zeitlich zuzuordnen, als heute - einfach weil es Tagespolitik war.


    Hier einmal der Versuch, das Aufzuschlüsseln:



    1809 wurde der Leichnam wieder ausgegraben. Von 1755 bis 1809 sind 54 Jahre vergangen.


    Da es quasi Tagespolitik und jüngere Vergangenheit für die Menschen damals war, mussten sie nicht wie die meisten heute erst nachschlagen. Wollte man das heute tun, müsste man Ereignisse der Zeit von 1960 - 2010 wählen (so ungefähr) und zwar solche, die den meisten im Bewusstsein stehen.


    Etwa das J.F. Kennedy Präsident der USA wurde (1960), Berliner Mauer (1961), Vietnamkrieg offiziell (1964), Beginn der chinesischen Kulturrevolution (1966), Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn (1967), Prager Frühling (1968 ), Geiselnahme israelischer Athleten während der Olympischen Sommerspiele (1972), CDU-Vorsitzende Peter Lorenz wird von der RAF entführt (1975), Ulrike Meinhof begeht Selbstmord im Gefängnis (1976), Johannes Paul I. wird nur 33 Tage lang Papst (1978 ), Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan (1979), Volkszählung in der BRD wird mit einer einstweiligen Verfügung gestoppt (1983) usw.


    Auf die Fragen ob man so eine KG noch schreiben kann, habe ich somit beantwortet. Ob man das soll ist eine Frage, die ich nicht beantworten will. Die Frage ist unnütz. Wenn ich das Gefühl hätte, solch eine KG schreiben zu wollen, würde ich nicht danach fragen, ob man das soll. Ich würde es einfach tun. Ich halte das weder für überholt, noch für out oder veraltet, auch nicht für tot und dann nicht für blödsinnig, wenn im Rahmen dieser Geschichte solch eine Aufzählung kein Fremdkörper wäre. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass J.P. Hebel einen »pädagogischen Auftrag« hatte. Mit diesen kurzen Erzählungen aus dem Rheinischen Hausschatz wollte er zur Volksbildung beitragen, wollten neben der Unterhaltung dem Leser auch eine Art »Lehre« mitgeben. Solcherart Belehrungen sind heute schwerlich noch an den Leser zu bringen. Aus dieser Motivation heraus lässt sich also so eine KG mit zeitgeschichtlichen Einflechtungen sicher nicht mehr schreiben. Vielleicht ist das ja die Antwort, die Thomas erwartet.


    Horst-Dieter

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Nicht husten, das ist kein Staub, das sind Denkpartikel. ;)


    Was mir auffällt, ist, dass Ort, Zeit und Geschehen mit einprägsamen Einzelheiten geschildert werden (St. Lucia, die Worte des Pastors, das schwarze Halstuch, geschichtliche Vorkommnisse, die Krücke ...). Dagegen bleiben die Personen beinahe unsichtbar. Kein Namen, keine genaue Beschreibung (jung, hübsch, grau) und keine persönliche Entwicklung (was hat die Frau all die Jahre getan?). Vielleicht trägt das Fehlen der Ablenkung durch die Personen dazu bei, dass sich der Leser auf den Zeitraffer einlassen kann. Nur so als Idee.


    Gruß
    Sabine

  • Was, verehrte Anwesende,


    hätte Hebel machen können, um dem Leser in der Kürze zu verdeutlichen, was sich in den 54 Jahren ereignet hat?


    Er hätte die Lebensstationen der Braut beschreiben können. Oder das, was er getan hat, quasi die Außen- die Weltsicht zu wählen. Durch die Fülle von Geschehnissen wird deutlich, wie viel Zeit vergangen ist. Die Schilderung eines "verschenkten" Lebens wäre natürlich weniger anschaulich.


    Das Entpersonifizieren der Protagonistin, ihre Reduzierung auf ihr Alter und die verlorene Liebe, lenkt einerseits die Aufmerksamkeit des Lesers auf dieses Schicksal und ihre "Hochzeit" auf dem Friedhof, andererseits aber auch auf die Weltereignisse.


    So vermittelt Hebel neben Geschichtskenntnissen gleich auch ein wenig Unterricht in Moral und Tugend, indem er der Treue über den Tod hinaus hier ein besonderes Denkmal setzt.


    Und natürlich hätte eine moderne Fassung auch in unserer heutigen Zeit seine Berechtigung, hätte der moralische Imperativ hier auch eine andere Färbung oder Zielrichtung. Literatur darf auch heute noch so etwas wie moralische Werte vermitteln, mögen es auch andere sein als vor 100 Jahren. :D


    Herzlichst


    Wolf P.

    "NOW is the happiest time of your life." Daevid Allen ( :gitarre )

  • ... den Hebel-Text kenne ich aus Otto Schumanns "Handbuch der Schreibkunst". Da wird er unter exakt dem gleichen Winkel betrachtet, wie hier in der TA-Gruppe. Er wird nämlich als Meisterwerk (und Beispiel für den Schreib-Eleven) dargestellt, wie man Zeit vergehen lassen kann :D . Interessant bei Hebel ist (und das habe ich auch aus Schumann), wie er es durch diese Zeitverdichtung schafft, dass diese lange Zeitspanne nichts daran ändert, dass die Geschichte in einem Raum, nämlich dem Wohnort der Liebenden, stattfindet. Und daran ändern auch die Ereignisse aus aller Welt nichts.

  • So vermittelt Hebel neben Geschichtskenntnissen gleich auch ein wenig Unterricht in Moral und Tugend, indem er der Treue über den Tod hinaus hier ein besonderes Denkmal setzt.


    Immerhin war der Mann Theologe und Pfarrer :zylind

  • Da wird der Text unter exakt dem gleichen Winkel betrachtet, wie hier in der TA-Gruppe. Er wird nämlich als Meisterwerk (und Beispiel für den Schreib-Eleven) dargestellt, wie man Zeit vergehen lassen kann. Interessant bei Hebel ist (und das habe ich auch aus Schumann), wie er es durch diese Zeitverdichtung schafft, dass diese lange Zeitspanne nichts daran ändert, dass die Geschichte in einem Raum, nämlich dem Wohnort der Liebenden, stattfindet. Und daran ändern auch die Ereignisse aus aller Welt nichts.

    Genau so ist es! Schöne Zusammenfassung des Wichtigsten!

    Fare thee well! Thomas W. Jefferson
    I am mad, bad and dangerous.