Liebe Teilnehmer der TA 4, liebes Forum,
Zum Abschluss ein persönliches Wort:
1. Mit dem letzten Teil oben sind meine Beiträge zur TA 4 abgeschlossen. Die Moderation dieser TA hat mir zunehmend weniger und am Schluss überhaupt keinen Spaß mehr gemacht. Ich gehöre jedoch nicht zu den Leuten, die etwas, das sie einmal angefangen haben, einfach hinschmeißen, deshalb habe ich es bis hierher durchgezogen, wenn auch etwas lustlos.
Für mich ist dies auch eine Art, denjenigen, die der hier angebotenen Analysemethode etwas abgewinnen konnten, meinen Respekt zu bezeugen.
2. Meine Absicht war es, in diesem Forum eine - zumindest hier – weniger bekannte Analysemethode vorzustellen und sie anhand von zwei Beispieltexten einfach einmal zu erproben. Es ist kein Vorwurf, von der strukturalen Textanalyse (STA) in ihrer russischen Ausprägung nie etwas gehört zu haben. Die STA ist zwar schon 70 Jahre alt, aber sie ist kompliziert, terminologisch verwirrend und sie setzt eine gründliche und oft mühsame Beschäftigung mit einigen hermetischen Lehrbüchern voraus.
In Wirklichkeit ist das eine Methode für Universitäten und Seminare, in denen oft recht abgehobene Typen esoterische Einsichten in einem mitunter bewusst dunkel gewählten Spezialwortschatz pflegen.
Die zentrale Figur der STA ist der russisch-estnische Wissenschaftler Juri Lotman, der das Buch schlechthin zur STA geschrieben hat; darin ist wieder das achte Kapitel, in dem die Raumsemantik und die Theorie der Handlung erklärt werden, das wichtigste.
Mein Anspruch war es nun, dieses bedeutende Kapitel aus einer unzugänglichen Fachsprache in eine leicht verständliche Alltagssprache zu übersetzen, gleichzeitig in Klammern aber die Fachbegriffe mitzuliefern, um beides nebeneinander zu zeigen.
3. Das achte Kapitel aus Lotmans Struktur des künstlerischen Textes ist zu recht berühmt, und damit wird heute auf der ganzen Welt die Textanalyse gelehrt, auch in den USA und England, in Frankreich sowieso. Es ist also nicht irgendwas, nicht eine Methode unter vielen, die ich hier vorstellen wollte – sondern die modernste Methode über Texte zu reden schlechthin.
Eine gründliche Beschäftigung mit Lotmans achtem Kapitel trägt reiche Früchte. Da ist eine komplette Theorie enthalten, was eigentlich Handlung in einem Text darstellt, und was keine Handlung ist. Daraus leitet Lotman dann eine sehr brauchbare Definition ab, um Hauptfiguren von Nebenfiguren zu unterscheiden.
Gründen tut all das auf der Theorie der Raumsemantik. In Wirklichkeit ist die ganz einfach, denn sie sagt nur: Texte bauen Welten auf, die sie in unterschiedlichen semantischen Sphären oder Schichten oder Feldern organisieren. Das heißt also: In Texten gibt es Felder, die unterschiedliche Bedeutungen repräsentieren. Alle Felder und Ebenen der Bedeutung sind durch Grenzen voneinander geschieden. Die Welt der Lotmanschen TA ist aber keineswegs nur binär, es gibt also nicht nur zwei Felder und Bedeutungen (z.B. jung versus alt, oder innen versus außen), die sich gegenüberstehen, sondern so viele, wie der Text eben aufweist. Viele Felder haben Entsprechungen in der topographischen Anlage der Text, d.h. die Bedeutungen sind mit Landschaften, Orten, Meeren und Wüsten, Höhlen und Gipfeln, Bergwerken und Straßen verknüpft.
Hat man einmal erkannt, welche semantischen und topographischen Räume der Text aufbaut und wie die Grenzen dazwischen liegen, dann lässt sich daraus wunderbar eine Theorie des Sujets und der Handlung ableiten. Handlung, sagt Lotman, ist nicht jedes kleinste Ereignis im Text (eine triviale Erkenntnis), nein, die eigentliche Handlung, die einen Text charakterisiert, das ist die Frage, welche Figuren welche Grenzen wie weit überschreiten und ob das überhaupt gelingt. Allein das ist eine wertvolle Erkenntnis und keineswegs trivial, während jede andere textimmanente (= hermeneutische) oder literaturhistorische Betrachtungsweise immer nur Vermutungen anstellen kann, was die Haupt- und Nebenfiguren sind.
Zum Schluss kann man mit dieser Methode auch noch gut erklären, was das Sujet eines Textes ist, also das, worum es eigentlich geht, und wo die Handlung überhaupt erst einsetzt. Auch hier erlaubt die STA viele nichttriviale Erkenntnisse. Die Unterscheidung der sujetlose Schicht des Textes von der sujethaltigen ist wichtig und gut.
4. Das alles wollte ich mit ein paar einfachen Worten erklären und dann auf zwei Texte anwenden. Ich war mir dabei vollkommen bewusst, dass die STA den meisten hier merkwürdig, ja unsinnig erscheinen muss, dachte mir aber, dass manche schon erkennen würden, dass das wirklich eine geniale Sache ist und einem sowohl bei der Lektüre als auch beim Verfassen von Texten hilft. Es hätte nur ein bisschen Geduld und Aufgeschlossenheit etwas Neuem gegenüber gebraucht – mehr nicht.
5. Selbst ich, der ich doch dieses Forum und seine Teilnehmer schon ein bißchen kenne bzw. kennen sollte, war über die Heftigkeit der Ablehnung erstaunt.
Da kommt zuerst der Schulmeister Quintus Fixlein und sagt: Textanalyse mit Ansatz und Methode ist immer schlecht. Viel besser ist: Lesen, Eindrücke haben, hinschreiben.
Also gut!
Dann kommt jemand und sagt, die ganz normalen Fragen der STA, die – darf ich es nochmals sagen – auf der ganzen Welt in Seminaren so gestellt werden, sind nicht einfühlsam. Dann eben nicht!
Und dann habe ich erstaunlicherweise eine Co-Referentin, die sich durch meinen Beitrag offenbar in ihrer Stellung und Ehre als resident technician (just look it up) so sehr gekränkt und angegriffen fühlt, dass sie Nachtschichten einlegen und für jeden Satz, den ich schreibe, drei eigene schreiben muss, mit denen sie meine Sätzlein mit Stumpf und Stiehl ausreißt. Ach, was muss ich gefährlich sein ...
Und siehe da: Sie weiß nicht nur alles, nein, sie weiß auch alles besser – und das, obwohl ihr ein paar unwichtige Akzidenzien wie auktorialer oder personaler Erzähler, Sujet, Handlung und Hauptfigur nicht so recht geläufig sind. Aber ganz ohne Ansatz und Methode ist es natürlich leicht, etwas zu kritisieren, insbesondere dann, wenn man für sich das Recht auf freies Assoziieren geltend macht und alles garantiert so formuliert, dass es intersubjektiv gar nicht überprüfbar ist, und dabei auch noch dauernd sagt: Jetzt siehst du mal, wie gut ich bin und wie recht ich hab.
Ich habe es tatsächlich gesehen, ich bin beeindruckt und für diese Lektion dankbar. Und ich werde sie mir so gut merken, dass ich ab sofort die Bühne für das vertraute theoriefreie L … nein: für die textanalytische Spontanrede gerne wieder freigebe.
Es war mir eine Ehre!
__________________
Fare thee well! Thomas W. Jefferson
I never had problems with drugs. Only without. K. Richard.
Dieser Beitrag wurde 8 mal editiert, zum letzten Mal von Th. Walker Jefferson: 05.11.2010 15:59.