TA 4: Rilke und Hofmannsthal

  • Zitat

    Original von Jürgen B.
    ...
    Also ich vertrete die Auffassung, dass man sich in der Analyse nichts vorsagen lassen muss, sondern seine eigenen Gedanken machen und zur Diskussion stellen sollte.


    Das sehe ich ähnlich. Die ausformulierten Vorgaben habe ich mir nicht weiter durchgelesen, damit ich unvoreingenommen an die Texte herangehen kann (am Wochenende ;) )


    Ich möchte selbst entdecken, was ein Text hergibt und wie der Autor das erreicht. Das ist doch gerade das Spannende. Die Runde gibt mir dann die Möglichkeit, meine Ergebnisse mit anderen zu vergleichen, zu diskutieren und dazu zu lernen -


    und hier käme meiner Meinung nach der Moderator ins Spiel, der sich bereits intensiv mit den Texten auseinander gesetzt hat und nun eine entsprechende Diskussionsführung übernimmt.


    Herzlichen Gruß,
    Cordula G.

    "Man muss immer noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können." Nietzsche

    Einmal editiert, zuletzt von CordulaG ()

  • Zitat

    Also ich vertrete die Auffassung, dass man sich in der Analyse nichts vorsagen lassen muss, sondern seine eigenen Gedanken machen und zur Diskussion stellen sollte.


    Liebe Leute,
    nehmt es mir nicht übel. Natürlich muss jeder selbst denken (das ist seit 2500 Jahren ein Allgemeinplatz).
    Trotzdem sei es mir gestattet, die Ergebnisse der letzten drei TAs kritisch zu sehen. Wenn wir beim Startschuss alle erst einmal über die Richtung diskutieren, kommen wir nie irgendwo an.
    Diese Runde funktioniert so nicht. Das sind offenbar die Grenzen der Basisdemokratie.
    Es geht nur so, dass ein Moderator die Richtung sagt und dann rennen alle los.


    Lieber Jürgen,
    natürlich ist mir klar, dass sowas vor allem für Leute schwer ist, die wirklich etwas von der Materie verstehen. Aber ich verspreche dir, wenn du demnächst den Moderator zu einem Text deiner Wahl machst, dann werde ich dir genau so willig folgen, wie ich hier versuche, über die Stöckchen zu springen, die TWJ uns hinhält. :blume


    Peace
    Marvin

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Liebe Teilnehmer an der TA 4,


    1. Seit wann ist eine strukturale Textanalyse per se als schlecht zu bezeichnen? Seit wann ist es überhaupt pauschal schlecht, mit theoretischen Modellen an einen Text heranzugehen? Für diese Behauptungen hätte ich jetzt wirklich gerne einmal eine Begründung.


    2. Die Frage, wie bringen Text und Autor mich dazu, weiterzulesen, ist absolut berechtigt. Man nennt das ja auch manchmal „Rezeptionsästhetik“, und das wiederum ist eine ganz eigene Art der Textbetrachtung. Aber Fragen der Rezeptionsästhetik stehen zur Textanalyse nicht im Widerspruch, sondern ergänzen sie vielmehr sinnvoll. Und Jürgen: Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn du diese Fragen hier gerne anschneiden möchtest. Fang schon mal an, darzustellen, welche Gefühle, Irritationen, Begeisterungsstürme, aber auch welches Unverständnis der Text bei dir hervorgerufen hat.


    3. Ich habe nie, wie von Marvin richtig gesagt, behauptet, dass die strukturale Textanalyse der Weisheit letzter Schluss ist. Das ist vielmehr eine Textbetrachtung unter vielen, einfach eine Methode, es ist allerdings auch die an den meisten Universitäten inzwischen gelehrte Methode und sicher die mit dem höchsten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.


    Zudem habe ich bisher in diesem Forum nie jemanden mit dieser Methode arbeiten sehen.


    4. Jürgen B., noch ein Wort unter uns: Ein Blinder müsste eigentliche sehen, das ich hier zwei gute und wichtige Texte ausgewählt habe und dass ich mir nun Mühe gebe, diese strukturiert, überprüfbar und auch einfühlsam zu präsentieren.


    Und ein zweiter Blinder müsste merken, dass ich mir hier auch Mühe gebe, eine anspruchsvolle Theorie der Literaturwissenschaft (lest einmal nur ein Kapitel im Lotman im Original!) verständlich und für jedermann nachvollziehbar darzustellen.


    Aber komisch, kaum tue ich das, kommt einer und will genau dafür eine Rechtfertigung von mir und sagt im Gegenzug: Ich will das machen, was ich sonst auch immer mit Texten mache, da habe ich zwar keine Methode und keinen Apparat anzubieten, aber ich mag nun mal die impressionistische Herangehensweise und das theoriefreie, fröhliche Labern.


    Theoriefreies, schöngeistiges Labern gibt es aber überall auf der Welt gratis und es macht ca. 99.89% aller Textbetrachtungen aus. Und da wir das alle kennen (auch ich natürlich), da unsere guten wie schlechten Feuilletons damit voll sind und wir damit nichts dazulernen können – wenn es alles nun so ist, kann man sich da nicht einmal kurz darauf einlassen, etwas anderes zu machen - und vielleicht sogar was dazulernen?

  • Hallo Thomas,


    ich muss einmal von der aktuellen TA zu den Interpretationsansätzen wechseln, ich hoffe, Du entschuldigst das.


    Zitat

    Das ist vielmehr eine Textbetrachtung unter vielen, einfach eine Methode, es ist allerdings auch die an den meisten Universitäten inzwischen gelehrte Methode und sicher die mit dem höchsten Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.


    Nichts gegen Deinen Ansatz, er ist sicher gut. Aber ich habe bisher, wenn schon "wissenschaftliche" Textinterpretation und nicht "Handwerksfragen" (um die es ja in der TA auch gehen soll) anders gearbeitet: Für mich hat es immer bedeutet, einen Text "wissenschaftlich" zu untersuchen, wenn ich ihn im Kontext seiner Zeit und im Zusammenhang mit dem Autor betrachtet habe. Natürlich kann ich jeden Text lesen und mich fragen, was mir der heute persönlich gibt (gut, ich weiß, davon redest Du nicht), das würde ich als reine Textrezeption betrachten, und sie stellt für mich den ersten Schritt dar, um sich einem Text überhaupt zu nähern. Aber wissenschaftlich (nach meinem Verständnis) wird die Interpretation in dem Moment, wo ich den Text literarhistorisch und überhaupt historisch einordne.


    Das hat nur absolut gar nichts zur aktuellen TA beigetragen, ich weiß. Aber wenn wir uns schon vom Handwerk lösen, dann würde ich mich diesem Text am ehesten über die Epoche und den Autor nähern. Ich habe aber nichts dagegen, Deinen Ansatz auszuprobieren. Ich halte ihn aber nicht für ganz so absolut wie Du :)


    Aber mal zurück zu Hofmannsthal und seiner Erzählung.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson
    (...) dass ich mir nun Mühe gebe, diese strukturiert, überprüfbar und auch einfühlsam zu präsentieren (...)


    Hallo, Mistah Jefferson,


    so ist das nun einmal mit dem weiten Feld zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung.
    Mit Verlaub, Dein Fragenkatalog las sich für mich absolut nicht einfühlsam, sondern wie der Wunschzettel eines Oberlehrers, der mit aller Gewalt seinen Anspruch auf Verwissenschaftlichung durch Abschreckung rechtfertigen will.


    Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson (...) wenn es alles nun so ist, kann man sich da nicht einmal kurz darauf einlassen, etwas anderes zu machen - und vielleicht sogar was dazulernen?


    Wenn Du wirklich das erreichen willst, was Du behauptest, und es nicht letzten Endes doch klammheimlich um das Gefühl des Selbststreichelns gehen soll in der Gewissheit soviel schlauer, schöngeistiger, wissenschaftlicher und sonstewas zu sein als alle anderen, könnte es vielleicht hilfreich sein, über Form und Farbe Deiner Postings nachzudenken.


    Dieses Forum ist keine Dependance des Wissenschaftsbetriebs, es gibt keine Zwangsscheine und Pflichtvorlesungen. Mit anderen Worten: Wenn Du den eitlen, schnell in seiner Würde gekränkten Professor mimen willst, dann tu das. Es gehört wie das, was Du mal eben schnell als "Gelaber" abkanzelst, und wie vieles andere längst zum Folklorebestand dieses Forums.


    Kurzfassung:
    Ich weiß ja nicht, wie es anderen in diesem Thread gehen mag, aber ich habe einfach keine Lust darauf, mir die Rezeption von mir sehr geschätzten Autoren durch Dein arrogantes Getue vermiesen zu lassen.

  • Zitat

    Original von blaustrumpf


    Kurzfassung:
    Ich weiß ja nicht, wie es anderen in diesem Thread gehen mag, aber ich habe einfach keine Lust darauf, mir die Rezeption von mir sehr geschätzten Autoren durch Dein arrogantes Getue vermiesen zu lassen.


    Liebe Inge,


    mir geht es in diesem Fred so, dass ich gerne an den beiden Texten arbeiten würde und nicht, wie schon in den vorangegangenen TAs über das wie und was und warum und überhaupt diskutieren möchte.


    Dass die Methode trocken herüber kam, unterstreiche ich gern mit. Aber sie kam auch knapp und verständlich herüber und es wäre eine Sache des ausprobierens wert. Meine ich.


    Um diesen Fred nicht zu schreddern unterhalten wir uns lieber per PN über die nebensächlichen Details. Da können wir auch gerne ablästern ;) ohne die anderen zu belästigen oder das Anliegen dieser Aktion - Textanalyse zu betreiben um ein besseres Verständnis für unser Handwerk zu bekommen - zu beschädigen.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Anja


    Aber mal zurück zu Hofmannsthal und seiner Erzählung.


    Liebe Grüße
    Anja


    Genau, liebe Anja, und da bist du mir noch die Antwort auf eine Frage schuldig :)


    herzliche Grüße


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von blaustrumpf
    Ich weiß ja nicht, wie es anderen in diesem Thread gehen mag, aber ich habe einfach keine Lust darauf, mir die Rezeption von mir sehr geschätzten Autoren durch Dein arrogantes Getue vermiesen zu lassen.


    Da ich noch nicht dazu gekommen bin, beide Texte zu lesen, konnte ich mich aktiv noch nicht in diesen TA einbringen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass engagierte Versuche, die nur 5 Grad vom Gängigen abweichen mit "arrogantem Getue" attributisiert werden, was ich in keinster Weise nachvollziehen kann. Sobald ich in den nächsten Tagen dafür Zeit finden werde, freue ich mich auf die Teilnahme und insbesondere auf Blickwinkel und Erkenntnisse, die sich mir bislang entzogen haben und mir auf meine eigenen Romanprojekte adaptierbar, lohnenswert und lehrreich erscheinen. Die Vorleistungen, die TWJ gebracht hat, waren bereits mehr als gewinnbringend und m.E. ein gutes Fundament, neue Perspektiven auf literarische Werke zu gewinnen und eine drauf aufbauende Analyse. Sollte jemand andere Herangehensweisen haben, dürfte sicher niemand etwas dagegen haben, sofern sie die Wirkung von literarischen Mitteln beim Leser herauszuarbeiten in der Lage sind. Aber persönliche Fehden auszutragen finde ich deplatziert und denjenigen gegenüber unfair, die hier -- frei nach Maybritt Illner -- am eigentlichen arbeiten wollen: der Vermehrung von gewonnenen Einsichten.


    Zitat

    Original von Horst Dieter
    Um diesen Fred nicht zu schreddern unterhalten wir uns lieber per PN über die nebensächlichen Details. Da können wir auch gerne ablästern ;) ohne die anderen zu belästigen oder das Anliegen dieser Aktion - Textanalyse zu betreiben um ein besseres Verständnis für unser Handwerk zu bekommen - zu beschädigen.


    :klatsch:klatsch:klatsch


    LG Jochen.


    Edit: Textformatierungen

  • Hallo Teilnehmer der TA 4, hallo Kritiker der TA 4,



    1. Ist doch alles prima: Natürlich, es gibt mehrere Methoden der Literaturwissenschaft. Oft konkurrieren sie miteinander, manchmal ergänzen sie sich, und manchmal kommen sie zu ganz unterschiedlichen Resultaten. Manche sind neu, manche alt, manche treten sehr wissenschaftlich auf (strukturale Textanalyse), andere mehr historisch oder hermeneutisch orientiert.


    Es ist also auch hier wie im richtigen Leben: Es gibt unterschiedliche Methoden und unterschiedliche Wege zur Weisheit und Seligkeit. Und das soll jetzt etwas Besonderes sein? Ist doch ganz normal, ist nicht schlimm – es ist alles gut.


    2. Und weil jetzt zwei oder drei, die diese Methodenhuberei aufregt, anfangen, Knüppel in Richtung Weg zu werfen, müssen alle anderen gleich ins Stolpern kommen? Aber geh! Ist dumm, ist fad, ist absurd.


    Ich habe die Kritiken sofort in das große Buch meiner vielen Fehler aufgenommen und
    da, zusammen mit meinen anderen Verfehlungen, sauber und ordentlich archiviert. Irgendwann, wenn ich tot bin, wird irgendjemand die ganzen Kritiken rausziehen und sagen: Was er doch für ein schlechter Mensch war, der TWJ.


    Und jetzt geht es mit der Textanalyse einfach weiter! 8-)

  • Die Zeit ist gekommen, die vier Teile der Reitergeschichte („RG“) zu bestimmen. Weiter wollen wir untersuchen, welche Bedeutungen der Text den einzelnen Räume der Textoberfläche zuweist. Dann fragen wir, was das für einen Sinn hat und ob es zwischen der Raumsemantik und der Entwicklung der erzählten Handlung (Plot) eine Beziehung gibt.


    HvHT: Reitergeschichte - 1. Teil


    Beginn: Den 22. Juli 1848, vor 6 Uhr morgens, verließ ein Streifkommando, die zweite Eskadron von Wallmodenkürassieren, Rittmeister Baron Rofrano mit 107 Reitern, das Kasino San Alessandro und ritt gegen Mailand.


    Ende: … so ritt die schöne Schwadron durch Mailand.


    Der 1. Teil wird u.a. durch folgende Beschreibungen, Adjektive, Partizipien und ganz allgemein Epitheta charakterisiert:


    Frei, glänzend, still, leuchtend, große und schöne, wehrlos daliegende Stadt, stählern funkelnden Himmel, weltberühmten marmornen Dom, silberne Heilige und brokatgekleidete strahlenäugige Frauen, die schöne Schwadron.


    Der 1. Teil wird vom Text also mit Bedeutungen wie: ästhetisch schön, körperlich gesund, sozial friedlich und wohlgeordnet versehen.


    Auf der Ebene der Bewegung trennt sich eine kleinere soziale Einheit (das Streifkommando = Kavallerie-Patrouille) von der größeren sozialen Muttereinheit (dem Hauptheer bzw. der ganzen Streitmacht) und bewegt sich horizontal aus einem ländlichen Raum in das Zentrum einer Stadt.


    Die Aktionen bzw. Gefechte der Kavallerie-Einheit werden als wohlgeordnet, koordiniert und damit erfolgreich geschildert.


    Die horizontale Bewegung kulminiert und endet in der Stadt (Mailand). Besonders wichtig ist die Schilderung der Stadt. Diese wird als von Kirchen und all dem Beiwerk des Christentums beherrschtes christliches und hier wiederum katholisches Zentrum beschrieben.


    Der Höhepunkt des 1. Teils ist die Parallelisierung von christlich-katholisch-urbaner Sphäre (San Babila, an San Fedele, an San Carlo, am weltberühmten marmornen Dom, an San Satiro, San Giorgio, San Lorenzo, San Eustorgio; deren uralte Erztore alle sich auftuend und unter Kerzenschein und Weihrauchqualm silberne Heilige) mit der Sphäre einer wohlgeordneten, disziplinierten, wie ein Räderwerk funktionierenden Militärmacht: zurückgeblitzt auf achtundsiebzig Kürasse, achtundsiebzig aufgestemmte nackte Klingen.


    Der Text konstruiert also in Teil 1 eine Gleichstellung (Übereinstimmung oder auch Äquivalenz) von schön + gesund = methodisch + geordnet = katholisch + christlich.


    Auf einer horizontalen raumsemantischen Achse wird der Gegensatz eines agrarischen Raumes, in dem Kampfhanflungen stattfinden, dem friedlichen urbanen Raum gegenübergestellt.


    Nebenbei: Das Trennen der kleinen Vorhut vom großen Hauptheer bedeutet, dass die kleinere Einheit ohne den Schutz und die integrativen Sozialmechanismen der Gesamtgesellschaft besonderen Gefahren ausgesetzt ist.


    Am Ende von Teil 1 ist die Bühne nun bereitet für einen Konflikt, der daraus entsteht, dass der Zusammenhalt und die Disziplin (= soziale Kohäsion) der kleinen Einheit auf eine Probe gestellt werden.


    Fragen wir uns nun zum Schluss, ob im 1. Teil die Handlung überhaupt schon begonnen hat? Die Antwort kann nur sein: Nein, bis jetzt ist nur die Bühne gebaut worden für die eigentliche Handlung. In der strukturalen Textanalyse wird Handlung immer als die Verletzung der sujetlosen Textebene (erkläre ich später) und das Überschreiten von Grenzend durch die Hauptfigur(en) definiert.


    Fragen wir uns also nun, welche Figuren im Text welche Grenze überschreitet, und dies führt uns zu Teil 2.

  • Zitat

    Und jetzt geht es mit der Textanalyse einfach weiter!


    Ja, die Idee ist gut :).
    Aber es wäre vielleicht für einige hilfreich, wenn auch Du einmal Text arbeiten könntest und das, worauf Du abzielst, am Text verdeutlichen würdest. Ich glaube ehrlich gesagt, dass einige hier ziemlich schwimmen, trotz der Erklärungen :). Bis jetzt haben wir ja erst einige, zaghafte Ansätze zur Analyse zusammengetragen. Da lässt sich aber wohl noch deutlich mehr aus den Texten herausholen :).


    Edit: Das alles hier hat sich erübrigt. Du warst eindeutig schneller als ich :D


    Liebe Grüße
    Anja

  • HvHT: Reitergeschichte - 2. Teil


    Beginn: Nicht weit vom letztgenannten Stadttor, wo sich ein mit hübschen Platanen bewachsenes Glacis erstreckte, glaubte der Wachtmeister Anton Lerch am ebenerdigen Fenster eines neugebauten hellgelben Hauses ein ihm bekanntes weibliches Gesicht zu sehen.


    Ende: Denn der Gedanke an das bevorstehende erste Eintreten in das Zimmer mit den Mahagonimöbeln war der Splitter im Fleisch, um den herum alles von Wünschen und Begierden schwärte.


    Teil 2 erhält seinen Impetus (= Anstoß) daraus, dass die Hauptfigur (Wachtmeister Anton Lerch) die soziale Einheit vorübergehend verlässt, also sich von ihr absichtlich absondert oder trennt.


    Die Trennung von der Reitereinheit findet außerhalb der urbanen Sphäre (Nicht weit vom letztgenannten Stadttor …) statt – und das ist nun sehr wichtig. Hier betritt die Hauptfigur eine Sphäre, der mit einem Schlag ganz andere Attribute zugeordnet werden als zuvor:


    Eine üppige, beinahe noch junge Frau, rote Pelargonien, ausgefüllt von einem großen weißen Bette, beleibter, vollständig rasierter älterer Mann, jetzigen Fülle die damalige üppig-magere Gestalt, geschmeichelten slawischen Weise, Blut in den starken Hals, gezierte Manier, Morgenanzug, weißen, warm und kühlen Nacken, schöne breite Bett, feine weiße Haut. Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis …


    Hier baut der Text also rasch und etwas überfrachtet eine Sphäre auf, die sich so charakterisieren lässt:


    Weiblich + sexuell + disziplinlos + ungeordnet


    Der Ausdruck: „angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis“ zeigt, dass HvHT hier andeutet, dass wir in einem Bereich sind, in dem Prostitution, Kuppelei (die Leporello-Gestalt des alten Dieners) und sogar Vergewaltigung sich mischen.


    Mit einem sehr harten Schnitt sind wir damit also in einer Welt gelandet, die der des
    1. Teils (wohlgeordnet, diszipliniert, gemeinschaftlich, asexuell, katholisch) diametral gegenüber steht.


    Und nun ahnen wir auch schon besser, wo die Grenze liegen wird, die der Text zieht: Es muss die Grenze sein zwischen:


    - männlich, gemeinschaftlich, geordnet, diszipliniert, asexuell, katholisch


    und


    - weiblich, individuell, chaotisch, undiszipliniert, sexuell, unchristlich.


    Die Frage wird nun sein, ob und wie die Hauptfigur diese Grenze überschreiten wird. Das führt uns zu Teil 3.

  • HvHT: Reitergeschichte - 3. Teil


    Beginn: Dem Streifkommando begegnete in den Nachmittagsstunden nichts Neues und die Träumereien des Wachtmeisters erfuhren keine Hemmungen.



    Ende: Der Wachtmeister riß den Säbel zurück und erhaschte an der gleichen Stelle, wo die Finger des Herunterstürzenden ihn losgelassen hatten, den Stangenzügel des Eisenschimmels, der leicht und zierlich wie ein Reh die Füße über seinen sterbenden Herrn hinhob.


    Die sexuelle Erregung der Hauptfigur, die die Begegnung mit der Vuic in Teil 2 ausgelöst hat, greift jetzt auf ihr ganzes Verhalten über. Der Text schildert dies wiederum sehr drastisch, indem er eine ganz neue semantische Ebene eröffnet, die der Text nun auch auf der horizontalen (Stadt – Land, Dorf) und der vertikalen Achse (oben Stadt, Gemeinschaft – unten Dorf, einzelne) anordnet (manchmal sagt man auch: organisiert).


    Die Hauptfigur macht einen Kurzbesuch in der Hölle, die – wiederum überreich – mit diesen Attributen charakterisieret wird:


    ... ein von der Landstraße abliegendes Dorf, mit halbverfallenem Glockenturm in einer dunkelnden Mulde, elenden, scheinbar verödeten Nest, totenstill; kein Kind, kein Vogel, kein Lufthauch. Rechts und links standen schmutzige kleine Häuser, nackten Ziegeln, faule, halbnackte Gestalt auf einer Bettstatt lungern oder schleppend, wie mit ausgerenkten Hüften, nur halb angekleidet; ihr schmutziger, abgerissener Rock von geblümter Seide schleppte im Rinnsal, ihre nackten Füße staken in schmutzigen Pantoffeln, blutende Ratten, weiße unreine Hündin, teuflischer Hingabe, aufgeschwollenem Leib, entsetzlicher Ausdruck von Schmerz und Beklemmung, äußerst gieriger Hässlichkeit, entzündeten Auge, Dunst des Blutes und der an den Türpfosten genagelten frischen Haut.


    Diese Sphäre lässt sich so charakterisieren:


    Hässlich + krank + chaotisch + roh + tot + gewalttätig + nackt + unzivilisiert.


    Auch auf der Ebene der Raumsemantik hat der Text uns den bis jetzt größten Gegensatz (= Antagonismus) präsentiert:


    Stadt (Mailand): oben + hell +zivilisiert + katholisch-christich + rein + asexuell + zentral + schön + geordnet + diszipliniert


    Dorf (unbenannt): unten – dunkel – unzivilisiert-naturhaft – unchristlich – schmutzig – sexuell – peripher – hässlich – chaotisch – undiszipliniert.


    Wer ein bisschen mit der Topologie (= die Art, wie etwas immer wieder dargestellt wird) und der Ikonographie (= die Bilder, die wir mit einem best. Thema geistig verbinden) der Darstellung der Hölle vertraut ist, der bemerkt, dass HvHT das Dorf mit allen Attributen der Hölle, wie sie z.B. bei Dante in der Göttlichen Komödie darstellt, ausgesattet hat.


    Deshalb können wir den Text nun dahingehend interpretieren, dass wir sagen, der Autor zeigt seinen Hauptfigur auf einer Fahrt zur Hölle. Wie wir wissen ist ein Besuch in der Hölle reversibel, d.h. Menschen, die in der Hölle waren, können auf die Erde zurückkehren oder sogar in den Himmel kommen – und genau das passiert ja in der Göttlichen Komödie.


    Jetzt kommen wir zu der seltsamen Szene, in der die Hauptfigur mit einem Doppelgänger konfrontiert wird. Horst Dieter und Anja haben zu recht auf die große Bedeutung genau dieser Szene verwiesen.


    Was passiert hier? Ist es tatsächlich ein Doppelgänger? M.M.n. handelt es sich eher um ein Spiegelbild. Ich würde sagen, die Hauptfigur sieht ihr Spiegelbild. Ein Doppelgänger agiert oft unabhängig von seinem Urbild, ein Spiegelbild jedoch kann nur gespiegelt das tun, was die Figur, die in den Spiegel blickt, auch tut.


    Warum aber zeigt uns der Text die Hauptfigur und sein Spiegelbild? Hier müssen wir wieder das kulturelle Wissen befragen, das wir alle zu Spiegeln haben. Spiegel, das wissen wir aus dem Märchen („Schneewittchen“), zeigen und sagen uns die Wahrheit. Die Hautfigur sieht sich im Spiegel und das soll sie an die eigene Identität erinnern. Der Spiegel soll dem Wachtmeister zeigen, wer er eigentlich ist - nämlich Teil und Glied einer Armeeeinheit und kein individuell agierender Einzelkämpfer, der sich weit außerhalb des Wertesystems seiner Truppe begeben darf.


    Der Blick in den Spiegel ist gewissermaßen die letzte Chance, die der Text der Hauptfigur gibt. Die Grenze, die die Hauptfigur überschreiten kann oder wird, ist nun ganz nahe und der Text gibt der Hauptfigur nun eine letzte Warnung, durch das stärkste Mittel, das er hat – die Präsentation des eigenen Bildes in intakter Form.


    Und nun passiert es: Schon im nächsten Satz überschreitet die Hauptfigur diese Grenze. Der Text hatte bereits mehrere Male zuvor angedeutet, dass die Hauptfigur auch ihre soziale Stellung vergessen hat und auch so aus der sozialen Ordnung der Einheit ausgeschert ist. Nun macht Lerch den entscheidenden Fehler: Er greift den feindlichen Offizier auf dem Eisenschimmel an.


    Der Offizier riß ihn herum, wendete dem Wachtmeister ein junges, sehr bleiches Gesicht und die Mündung einer Pistole zu, als ihm ein Säbel in den Mund fuhr.


    Dieser fremde Offizier aber ist der Tod. Natürlich sagt der Text das so nicht, aber die Figur hat alle Attribute, mit denen der Tod gewöhnlich gezeichnet wird: Sie ist bleich und sie reitet auf einem Schimmel. Tod und Teufel reiten zusammen, der Teufel auf einem Rappen, der Tod auf einem Schimmel.


    Der Tod ist Teil der christlichen Weltordnung und er muss genauso respektiert werden wie die Hölle und der Himmel.


    Fassen wir nun zusammen, was in Teil 3 passiert ist: Die Hauptfigur hat zwei Warnungen erhalten, nicht aus der Disziplin und der Werte-Sphäre seiner Armee-Einheit auszuscheiden. Beide Warnungen wurden ignoriert. Die erste Warnung war die Höllenfahrt in das Dorf des Todes, die zweite Warnung war die Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild.


    Beide Warnungen sollten die Hauptfigur vom Überschreiten der Grenze (= Ausbrechen aus der traditionellen Werteordnung) abschrecken. Dies hat nicht funktioniert. In einem Anfall grenzenloser Hybris (= Hochmut) lehnt sich die Hauptfigur gegen den Tod auf, indem sie ihn angreift und zu töten versucht. Dieses aus Sicht der Wertordnung des Textes absolut frevelhafte Tun muss notwendig zum Tod der Hauptfigur führen.


    Dies wird in Teil 4 gezeigt.

  • Zitat

    Original von Anja
    HD,
    ich finde keine Frage, auf die ich antworten könnte :dumm.


    Du schriebst auf der ersten Seite:


    Zitat


    Eines der wichtigsten wäre das des "Spiegels" (ich würde übrigens die "Spiegelepisode" noch einmal vom Dorf abtrennen): Nach dem Einzug in Mailand (von Anfang an erotisch aggressiv besetzt) und dem Ritt durch das Dorf (auch erotisch besetzt durch die zweite Frauenfigur, hier aber als Verlust der Potenz) sieht Lerch sich sozusagen im Traumbild des Spiegels selber, ohne sich aber zu erkennen.
    Ich meine, darin liegt eine zentrale Aussage des Textes. Spätestens ab diesem Punkt kann er nur noch scheitern.


    Ich fragte: Wieso kann er ab diesem Punkt nur noch scheitern?

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Anja
    ... ich finde keine Frage, auf die ich antworten könnte :dumm.


    Liebe Anja,
    ich habe eine sehr schöne Frage für dich: Der Kritik Otto Brahm hat HvHT vorgeworfen, dass die Geschichte „kleistisierend“ sei. Hat er Recht? Und was meinte er eigentlich mit „kleistisierend“?

  • Zitat

    Original von Horst Dieter
    Ich fragte: Wieso kann er ab diesem Punkt nur noch scheitern?


    Anja hat absolut Recht!


    Er kann nur noch scheitern, weil er sich selbst nicht erkennt. Er erkennt sich nicht im Spiegel, damit negiert er seine Identität als Soldat in einer Truppengemeinschaft, die bestimmten Regeln und Werten unbedingt verbunden sein muss.


    Sein Spiegelbild soll ihm doch zeigen: Das bist du, so bist du, erinnere dich daran, werde wieder der, der du bist, komme nicht vom rechten Weg ab!


    Und da er dieses Aufforderung ignoriert, ist er verloren.

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson


    Warum aber zeigt uns der Text die Hauptfigur und sein Spiegelbild? Hier müssen wir wieder das kulturelle Wissen befragen, das wir alle zu Spiegeln haben. Spiegel, das wissen wir aus dem Märchen („Schneewittchen“), zeigen und sagen uns die Wahrheit. Die Hautfigur sieht sich im Spiegel und das soll sie an die eigene Identität erinnern. Der Spiegel soll dem Wachtmeister zeigen, wer er eigentlich ist - nämlich Teil und Glied einer Armeeeinheit und kein individuell agierender Einzelkämpfer, der sich weit außerhalb des Wertesystems seiner Truppe begeben darf.



    @Thomas
    Eben wollte ich beim Lesen noch renitent werden und darauf beharren, dass es doch ein Doppelgänger ist, da fällt es mir aber bei diesem Absatz wie Schuppen von den Augen: Der Doppelgänger ist der Teil der eigenen Identität, die man nicht im Blick hat, der Schatten (C.G. Jung). Den sieht man nicht, wenn man in den Spiegel blickt sondern allenfalls, wenn man dahinter schaut. Hier ist es aber tatsächlich so, dass der Reiter mit sich selbst konfrontiert wird. Es ist gar nicht von Bedeutung, ihn mit seinem Doppelgänger zu konfrontieren, wenn er noch nicht mal das Bild von sich selber richtig hat.


    Hm, da hätte ich vielleicht doch etwas länger nachdenken sollen, bevor ich gegen Anjas Ausdeutung andiskutiere. Weibliche Intuition gepaart mit Intellekt sollte man eben doch nicht einfach vorschnell beiseite schieben. Ich glaube, ich könnte gerade selber einen Spiegel gebrauchen :(


    Horst-Dieter

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