Stefan Merrill Block: Wie ich mich einmal in alles verliebte

  • ASIN/ISBN: 3832180397


    Seth, ein pickliger 15jähriger in Austin/Texas bemerkt an seiner 35jährigen Mutter Merkwürdigkeiten. Bald ist nicht mehr zu übersehen, dass sie an einer Frühform von Alzheimer leidet. In der Nähe von Dallas/Texas sitzt ein verkrüppelter alter Mann in einem heruntergekommenen Farmhaus inmitten zahlreicher gleicher Neubauten und wartet seit mehr als 20 Jahren auf die Rückkehr seiner Tochter.


    Der Autor erzählt in diesem Buch die Geschichte von Seth, der sich nicht mit der Krankheit seiner Mutter abfindet, die Datenbank eines Wissenschaftlers knackt und auf die Suche nach den Vorfahren der Mutter macht, die diese sorgsam ihrer Familie verheimlicht hat. Der Autor erzählt die Geschichte des alten Mannes, seinen Erinnerungen folgend bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihm die Zwangsenteignung auf seinem letzten verbliebenen Grundstücksfetzen droht, weil sein heruntergekommenes Haus für die Allgemeinheit nicht mehr tragbar ist. Der Autor erzählt in Kapiteln, die mit »Genetische Historie« überschrieben sind, eine weitere Geschichte, eine die so verrückt ist, dass man daraus ein eigenes Buch hätte machen können. Es ist die Geschichte von Alban Mapplethorpes IV, in dem diese Alzheimer Frühform erstmalig entstand und der es schaffte, ein ganzes Dorf damit zu infizieren. Und als vierte Geschichte zieht sich in mal kurzen, mal längeren Sentenzen die Geschichte - oder besser, das Märchen - von Isidora durch, einer Gegenwelt, in der es zunächst keine Sprache und kein Erinnern gab, in der die Menschen glücklich waren allein durch ihr Da-Sein. Erst als ein Mädchen, das den Übergang von der Erdenwelt nach Isidora geschafft hatte die Sprache nach Isidora brachte, führte dies zu Krieg und all dem Elend, dass auch aus unserer Welt bekannt ist. Zum Schluss führt der Autor alle diese Geschichten zusammen.


    Vermutlich hat der Verlag gedacht, dass ein Roman über das Thema Alzheimer (hier in Deutschland) niemanden interessiert. Deshalb wurde als Titel die Überschrift des ersten Kapitels - Wie ich mich einmal in alles verliebte - gewählt und nicht die Übersetzung des Originaltitels - The Story of Forgetting. Die Sorge, dass das Buch eher bemüht daher kommt, ist unberechtigt. Die Geschichte ist spannend erzählt und die Aufarbeitung der Problematik gut gelungen. Jede der tragenden Personen in diesem Buch geht anders damit um und so kann sich der Leser auch gut auf Distanz halten, während er nach und nach in die Problematik mit hineingenommen wird.


    Der Wissenschaftler aus dem Buch und die beschriebene Variante der Frühform sind frei erfunden, wie der Autor im Nachwort beschreibt. Ansonsten halten die beschriebenen Merkmale und Ausprägungen dieser Krankheit der Recherche stand. Der Autor hat selbst Fälle dieser Krankheit in der Familie, wie auf seiner Homepage nachzulesen ist. Er richtet sich schon darauf ein, selbst einmal nicht mehr zu wissen, dass er dieses Buch geschrieben hat.


    Ich wünsche dem Buch, dass es eine große Verbreitung findet und auch, dass diejenigen, die sich das Buch auf Grund falscher Vorstellung über den Titel gekauft haben, es nicht zu früh aus der Hand legen.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann



  • Seth ist sechzehn, als seine knapp fünfunddreißig Jahre alte Mutter die ersten Anzeichen der so genannten Alzheimer-Frühform zeigt, einer erblichen Variante jener degenerativen Krankheit, die das Gedächtnis der Patienten zerstört, so dass sie erst ihre kurzzeitigen Erinnerungen verlieren, bis sie schließlich, nach der Wiederholung einer kindheitsähnlichen Phase, sogar das Atmen "vergessen" und sterben. Der scheue, aknegeplagte Musterschüler wird zum Feldforscher. Er versucht, alles über die Vergangenheit seiner Mutter herauszufinden, über die sich beide Elternteile ausgeschwiegen haben. Seth träumt davon, zu einem Spezialisten für Alzheimer zu werden und ein Heilmittel zu entwickeln. Über all dem schwebt die Frage, ob Seth selbst die Krankheit "erben" wird.


    Zur gleichen Zeit sitzt der achtundsechzig Jahre alte Abel irgendwo in Texas in einem verfallenden Farmhäuschen und wartet auf die Rückkehr seiner Tochter. In Rückblenden erzählt er, wie er zum Vater wurde, und wie sein Zwillingsbruder Paul schließlich erkrankte. Während Abel mit der Notwendigkeit konfrontiert wird, seine Eremitage aufzugeben, weil Vorstadt-Neubauten immer dichter an sein hässliches Eigenheim heranrücken, verliert er nach und nach die Hoffnung.


    Und dann gibt es da noch "Isidora", jenes geheime, äußerst schwer zu findende Land des Vergessens, von dem nur wenige Menschen wissen, und in dem alle Bewohner glücklich sind, weil sie keine Angst haben, denn Angst existiert nur zusammen mit Erinnerung.


    Bis sich alle drei Handlungsstränge verbinden, hat der Leser eine manchmal amüsante, häufig traurige, oft wunderschöne und nicht selten ergreifende, sehr schlaue Lektüre vor sich. Dieses - etwas unglücklich deutsch betitelte - Debüt wirkt zwar hier und da überkomponiert, als hätte der Autor unbedingt alles, was die Creative-Writing-Gurus vorgegeben haben, beachten wollen, und das im Klappentext vergebene Prädikat "Meisterwerk" mag etwas vorschnell vergeben worden sein, aber wirklich kritisieren lässt sich an diesem bemerkenswerten Buch eigentlich nichts. Ein schöner Roman, der einiges von "Supergute Tage" (Mark Haddon) hat, zugleich aber in der Erzähltradition von Franzen, Irving und Simmons steht. Großartig.

    ASIN/ISBN: 3832180397

  • Zu deinen Rezis fällt mir immer nur danke ein. Danke, dass du mich bewahrt hast, meine Zeit an Thriller zu verschwenden, bloß weil ich die SF mag, wie eben bei Marshall, hier danke, dass du geschrieben hast, was ich beim Lese gedacht habe.


    BTW: Vielleicht haben sie geglaubt, mit diesem Titel eine Verbindung zu Oliver Sacks amüsant tragischen Geschichten über neurologische Störungen aufbauen zu können, z.B. Der Tag, an dem mein Bein fortging . Ansonsten geht mir der Sinn für solche arg freien Titelauswahlen einfach ab, selbst wenn sie dem Buch entnommen sind.


    Was ist nur schwer daran, The Story of Forgetting - A Novel zu übersetzen?



    Liebe Grüße
    JJ

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo Horst-Dieter,


    danke übrigens für den Tipp damals in Bronnbach. Ich habe es mir gleich danach gekauft.


    Liebe Grüße
    Judith

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    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Was ist so schwer daran, The Story of Forgetting - A Novel zu übersetzen?


    Vermutlich hatte der deutsche Verlag, wie schon gemutmaßt wurde, einfach Bedenken, das Thema des Buches so plakativ durch die Titelei zu transportieren. Auch der Klappentext oder die Kurzbeschreibung bei Amazon erwähnen Alzheimer übrigens mit keinem Wort, stattdessen ist dort unter anderem (Klappentext) klamaukhaft davon die Rede, dass (angeblich) "eine Frau versucht, mit einem Koffer voller Wurst zu verreisen", wohl um den Eindruck zu erwecken, es ginge um einen besonders schrägen Familienroman. Tatsächlich handelt die fragliche Stelle davon, wie Seth' Mutter im Frühstadium der Krankheit wochenlang Nahrungsmittel hortet, um sich eines Nachts auf den Heimweg (in ihre Kindheit, die für sie Gegenwart ist) zu machen, und sie hat einen Koffer voll mit verwesender Pastrami bei sich. Im Buch ist das keineswegs lustig, sondern ergreifend und tragisch - Seth offenbart sich erstmals die Tragweite der Situation. Zu meiner Schande muss ich allerdings gestehen, dass es genau dieser Nebensatz war, der mich zu dem Buch hat greifen lassen. 8-) Nicht zu meinem Schaden.

  • Zitat

    Original von Judith
    Hallo Horst-Dieter,


    danke übrigens für den Tipp damals in Bronnbach. Ich habe es mir gleich danach gekauft.


    Liebe Grüße
    Judith


    Gut! Dann sind es schon drei, die das Buch gekauft haben, du, Tom und ich. Da kann der Verlag ja langsam an die zweite Auflage denken :D


    Horst-Dieter

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    ASIN/ISBN: 3831335559


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    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Tom
    Edit: Könnte ein Moderator bitte die beiden Threads zusammenführen? Danke!


    Hiermit geschehen.


    Gruss,


    Bernd

    "Der erfolgreiche Abschluss infamer Aktionen steigert Ihren Bekanntheitsgrad, was für Ihren Feldzug zur absoluten Weltherrschaft unglaublich wichtig ist." (aus dem Benutzerhandbuch des PC-Spiels Evil Genius)

  • Es sind schon vier die das Buch gekauft haben.
    Auf meine Anregung hin, aufmerksam gemacht auf das Buch durch Horst- Dieter, (bekommt der vielleicht Provision), hat die Stadtbibliothek Bad Mergentheim das Buch bestellt und ich war der erste Leser.
    Jetzt kann der Verlag aber so richtig durchstarten!

  • Seth ist 15, und hat die Probleme vieler Teenager. Picklig und schüchtern muss er sich anderes Terrain suchen als Mädchen. Dazu muss er miterleben, wie seine Mutter immer mehr vergisst, sogar Seths Namen und tragische Verhaltensweisen entwickelt wie Lebensmittel in einem Koffer zu horten. Seth steckt seine jugendliche Energie in Wissensdurst, sucht Alzheimeropfer und -forscher auf, weil er die Grausamkeit nicht begreifen, verwinden kann, mit der die Krankheit ihm seine geliebte Mutter Stück für Stück nimmt.


    Der andere Erzählstrang ist der von Alban, der sich im Alter von 68 zurückerinnert, wie er jahrelang mit seinem Zwillingsbruder Paul und dessen Frau Mae zusammenwohnte, bei der er sich "in alles verliebte" (woher der kreuzdämliche Titel kommt); während eines Auslandsaufenthaltes kommt er mit Mae vorübergehend zusammen. Mae weiß sich nicht anders zu helfen, als Paul die Tochter Albans unterzuschieben. Als Paul unheilbar erkrankt, scheint es eine tragische "Lösung" für das Dreiecksproblem zu geben.


    Zusammengefügt werden die Erzählstränge zunächst dadurch, dass Seth wie Alban von Geschichten aus einem sagenumwobenen Land namens "Isodora" kennen, in dem die Menschen glücklich leben, weil sie durch Nichtvorhandensein von Erinnerungen keine Angst kennen. Die beiden Stränge, soviel sei verraten, finden auf tragische, freilich auch konstruierte Weise zusammen. Die größte Stärke von Stefan Merrill Blocks Debut ist die große Anteilnahme und Sensibilität für seine Figuren und eine Krankheit, die den Menschen mit ihren Erinnerungen ihre Persönlichkeit raubt, ein äußerst langgestreckter Tod ist.


    Block erzählt gerade am Anfang viel, zeigt wenig, baut mehr an Wissenschaft und Geschichten in seinen Roman ein als nötig. Doch "The story of forgetting", wie er im englischen Original viel treffender heißt, hat eine schöne, konsistente Grundstimmung, emotional, aber noch nicht kitschig. Bemerkenswert.