Arthur Schnitzler: Traumnovelle - Erotik i.d. Literatur

  • Arthur Schnitzler, 1862-1931, assimilierter Jude, Arzt, Erzähler, Romancier und Dramatiker, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.


    Schnitzler in Wikipedia


    Sehr gut ist die rororo-Monographie von Hartmut Scheible:


    ASIN/ISBN: 3499502356


    Dass er nie den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, zeigt vor allem eines: die flagrante Unfähigkeit der Schweden, zwischen guter und einfach nur angesagter Literatur zu unterscheiden.


    Schnitzler hat einige sehr gute Dramen und einige der besten Novellen der Weltliteratur geschrieben. In der Novellle "Leutnant Gustl" (später auch nochmal in Fräulein Else) hat er den inneren Molonog, also eine wirklich neue Erzählperspektive, praktisch erfunden.


    Seine Traumnovelle (1925) war die literatische Vorlage für Kubricks letzten Film Eyes Wide Shut mit N. Kidman und T. Cruise. Die Traumnovelle ist eine der erotischten und geheimnisvollsten Erzählungen der Weltliteratur überhaupt.


    Stanley Kubrick Wikipedia


    Inhalt: Wien kurz vor dem ersten Weltkrieg. Fridolin, 35, praktischer Arzt, aufopfernde Gattin, fünfjährige Tochter, Dienstmädchen, lebt in behaglichen bürgerlichen Umständen. Wie brüchig diese Umstände sind, zeigt diese Novelle - denn in nur einer Nacht gerät sein ganzes Leben aus den Fugen. Als diese Nacht zu Ende ist, ist seine Ehe vorbei und er selber für den Rest des Lebens ein andere Mensch. Was ist in dieser Nacht also passiert?


    An einem Abend im Februar, der Faschung hat seinen Höhepunkt erreicht, erzählen Fridolin und seine Frau Albertine einander, dass sie sich in Gedanken lebhaft betrügen. Sie geht geistig mit einem bloden Dänen aus dem Urlaub fremd, während ihm eine fünfzehnjährige halbnackte Erscheinung aus dem selben Urlaub ebenfalls nicht aus dem Kopf geht. Es ist zwar nichts passiert, aber die erzählerischen Weichen, die die Geleise voneinander trennen, sind nun gestellt.


    Noch am selben Abend muss Fridolin zu einem Kranken, den er nur noch tot in seiner Wohnung findet. Dessen Tochter erklärt ihm am Totenbett ihre Liebe und kündigt an, für immer in Fridolins Nähe wohnen zu wollen.


    Auf dem Weg nach Hause wird er von Verbindungsstudenten angerempelt und überlegt, ob er einen von ihnen zum Duell fordern soll. Wie im Traum geht Fridolin dann an seinem Haus vorbei und landet schließlich in einer Vorstadtgasse, wo Prostituierte auf Kundschaft warten. Ohne es recht zu wollen, geht er mit einer Siebzehnjährigen auf das Zimmer, sieht zu, wie sie sich auszieht, rührt sie jedoch nicht an.


    Wieder auf der Straße, will er noch immer nicht nach Hause, sondern setzt sich in ein Caféhaus. Da trifft er den ehemaligen Medizinstudenten Nachtigall, der nun als Barpianist sein Leben fristet. Nachtigall erzählt Fridolin, dass er in geheimen Kreisen Klavier spiele, noch heute Abend. Fridolin ist interessiert: Geheim? Noch heute? Er will mit. Nachtigall will ihn abhalten, verweist auf die absolute Geheimhaltung, ja Todesgefahr.


    Aber es gibt kein Halten mehr für Fridolin. Er läutet einen Kostümverleiher aus dem Schlaf, leiht sich eine Mönchskutte mit Pilgerhut, sieht nebenbei, wie zwei schwarze Gestalten die minderhährige Tochter des Kostümverleihers bedrängen, dann aber wirft er sich in einen Fiaker und fährt hinter Nachtigalls Kutsche her bis zu einem kleinen Palais am Stadtrand von Wien.


    Mit der von Nachtigall erfahrenen Parole gelangt Fridolin in einen geräumigen Saal, in dem 30, 40 Frauen und Männer, alle in Maske, versammelt sind. Bald warnt ihn eine Maskierte: er gehöre nicht hierher, er solle gehen, bevor es zu spät sei.


    Da beginnt dre Tanz. Die Damen lassen alle Hüllen fallen und tanzen nackt in ihren Masken. Fridolin fordert seine schöne Warnerin auf, wird jedoch von zwei schwarzen Herren davon abgehalten. Er wird nach der Parole des Hauses gefragt, er kennt sie nicht. Die Musik bricht ab, die nackten Frauen stehen, die schwarzen Männer rücken näher. Da erbietet sich die Warnerin, Fridolin auszulösen. Du weißt, was das bedeutet, fragt einer der Männer. Sie weiß es.


    Fridolin versucht tapfer, den Helden zu spielen und die Dame, zu der er sich mittlerweile in wilder Geilheit hingezogen fühlt, zu retten, aber er wird ganz einfach hinausgeworfen. Eine Leichenkutsche mit geschlossenen Fenstern bringt ihn nach Wien zurück.


    Am nächsten Tag sucht er das Palais, findet es, aber ein Diener kommt heraus und gibt ihm einem Brief: entweder er verschwinde oder Schlimmeres werde passieren. Zurück in der Stadt bringt Fridolin der Prostituierten von gestern Obst und Kuchen, erfährt jedoch, dass diese mit Syphillis im Krankenhaus liegt. Dann liest er in der Zeitung, dass die Baronin von D. tot in ihrem Hotelzimmer aufgefunden wurde: vergiftet. Fridolin geht in das Krankenhaus, wo die Onduktionen vorgenommen werden, und da liegt sie tot vor ihm: die nackte Unbekannte vom vorigen Abend.


    Ich empfehle diese Novelle jedem, der sich Gedanken macht über die Funktion und Darstellung von Erotik in der Literatur. Ohne jede Indezenz, ohne klinische Beschreibung von irgendwelchen Vögeleien, gelingt es Schnitzler, eine mit Erotik gesättigte Stimmung aufzubauen. Die angedeutete Massenorgie ist in ihrer erotischen Wirkung ohne Beispiel. Kubrick hat das gewußt.


    ASIN/ISBN: 359629410X

  • Zitat

    Original von Berit
    Muss ich unbedingt mal lesen. (Den Film fand ich nervig. Ich liebe Kubricks Filme, aber Eyes Wide Shut, nönö.)


    Also ich mach es immer anders: ich lese zuerst das Buch und dann schau ich mir vielleicht den Film an. Ich kenne ganz wenige Verfilmungen großer Literatur, die wirklich gut sind. Ich habe mir weder die Anna-Karenina-Verfilmung noch die Verfilmung8en) von Krieg und Frieden jemals angeschaut, weil ich Angst habe, die großartigen Eindrücke der Bücher in meinem Kopf zu beschädigen.


    Auch die Zauberberg-Verfilmung (schon lange her, ca. 1982) hat mir nicht gefallen.


    Ich mag manche Filme von Kubrick ganz gerne, z.B. Dr. Strangelove, aber Eyes Wild Shut habe ich nicht gesehen.


    Es gibt von Fassbinder eine recht eigenartige Effi-Briest-Verfilmung mit Hanna Schygulla als Effi; die würde ich gerne wieder einmal sehen.


    Schnitzler, ich möchte das betonen, ist ein heute zu wenig gelesener Schriftsteller, der in Wirklichkeit zu den Allergrößen gehört. Auch seine Roman Therese ist ganz hervorragend.

  • Verehrter TWJ,


    Zitat

    Schnitzler, ich möchte das betonen, ist ein heute zu wenig gelesener Schriftsteller, der in Wirklichkeit zu den Allergrößen gehört. Auch seine Roman Therese ist ganz hervorragend.


    Ich liebe seine Novellen, "Dr. Gräsler, Badearzt" oder "Frau Berta Garlan".
    Da ich Schnitzler in meiner Magisterarbeit vor 15 Jahren (mein Gott, 15 Jahre 8o) abgehandelt habe, habe ich mir sein Gesamtwerk einverleibt. Und zwar aus Begeisterung und nicht als Muss.


    Seine Charkterisierung von Figuren mit einem feinen Strich, seine Experimentierfreude mit literarischen Stilrichtungen machen die Lektüre seiner Werke wirklich zum Genuss. Und als Meister der kleineren Erzählung ist er mir zusätzlich sympathisch. Denn wo andere 500 Seiten brauchten, genügten ihm 50.


    "Therese" ist für mich der Ausbruch aus der Literatur des "fin de siecle" hin zum Realismus. Und damit war Schnitzler - wie so oft - seiner Zeit voraus.


    Herzlichst


    Wolf P.

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson
    Also ich mach es immer anders: ich lese zuerst das Buch und dann schau ich mir vielleicht den Film an.


    So mach ich das in der Regel auch. Ist schon zu empfehlen, diese Herangehensweise. (Aber andererseits mache ich keinen prinzipiellen Bogen um Literaturverfilmungen, wenn ich die Bücher noch nicht kenne; nur, wenn ich sie in nächster Zeit lesen möchte.)

    Frau: "Warum müssen Frauen immer still sein?"
    Mann: "Weil sie dann länger schön bleiben."
    (Der Hexer, 1964)

  • Von der Sprache her fand ich diesen Schnitzler manchmal etwas schwer, aber sehr klar und mit vielen herrlichen Wendungen versehen, war dies ein Büchlein (90 Seiten), das ich dennoch nicht so rasch aus der Hand legen konnte. Verdammt mutig und seiner Zeit weit voraus, würde ich den Autor einstufen. (Ohne daß ich weitere Werke von ihm kenne)
    Vieles entdeckt man erst beim zweiten Lesen zwischen den Zeilen. Eindeutig ein Buch, daß ich ohne die SZ-Bibliothek vermutlich nicht gelesen hätte. 8o


    Ich selbst hatte keine Ahnung, das der Film "Eyes wide shut" eine literarische Vorlage hatte. Ich habe ihn allerdings aufgrund meiner Kidman-Cruise-Abneigung noch nicht gesehen, meine mich auch zu erinnern, daß er eben kein Erfolg war, sondern gefloppt ist.