Thomas Glavinic: Der Jonas-Komplex

  • Komplett irre


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    Obwohl ich ein großer Verehrer davon bin, wie kunstfertig und klug der Österreicher Thomas Glavinic seine Geschichten rund um ein halbes Dutzend wiederkehrender Motive baut, habe ich lange einen großen Bogen um seinen bisher letzten „offiziellen“ Roman „Der Jonas-Komplex“ (2016) gemacht. Ich war in Sorge vor diesen 730 Seiten Abschied, vor der Wiederbegegnung mit diesem immer kaputteren Erzähler-Ich, vor der Kehlmann-Hassliebe und vor Jonas, der Hauptfigur aus dem fantastischen „Das größere Wunder“ (2013). Ja, Glavinic hat in „Die Welt“ im Jahr 2020 eine Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel „Corona-Roman“ veröffentlicht, aber da haben mich weder das Medium, noch das Sujet interessiert; ich hatte, wie die meisten von uns, selbst genug mit letzterem zu tun. Und seinen 2017 veröffentlichten Kampfsport-Erfahrungsbericht „Gebrauchsanleitung zur Selbstverteidigung“ zähle ich nicht – das ist Sekundärliteratur aus erster Hand.


    Aber nun leerte sich das Regal mit den ungelesenen Romanen in Richtung dieser etwas düster ausgestatteten Schwarte, die da schon eine Weile stand, und ich war zu faul, mir anderswo Nachschub zu beschaffen, also griff ich zu. Und dann stellte sich auch schon nach ein paar Seiten, ein paar Absätzen dieses Gefühl wieder ein, dieses ganz besondere Glavinic-Gefühl: Einen klugen Freund wiederzutreffen, den man eigentlich nur duldet, dem man aber hingerissen dabei zuschaut, wie er sein eigenes Leben sabotiert. Und die Verblüffung darüber, dass sich maßlose Egozentrik mit unglaublichem Erzähltalent, flapsiger Weisheit und kaum zu bändigendem Mitteilungsdrang so perfekt kombinieren lassen.


    Das Buch, das nach einem Phänomen aus der Psychologie betitelt ist (der Projektion eigener Sorgen und Wünsche auf andere, gerne auch erfundene Personen), erzählt – wie die meisten bisherigen Glavinic-Romane – von einem Schriftsteller, der in Wien lebt, der sich mit Alkohol und anderen Drogen zuballert, der, wo immer es sich anbietet, zur Kopulation bereit ist, der (fast) keine Verantwortung übernimmt, der jede Gelegenheit ergreift und weit über seine Verhältnisse lebt. Der zwar Wing Tsun trainiert, die Kung-Fu-ähnliche Kampfkunst, aber ansonsten seinen Körper wie eine Tüte Müll behandelt. Der nachts auf Koks oder im Suff grausige Nachrichten versendet und am Morgen danach nicht mehr genau weiß, aber ahnt, was geschehen ist und warum keiner mehr mit ihm reden will. Oder wie diese Frau in sein Bett kam. Der mit Daniel Kehlmann befreundet ist und von Karin Graf vertreten wird, was aus Sicht dieser beiden kaum nachzollziehbar zu sein scheint, und der das immer wieder betonen muss. Die stark autobiografische Anmutung des ich-erzählten Anteils von „Der Jonas-Komplex“ wurde (wie auch bei den vorigen Romanen) immer wieder untermauert, von Glavinic selbst, aber auch von Leuten, die ihn kennen, und das macht die Lektüre dieser Episoden noch ein wenig schmerzhafter, obwohl mir sonst egal ist, welchen Wahrheits- oder autobiografischen Gehalt solche Geschichten haben. Aber sie sind auch spannend, extrem originell, oft unfassbar amüsant oder erschütternd oder alles zugleich. Was es überraschenderweise fast nie gibt: Fremdscham.


    „Der Jonas-Komplex“ erzählt vom Suchen, und das von drei Ebenen aus. Zum gegenwärtigen Ich-Erzähler gesellt sich ein dreizehnjähriger, hochbegabter Junge, der in den frühen Achtzigern in der Steiermark bei einer Pflegemutter lebt und abseits von Missbrauch und Vernachlässigung seinen Weg zu finden hofft, und in diesem Kind sind viele glavinicsche Eigenschaften angelegt. Die dritte Person ist jener reiche, klarsichtige, fast schon pathologisch coole Jonas aus „Das größere Wunder“, der die Everest-Besteigung hinter sich hat und sich von seinem Assistenz-Anwalts-Butler-Berater-Besterfreund-Mix Tanaka unaufhörlich in unbekannte Gefahren schicken lässt, um seine Grenzen auszuforschen. Marie, die ewige Liebe, drängt ihn allerdings dazu, zu zweit zum Südpol zu gehen, über zweieinhalb Breitengrade hinweg, ohne weitere Begleitung.


    Alle drei, die mehr oder weniger Varianten des einen sind, echte oder teils erdachte oder projizierte, werden getrieben, wollen zu sich selbst, ohne genau zu wissen, wer das wo und wann sein wird. Dieser Prozess ist mit unglaublicher Präzision und schonungslos wiedergegeben; Glavinic fährt in diesem Buch wirklich alles auf und macht vor nichts Halt. Und deshalb entwickelt sich dieser Ziegel auch zur literarischen Hochgeschwindigkeitstrasse, auf der man, Glavinic folgend, atemlos dahinrast, und während die Seiten vorbeifliegen, wird die Sorge um die Figuren immer größer. Das aber in faszinierender Weise, die nichts mit Gafferei etwa bei schweren Unfällen gemein hat.


    Ein Wahnsinnsbuch, komplett irre, beeindruckend und vom ersten bis zum letzten Satz schlicht großartig geschrieben. Möglicherweise Glavinic‘ bester Roman, aber das spielt keine Rolle. Es ist auf jeden Fall sein bislang letzter „richtiger“, und deshalb ist am Ende auch genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Damned.

    ASIN/ISBN: 3596034590

  • Ich schubse ja alle Rezensionen sozusagen reflexartig hoch zum großen A, obwohl ich dort längst keine Bücher mehr kaufe. Auf die Glavinic-Rezension habe ich soeben diese eigenwillige Mail erhalten:

    glavinicrezi.png

  • Da hat die KI wohl zugeschlagen.

    Quatsch. Alle beim A eingereichten Rezensionen werden einzeln handgelesen. 8)

  • Ich habe nur das letzte Wort "Damned" gegen "Verdammt" ausgetauscht, dann wurde die Besprechung vom Filteralgorithmus (der vermutlich keine KI ist) akzeptiert.


    https://www.amazon.de/gp/custo…?ref=pf_ov_at_pdctrvw_srp

  • Ich habe nur das letzte Wort "Damned" gegen "Verdammt" ausgetauscht, dann wurde die Besprechung vom Filteralgorithmus (der vermutlich keine KI ist) akzeptiert.


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    Wahrscheinlich ist tatsächlich keine KI verantwortlich, vielleicht aber doch.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann