Chad Harbach: Die Kunst des Feldspiels

  • The Greater American Novel


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    Im Jahr 1973 legte der große, großartige Romancier Philip Roth seinen Roman „The Great American Novel“ vor, es war schon sein neuntes Buch, und mehr als zwei Dutzend weiterer folgten noch, bis sich Roth im Jahr 2012 vom Schreiben zurückzog. Im Jahr 2018 ist er gestorben, und er hat nie den Nobelpreis für Literatur bekommen, den ihm so viele gewünscht haben (meistens Leute, die nicht verstanden haben, wofür man ihn eigentlich erhält). Das Etikett von der „großen amerikanischen Erzählung“, zumeist einer Familiensaga, die mit der amerikanischen Geschichte, vor allem aber der amerikanischen Lebensweise und Weltsicht stark verwoben ist, während zugleich typische, besondere (nord-)amerikansche Erzählelemente verbaut werden, wird seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten von Autoren und -innen angestrebt, und obwohl Roth zweifelsohne zu denen gehörte, denen die Umsetzung auch mehrfach gelungen ist (mit „Amerikanisches Idyll“, „Der menschliche Makel“ und einigen anderen), war dieser Titel seinerzeit vor allem ironisch gewählt. Roth thematisiert in seiner satirischen, wortgewaltigen, fantasiereichen Erzählung um die erfundene „Patriot League“ die Frage, ob es die GAN schon gab und wer sie geschrieben haben könnte, aber im Kern geht es um Baseball, weil man nämlich keine GAN schreiben kann, in der es nicht um Baseball geht. Im Prolog wird sogar die Behauptung aufgestellt, dass es in „Huckleberry Finn“, „Schall und Wahn“ und eigentlich sogar in „Moby Dick“ eigentlich um Baseball gegangen ist. Denn Baseball ist die große, die umfassende Metapher auf die U.S. of A. Wer eine GAN, eine Great American Novel schreiben will, kommt an Baseball nicht vorbei. Baseball, das ist Amerika, und Amerika, das ist Baseball. Jedenfalls, wenn man mit „Amerika“ die U.S. of A. meint, was ja viele tun, vor allem Amerikaner. Also jene Nordamerikaner, die auf dem Staatsgebiet der U.S. of A. leben.


    Chad Harbach hat für seinen bislang einzigen Roman „Die Kunst des Feldspiels“ angeblich mehr als zehn Jahre gebraucht. Er hat in Harvard studiert und gibt seit Jahren die Literaturzeitschrift „n+1“ heraus, und „Die Kunst des Feldspiels“ war in Amerika (s.o.) ein großer Erfolg. Bei der Schlagzahl des Autors wäre demnächst eine weitere GAN zu erwarten, denn der Roman ist hierzulande im Jahr 2013 erschienen. Ich hatte ihn bislang nicht bemerkt und bin zufällig aufmerksam geworden, und dafür bin ich dankbar. Obwohl es um Baseball geht, eine Sportart, die mich noch weniger interessiert als Sport ohnehin schon. Obwohl es um Colleges geht, diese eigenartigen Mikrokosmen, die die intellektuelle, künstlerische und wissenschaftliche Energieversorgung der U.S. of A. darstellen.


    Henry Skrimshander ist eigentlich zu klein und zu schmal, um ein guter Baseballspieler zu sein, aber er hat eine Gabe, ein Talent – er ist ein exzellenter Shortstopper. Das sind die Leute, die links in der Mitte im ungefähr dreieckigen Baseballfeld stehen und laut Statistik die meisten Bälle abbekommen. Sie besetzen die wichtigste Defensivposition, und es geht bei ihnen darum, kurze Bälle – insbesondere Aufsetzer – sicher zu fangen und möglichst schnell und präzise eigenen Spielern zuzuwerfen. Genau das kann Henry mehr als gut, weshalb er vom Kapitän der Harpooners, der Mannschaft des Westish Colleges in Wisconsin, in dessen Mannschaft und an dessen College geholt wird, wo Henry mit Hilfe dieses Mannes – er heißt Mike Schwartz – in wenigen Monaten zum Star heranreift. Mehr als das: Henry wird durch das Training und seine hohe Konzentrationsfähigkeit so gut, dass er zu Beginn der Haupthandlung des Romans kurz davon steht, den legendären Rekord von fünfzig fehlerfreien Spielen einzustellen. Diesen Rekord hält ein Mann namens Aparicio, von dem auch Henry Skrimshanders Bibel stammt, das Baseball-Buch „Die Kunst des Feldspiels“, das Henry auswendig kennt.


    Aber das Personal, auf das wir als Leser am Westish College treffen, besteht nicht nur aus Leuten, die mit Baseball zu tun haben. Da ist Guert Affenlight, der College-Präsident, dem zugleich die Bekanntheit des Colleges zu verdanken ist, denn Affenlight hat vor Jahren einen Text von Melville ausgegraben, der eine Verbindung zur Gegend herstellt, weshalb die Harpooners auch Harpooners heißen und eine Melville-Statue auf dem Gelände steht. Affenlight beginnt eine zarte, unerwartet tiefe und natürlich klandestine Beziehung zu Owen Dunne, dem fragilen, intellektuellen Mitbewohner von Henry Skrimshander. Affenlights Tochter Pella kehrt zur gleichen Zeit ans College zurück, auf der Flucht vor ihrem Mann, der sie als eine Art Schmuckstück oder Kunstgegenstand betrachtet und aktiv an der Entfaltung hindert. Und, und, und. Das Personal in „Die Kunst des Feldspiels“ ist umfangreich, aber nie unübersichtlich, und Harbach baut durch die personale Erzählweise, die zwischen den Figuren hin- und herspringt, eine große emotionale Nähe auf. Allen Figuren ist gemein, dass sie mit den Zielen in ihrem Leben hadern, dass sie entweder orientierungslos sind oder so fixiert, dass es sich zur fixen Idee entwickelt hat.


    Und dann kommt es bei einem Baseballspiel zu einem tragischen, folgenreichen Unfall.


    Die Geschichte zieht einen wirklich schnell rein und entwickelt sich zu jener Art von Pageturner, dessen Ende man lieber immer weiter hinauszögern möchte. Die Figuren sind lebendig, die Dialoge sind sensationell, der Aufbau ist klug, stimmig und auf ausgewogene Art detailreich. Chad Harbach kann einfach großartig erzählen, ohne je lapidar zu werden, ganz im Gegenteil, denn die Konflikte, um die es in diesem Buch geht, sind groß, wirkmächtig, essentiell. Aber auch die Metaebene spielt eine nicht eben kleine Rolle, und die Themen, die der Autor bedient, sind vielschichtig – die Palette reicht vom Feminismus über allgemeine Sozialkritik bis zu einem differenzierten Diskurs über das amerikanische Bildungssystem, aber im Kern spielen persönliche Schicksale, Lebens- und Liebesgeschichten die Hauptrollen. „Die Kunst des Feldspiels“ ist kein Collegeroman und kein Baseballroman, sondern eine wahrhaft große, clever aufgebaute Erzählung, eine Very Great American Novel. Und interessanterweise ist es ein Aspekt, der eigentlich als Kritikpunkt genannt werden müsste, der dieses Gefühl ausmacht, denn es ist nicht immer zu hundert Prozent schlüssig und nachvollziehbar, warum die Figuren so agieren, wie sie das eben tun. Genau das macht diesen mächtigen, prächtigen Roman aus: Dass sein Personal einfach macht, was es will, ohne dramaturgische Rechenschaft ablegen zu müssen.


    Allein aufgrund seines deutlich geringeren Ausstoßes wird es Chad Harbach vermutlich nicht gelingen, je mit Philip Roth gleichzuziehen, weder mengenmäßig, noch, was die internationale Reputation anbetrifft, und mit ziemlicher Sicherheit wird man ihn nie für den Literatur-Nobelpreis handeln, selbst wenn man weiß, wofür der eigentlich vergeben wird. Aber ich bin sicher, dass Philip Roth dieser Roman auch sehr, sehr gut gefallen hätte.

    ASIN/ISBN: 3832162526