Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache

  • Gleich vorweg: Unsere Sprache steht in Saft und Kraft, ihr geht es so gut wie nie zuvor. Dies zeigt sich schon an einer Zahl: In den letzten hundert Jahren ist unser Wortschatz um 30 Prozent angewachsen. Wir sind heutzutage (objektiv) in der Lage, uns genauer und eleganter auszudrücken als Goethe oder Thomas Mann. Damit bestätigt sich das, was Jacob Grimm 1848 schreibt: In allen Sprachen „findet absteigen von leiblicher Vollkommenheit statt, aufsteigen zu geistiger ausbildung“. Das heißt, dass auf der einen Seite der „leibliche“ Formen(=Flexions)reichtum schwindet (aus „du liefst“ wird mehr und mehr „du bist gelaufen“, aus „ich flöge“ wird „ich würde fliegen“), auf der anderen Seite generiert die Sprache immer mehr neue Worte (vor allem auf dem Weg der Komposition mit einer Entlehnung aus dem Englischen: Babynahrung, Babydecke, Babyausstattung, Elefantenbaby etc.); der Wortschatz (nicht die Grammatik) ist die entscheidende Grundlage unserer Ausdrucksfähigkeit.
    Gemäß dem Titel geht es im zweiten Bericht zur Lage der deutschen Sprache um „Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache“. Einerseits werden verschiedene Sprachformen, das heißt: Varietäten untersucht (Dialekt und Regiolekt, Jugendsprache, Migrantendeutsch, Internetdeutsch, gesprochene Alltagssprache). Im Grunde gibt es unendlich viele Varietäten des Deutschen, und wir alle beherrschen (aktiv und passiv) auch eine Menge davon (z.B. in der Kommunikation innerhalb der Familie, mit Freunden, mit Fremden auf der Straße, mit dem Arzt, mit Kindern, im 42er Forum, sowohl in schriftlicher wie in mündlicher Form etc. etc.). Zum anderen wird im Buch die Standardsprache thematisiert, die natürlich auch eine Varietät wie die anderen ist, die allerdings als Sprachnorm gesetzt wurde und so eine „Leitvarietät“ darstellt.
    Es ist durchaus sinnvoll, dass es Normen im Standarddeutschen gibt, denn es ist ja gerade die Aufgabe der Leitvarietät, dass sie einheitlich ist und von allen Sprechern und Schreibern verstanden und beherrscht wird. Jedoch lassen die Autoren keinen Zweifel daran, dass diese Normen nicht mit einer Wertung verbunden werden sollten. Ein wissenschaftlicher Umgang mit Sprache stellt Normabweichungen zunächst nur fest und versucht dann ihren Sinn, ihre Systematik und ihren Platz im System der Sprache zu erforschen. „Sprachkritische“ Stimmen, die in Normabweichungen nur einen allgemeinen Sprachverfall bestätigt sehen, urteilen häufig aus einer Position des Narzissmus (weil sie ihre eigene Sprachform zur Norm erhöht wissen wollen) und der gröbsten Unkenntnis.
    Die Frage lautet: Wer setzt überhaupt die Standardsprachnorm? Die Antwort ist ganz einfach: Wir Sprecher und Schreiber, die Sprachgemeinschaft. „Das Normale ergibt sich aus dem normalen Sprachgebrauch.“ Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, den mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch in Wissenschaft, Kultur, Politik, Öffentlichkeit etc. zu untersuchen und herauszufinden, welche Normen gerade gelten. Bislang ist es noch gar nicht gelungen, die Normen in Gänze systematisch zu erfassen und in wissenschaftlicher Form darzustellen; von daher allein schon verbietet sich jede schnellschüssige Diagnose zum vermeintlichen Untergang der deutschen Standardsprache.
    Zwei berühmt-berüchtigte Normveränderungen sollen jetzt kurz thematisiert werden.
    1. Genitiv. Allen Unkenrufen zum Trotz, vom Tod des Genitivs kann keine Rede sein. In der Tat ist er in der Form des Genitivobjekts („des Mordes anklagen“) etwas außer Mode geraten, aber in anderen Konstruktionen erfreut er sich weiterhin ungebrochener Beliebtheit. So konnte aus einer empirischen Untersuchung der Schluss gezogen werden, dass „im geschriebenen Standarddeutschen noch immer das postnominale Genitivattribut („die Meinung vieler Bürger“) der von-Phrase („die Meinung von vielen Bürgern“) vorgezogen wird“. Der Buchtitel „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ ist genauso reißerisch wie falsch.
    2. Würde-Konjunktiv. Das (Ver-)Schwinden der synthetischen Konjunktivformen („er gehe“, „er ginge“) scheint Ausdruck einer tiefliegenden Tendenz der Vereinfachung und Vereinheitlichung der Standardsprache hin zu analytischen Formen zu sein. Im mündlichen Sprachgebrauch ist das synthetische Präteritum („ich ging“) auch schon fast vom analytischen Perfekt („ich bin gegangen“) verdrängt worden. (Überhaupt existiert das Präteritum vor allem nur noch als literarische Erzählzeit, wobei es keine Tempusbedeutung mehr hat, sondern für die Trennung der erzählten Welt von der behandelten wirklichen Welt zuständig ist und somit erst den fiktiven Raum des Erzählens eröffnet.) Daneben stehen andere analytische Tempusformen (Futur 1: „ich werde gehen“), aber auch das Passiv, das gar nicht anders als analytisch gebildet werden kann („ich werde geschlagen“). In diesem Zusammenhang würde die Durchsetzung des analytischen Würde-Konjunktivs der Logik des Systems folgen, anders ausgedrückt: Die Standardsprache hätte dann einen höheren Stand „geistiger ausbildung“ (Jacob Grimm).


    Zum Schluss die Frage: Lohnt sich der Kauf des Buches? Ja ja ja. Wer sich über den aktuellen Stand sprachwissenschaftlicher Forschung informieren will, ist mit diesem Buch sehr gut bedient. Hier melden sich führende Linguisten zu Wort und bieten eine allgemeinverständliche Hinführung zu den Problemen der Vielfalt und Einheit unserer Sprache.

    ASIN/ISBN: 3958090044

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

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