Klagenfurt calling

  • Ich freue mich riesig mit Dir, dass Du so viel Spaß hast in Klagenfurt - und danke für Deine Zusammenfassungen und Deine Einschätzung der Über- und Unterschätzungen ;) Die ist natürlich viel besser als meine, die eher als eine Zusammenfassung in "Herzblatt"-Manier verstanden werden sollte.


    "Campusprosa" ist übrigens kein Begriff, den ich mir ausgedacht habe, es stammt aus der Jury, von wem, weiß ich nicht mehr.

  • Nun noch ein paar detailliertere Eindrücke meinerseits:


    Sargnagel

    Es geht u.a. um ein Aufbegehren gegen diese moderne, konsumative Haltung, dass alles Sensation sein muss.


    Stefanie Sargnagels Text fand ich auch gelungen. Neben der Eventkritik betreibt sie darin auch Kritik am "normalen Leben": einen Job haben, Geld verdienen, etwas tun, was andere auch tun (Schlittschuhlaufen), sich einfügen - und dann das Unbehagen, für einen Magazinartikel bezahlt zu werden (sich das spitze A ins Auge rammen ...). Dass ich den Vortrag anfangs müde fand, lag möglicherweise daran, dass die Autorin tatsächlich müde war (Seitenhiebe auf die frühe Stunde gab es zur Genüge und ihr "Oh nein", als sie ihren Lesungstermin erfuhr, sind mir noch im Ohr) - oder an ihrem Schlafzimmerblick. "Publikumspreis" hörte ich im Zusammenhang mit ihrem Text mehrfach, was ich ebenfalls für denkbar halte.

    ein Absturz im Beisl


    Was bedeutet das? Das habe ich nicht verstanden.


    Macht

    wahrscheinlich wurde er Opfer der Diktatur, die da beschrieben wird


    Bestimmt, da klang einiges in der Richtung durch. Ich habe eine ganze Zeit lang südamerikanische Literatur gelesen, viel magischen Realismus, daran fühlte ich mich erinnert. Der Vortrag war zum Gähnen, aber ich könnte mir tatsächlich vorstellen, den Roman zu lesen.

    die Erzählweise sehr traditionell


    Trifft das nicht - mehr oder weniger - auf alle Texte zu? Das war jedenfalls mein Eindruck. Bei Sargnagel hörte ich überraschende Assoziationen und Vergleiche heraus, Özdogans Text machte der Hase besonders (und ich habe dabei keine Minute an Harvey gedacht, sondern nur: rosa ;) )


    Dinic

    Die Sprache war einfach schwach. Sehr schwach.


    Das fand ich auch. Und das gilt übrigens auch in Teilen für die anderen Texte. "Dann fuhren wir in den Wald." Dann, Plötzlich, solche Wendungen auf Schulaufsatzniveau gab es (fast) durchgehend.


    Schneider

    ich war hellwach und bin mitgegangen


    Das ging mir auch so, was aber eher dem Warten auf das "Was kommt als nächstes" geschuldet war.
    Was Schneider mit seinen "Stücken" fabriziert hat, erinnert mich an das, was bei meinen eigenen Notierstreifzügen herauskommt - obwohl mir noch kein Rosenverkäufer begegnet ist, wohl aber unschuldige Kondensstreifen ;) (Sorry, ich gleite schon wieder ins Lächerlichmachen ab.)
    Für ihn gilt aber dasselbe wie für alle anderen Bachmannautoren: Ich erwarte einfach mehr. Mehr Sprachgewalt (die hatte Sargnagel wenigstens), mehr Wagnis, mehr Experiment.


    Özdogan

    Mir war es zu banal, zu platt


    Das fand ich gar nicht. Den Konflikt des Protagonisten mit dem Übervater fand ich gut herausgearbeitet, der Hase im Kopf ist derjenige, der anfeuert, wenn der Prota etwas tut, was dem Vater nicht gefallen hätte, dazu die depressive Witwe mit ihren Klinikaufenthalten, die offenbar nicht die Mutter ist, der Sohn ist also allein mit der Aufgabe, seinen Platz in der Welt zu finden. Mich hat das angesprochen. Ich habe ihm den Hasen von Anfang bis zum Ende geglaubt. Zugegeben, die zeitliche Verortung des Textes ist es würdig, überdacht zu werden.


    Zur Jury will ich nix sagen, da hat ja auch jeder seinen eigenen Geschmack ;)


    Ich bin so gespannt auf die nächsten Texte!

  • am 6. Juli ist im Klagenfurter Dom Barbara Dennerlein zu hören. Die Jazzmusikerin, deren bevorzugtes Instrument die (fast schon ausgestorbene) Hammondorgel ist, spielt immer wieder auf Pfeifenorgeln.


    Die Konzertankündigung in ihrem Newsletter lautet folgendermaßen:


    Zitat


    Am 6. Juli gibt die Organistin ein Solo-Konzert an der Domorgel des Klagenfurter Doms. Die Mathis-Orgel zählt mit ihren 45 Registern zu einem der Meisterwerke der Firma Mathis/Näfels CH. In zahlreichen Konzerten stellt sie immer wieder ihre enorme Klangfülle und die Vielfalt an klanglichen Schattierungen unter Beweis. Ein vor allem von Internationalen Starorganisten sehr geschätztes Instrument.


    Ich meine, das wäre doch ein angemessener Abschluss (oder Nachklang) des Bachmannwettbewerbs.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • enorme Klangfülle und die Vielfalt an klanglichen Schattierungen


    Ja, das passt zum Wettbewerb. Gerade eine Vielfalt der klanglichen Sschattierungen war heute bei den Lesungen zu bestaunen.

  • Zitat von »Heike D.«
    ein Absturz im Beisl


    Was bedeutet das? Das habe ich nicht verstanden.


    Ein Beisl ist in Österreich eine Gaststube, ein Wirtshaus, eine Weinstube oder einfach eine Kneipe. Nach systematischer Hermeneutik und kontextualer Exegese würde ich sagen: Heike hat sich gestern Abend abgeschossen. :suff :rtw

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Lieber Alexander,
    deine Vermutung war absolut naheliegend, wenn man mich kennt. Aber es war die Protagonistin der Sargnagel, die im Beisl abgestürzt ist![size=10]

  • Warum schreiben eigentlich alle über alte Männer und alte Frauen und keiner über Sex und keiner über Gewalt? Ist das die Rache der Jungen, die von der Mehrheit der Alten zunehmend dominiert werden? Oder ihre Angst?
    Das wird wohl eines der Rätsel der 40. TDDL bleiben...


    Gestern war gar nicht so viel zu erzählen, außer dass Julia Wolf einen wunderbaren Text gelesen hat über einen alten (!) Mann, der im Schwimmbad einen Unfall erleidet und irgendwie neben der Spur ist, eventuell im Sterben liegt, und alles nur wegen dieser Frau. Schöne Formulierung: "Die rosa Blondine. Der blonde Hai." Hoffentlich gewinnt die Autorin einen Preis, ihre Sprache war beeindruckend, und gut gelesen hat sie auch.
    Nun ja, und dann kamen viele Texte, die eigentlich gut waren, aber auch ein wenig fad ehrlich gesagt. Irgendwie beeindruckend war Sylvie Schenk mit ihren autobiografischen Berichten, ein ruhiger, sanfter Blick zurück, ein Du ansprechend, das Kind, das die Autorin einst war. Die Frau hat auf jeden Fall etwas zu erzählen, auch wenn die Erzählweise ungewöhnlich ist, vielleicht sogar betulich.
    Und der Hammer: Tomer Gardi Ein Israeli legt einen Text in gebrochenem Deutsch vor. Ja, und es geht u.a. um Sprachlosigkeit, um Schweigen, um das, was der Sohn von der Mutter wissen will mit seinem Aufnahmegerät, von dem sie sagt, dass es ihr Tod sei. Hat mir gefallen! Aber ob er eine Chance hat?


    Heute gab es dann wieder gute Texte, die ein wenig fad waren.
    Ausnahme: Sharon Dodua Otoo. Die kam mit einer Lebendigkeit daher und brachte uns zum Schmunzeln, indem ihr textuelles Ich ein Ei war, das nicht weich werden mochte, dann ein Lippenstift, aber auch ein roter Teppich, der Leute stolpern lassen kann. Sehr erfrischend, wenn auch vielleicht nicht der ganz große literarische Text.
    Zweite Ausnahme und der Knaller: Dieter Zwicky. Ich habe tatsächlich Tränen gelacht (kann man vielleicht bei der Aufzeichnung sehen, weil ich gleich vorne saß). So ein Sprachwitz, so ein Einfallsreichtum, so eine groteske Welt: Los Alamos. Und ein Protagonist, der die Heilung seiner Krebserkrankung verheimlicht, diesem Erzähler darf man jedoch keinesfalls trauen, alles könnte auch ganz anders sein.
    Ich habe heute auch einmal einen schrecklichen Verriss erlebt. Das war nicht schön. Aber leider an der Stelle richtig und ehrlich gesagt auch von den Verreißenden ganz gut begründet. Selber angucken!


    Ansonsten Baden im See, herrliches Essen und Fußball auf Leinwand in einem wunderschönen Innenhof, indem dann alle wieder vereint waren, Autoren, Jury und Bachmannpreis-Zuhörer sowie Kärntner Jungs und Italiener in ordentlicher Anzahl. Leider hat Deutschland gewonnen.


    Morgen gibt es die Preise. Und ich werde beglückt nach Hause fahren mit einer Träne im Knopfloch (frei nach Helge Schneider), weil sich dieser seltsame literarische Kosmos mir nichts dir nichts wieder auflöst. Aber der Bachmannpreis 2017 ist schon gesichert, die Finanzierung steht.

  • :down


    :down



    :bye



    Bye bye Klagenfurt, bye bye ihr mutigen Autoren, ihr intellektuellen Diskussionen, bye bye Sonne, See und schöne, junge, kluge Menschen (ja, die gab es tatsächlich zahlreich...).


    Und? Lag ich etwa sehr falsch mit meinen Einschätzungen?  


    Sharon Dodua Otoo hat den Bachmannpreis gewonnen, erstens ein guter Text (ich hätte ihn gerne beim dritten Preis gesehen), zweitens auch ein Statement für die Chancen einer sich verändernden Welt voller unvermeidlicher Veränderung und Einwanderung, auch in unsere Sprache. Ich habe mich sehr mit der Autorin gefreut, weil sie noch nicht ihren neuen Roman promotet, sondern tatsächlich eine Entdeckung ist. Sie wird einen Verlag finden, der sie unter seine Fittiche nimmt, und die deutschsprachige Literatur bereichern.
    Der KELAG-Preis ging an Dieter Zwicky (ihn hätte ich ganz vorne gesetzt). Ein Hoch auf den Wahnsinn und das Ausreizen des Grotesken und auf Los Alamos! Herrlich Jury Steiners kleine Rede, er hatte den Schweizer eingeladen. Diese Rede anzuschauen, lohnt sich unbedingt, und wer sich für den Text interessiert: Unbedingt hören anstatt nur zu lesen!
    Ja, und dann würdigte die Jury noch die literarische Qualität eines leiseren, nicht weniger wuchtigen Textes von Julia Wolf. Das ist kein Feuerwerk, das brennt lange weiter und kann ruhig mehrmals gelesen werden, das würde auch einen Roman tragen, denke ich. Eine sympathische Autorin, unaufgeregt und selbstbewusst.


    Nachtrag: Publikumspreis an die Sargnagel. Natürlich konnte sie ihr Social-Media-Netzwerk aktivieren, und sie hat diese Anerkennung mehr als verdient. Musste sie doch für ihre Lesung als erste am Donnerstag Morgen einmal wirklich früh aufstehen! Das bemerkte auch Klaus Kastberger mit offener Schadenfreude. Zu ihrem Text habe ich mich schon begeistert geäußert. Unschlagbar und für mich ein Highlight des Bachmann-Preises: Die Honoratiorin der BSK-Bank überreicht den Preis der Sargnagel, die mit Sonnenbrille, roter Mütze und einer Jacke mit der Aufschrift "Burschenschaft Hysteria" aufwartet und das goldene Matriarchat verkündet. Größer hätte kein Kontrast im Wettbewerb sein können. Sehr cool dann auch die Wiener Entourage der Sargnagel anschließend auf der Treppe, gleiche Aufmachung, Fahnen und Liedchen über Matriarchat und Hysterie. Einfach wunderbar, diese Frauenzimmer, wäre ich lesbisch, ich wäre ihnen jetzt total verfallen.


    Fazit: Viele Texte über das Fremde, um uns , in uns und irgendwo, vor allem auch im Altwerden und im Tod. Viele gute Texte, von denen besonders gute gewonnen haben. Eine Jury, deren Engagement für Literatur authentisch und für mich fast rührend war. Die Menschheit kann nicht zugrunde gehen, solange Menschen sich mit Worten einfach nur über Worte streiten, oder? Sagt einfach ja. Ich komme schon wieder zurück auf den Boden der Tatsachen, keine Angst.
    Bye bye Mikrokosmos.
    Jetzt schaue ich Nachrichten.

  • Von der Jury gnadenlos abgewertet, um nicht zu sagen verrissen, und auch hier leider keines Wortes fuer wuerdig empfunden: Astrid Sozios "Das verlassenste Land". Selten einen derartig unqualifizierten Kritikerquatsch gehoert, wie zu diesem mAn hervorragenden Beitrag. Offenbar findet kein Text mehr Anklang, in dem Boeswoerter wie Neger oder Zigeuner vorkommen und sei er noch so grandios. Da sei political correctness vor!

  • Manuela, der Text war leider schlecht. Den Verriss dazu habe ich weiter oben erwähnt. Es kam dreizehnmal das Wort Negerin vor und ein paarmal Zigeuner. Das kann ja sein. Man kann sich auch einen Text vorstellen, in dem in 25 Minuten dreizehnmal das Wort Fotze vorkommt. Aber dann muss der Text das tragen, die Figur muss das begründen, es könnte Verstörung und Erschütterung auslösen beim Lesenden (Hörenden). Der Text von Astrid Sozio war langweilig, die Annäherung der alten Dame und der Flüchtlingsfrau am Ende künstlich, der Text hat genervt anstatt zu erschüttern. Die Autorin kann schreiben, das habe ich mir auch gedacht, die Szenerie in dem alten Hotel war gut ausgearbeitet, aber die Beschäftigung mit der /dem Fremden ist misslungen, die Gedanken der alten Frau bleiben unglaubwürdig, die Begegnung zweier Außenseiter blutleer.
    Deine Ansichten trüben langsam auch deinen Blick auf Literatur.

  • Der Text ist aus der Sicht einer unzuverlässigen Ich-Erzählerin verfasst, die alt, frustiert und einsam ihre Tage fristet, ihren Erinnerungen nachhängt und Angst vor Fremden und Veränderung hat. Sie spricht wie sie denkt, gerade das macht sie mAn so authentisch.
    Ich fand den Text keineswegs langweilig, ganz im Gegenteil, habe ihn mir mittlerweile drei Mal angehört. Ich wäre sehr froh, könnte ich so ausdruckstark schreiben, wie Astrid Sozio.


    Wer den Text nicht kennt, aber kennenlernen möchte, bitte HIER entlang.


    Zitat

    Deine Ansichten trüben langsam auch deinen Blick auf Literatur

    Auch? Was trüben sie denn noch? Mag sein, dass du das so empfindest, manche sehen das anders. Derzeit liegen zwei Romanmanuskripte auf meinem Schreibtisch, sowie drei Kurzgeschichten. Durchaus von veröffentlichten Autoren, die mich um Korrekturlesung und Stellungnahme ersuchen.


    Aber vielleicht verstehen ja weder diese Autoren noch ich etwas vom Schreiben. Ich habe jedenfalls trotz trüben Blickes die Größe, Größeres neidlos anzuerkennen.