... und das meint die Wirtschaft zum Unwort des Jahres.

  • Zumindest das Handelsblatt meint es zu "Gutmensch ". In geradezu tucholskyscher Manier zeigt der Kommentar, welch grässliches Wort entsteht, wenn man das Adjektiv aus "guter Mensch" substantiviert und mit dem Menschen zu einem Kompositum verschweißt.


    Zitat

    Sie (die Unwort-Wahl) passt zum Umgang der Großen Koalition mit den Spinnern vom rechten Rand: Man beklagt eine Verrohung von Sprache und Sitten, insbesondere im Netz – jedoch nicht ohne im nächsten Halbsatz hinterherzuschieben, man habe durchaus Verständnis für die Sorgen derjenigen, die Wörter wie „Lügenpresse“ und „Gutmensch“ verwenden. (...) Vielmehr ist die Politik gefordert, sich noch deutlicher von denjenigen zu distanzieren, die gegen Flüchtlinge und ehrenamtlich Helfer hetzen. Sie muss klar machen: Wer „Lügenpresse“ oder „Gutmensch“ verwendet, offenbart seine Nähe zu völkischem Gedankengut. Im demokratischen Diskurs hat er sich damit disqualifiziert.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Dieses Beispiel zeigt, wie sinnvoll Adjektive sein können. Tucholsky zitiert in "Neudeutsch " Gustav Wustmann (Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Hässlichen): "... die schönen neumodischen Zusammensetzungen, mit denen man sich jetzt spreizt, wie: Fremdsprache, Neuerkrankung, Erstdruck, Höchststundenzahl! Hier leimt man also einen Adjektivstamm vor das Hauptwort, statt einfach zu sagen: höchste Stundenzahl undsoweiter."

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Dieses Beispiel zeigt, wie sinnvoll Adjektive sein können. Tucholsky zitiert in "Neudeutsch " Gustav Wustmann (Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Hässlichen): "... die schönen neumodischen Zusammensetzungen, mit denen man sich jetzt spreizt, wie: Fremdsprache, Neuerkrankung, Erstdruck, Höchststundenzahl! Hier leimt man also einen Adjektivstamm vor das Hauptwort, statt einfach zu sagen: höchste Stundenzahl undsoweiter."


    Tucholsky ist in seiner Sprachpraxis ebenso fortschrittlich und modern (zum Beispiel in seiner Lyrik, in der er Alltagssprache und Slang verwendet), wie er in seiner Sprachkritik konservativ und etwas neben der Spur ist. So eine "grässliche" Komposition wie "Fremdsprache" hat natürlich eine andere Bedeutung als "fremde Sprache" und macht daher auch Sinn.

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Mal ganz abgesehen davon, ob das Verschmelzen oder Anhängen von Adjektiven und Nomen nun "grässlich" oder sonst etwas ist: Bei der Wahl des Unwortes ging es ganz sicher um Konnotationen und weniger um Wortgestaltung


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    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

  • Mal ganz abgesehen davon, ob das Verschmelzen oder Anhängen von Adjektiven und Nomen nun "grässlich" oder sonst etwas ist: Bei der Wahl des Unwortes ging es ganz sicher um Konnotationen und weniger um Wortgestaltung


    Ja.
    Und darum ging es im Kommentar des Handelsblatt.
    Weil wir aber ein Autorenforum sind, so wollen wir uns mit der Tagespresse nicht zufriedengeben, sondern ein wenig tiefer schürfen. Tucholsky geht tiefer. Obwohl es das Wort "Gutmensch" zu seiner Zeit noch nicht gab. Und wenn man seinen Artikel "Neudeutsch" liest, dann entdeckt dann, dass er oft mit der Wortbildung ein Konnotat verbunden sieht. Die Stellen in Anführungszeichen beziehen sich auf Wustmann:


    Zitat

    Und er fragt, worin denn das Abgeschmackte solcher Zusammensetzungen liege. Es gebe doch deren eine ganze Menge, wie Sauerkraut und Süßwasser, Hochverrat, Vollmacht und dergleichen mehr. Und er fährt zu rechten fort – hör zu, o Neuzeit!


    Ups. Das letzte Wort war konservative Neben-der-Spur-Ironie. Aber weiter:

    Zitat

    »Nun stecken dem Deutschen zwei Narrheiten tief im Blute: erstens, sich womöglich immer auf irgendein Fach hinauszuspielen, mit Fachausdrücken um sich zu werfen, jeden Quark anscheinend zum Fachausdruck zu stempeln; zweitens, sich immer den Anschein zu geben, als ob man die Fachausdrücke aller Fächer und folglich die Fächer auch selbst verstünde. Wenn es ein paar Buchhändlern beliebt, plötzlich von Neuauflagen zu reden, so denkt der junge Privatdozent: Aha! Neuauflage – schöner neuer Terminus des Buchhandels, will ich mir merken und bei der nächsten Gelegenheit anbringen. Der gewöhnliche Mensch sehnt sich nach frischer Luft. Wenn aber ein Techniker eine Ventilationsanlage macht, so beseitigt er die Abluft und sorgt für Frischluft. Im gewöhnlichen Leben spricht man von einem großen Feuer. Das kann aber die Feuerwehr doch nicht tun; so gut sie ihre Spritzen und ihre Helme hat, muß sie auch ihre Wörter haben. Der Branddirektor kennt also nur Großfeuer.«


    Das war jetzt also der zitierte Wustmann. Darum bedeutet "guter Mensch" etwas anderes als "Gutmensch". Und das ist der sprachsystematische Grund für das Konnotat.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Tucholsky ist in seiner Sprachpraxis ebenso fortschrittlich und modern (zum Beispiel in seiner Lyrik, in der er Alltagssprache und Slang verwendet), wie er in seiner Sprachkritik konservativ und etwas neben der Spur ist. So eine "grässliche" Komposition wie "Fremdsprache" hat natürlich eine andere Bedeutung als "fremde Sprache" und macht daher auch Sinn.


    "Gutmensch" hat ja auch eine andere Bedeutung als "guter Mensch" :evil