Ilja Trojanow, Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit

  • Wer nichts zu verbergen hat ist nicht mehr frei



    "Nine-eleven" hat die Welt verändert wie kaum ein anderes Ereignis der vergangenen zehn Jahre. In einer Zeit, die aus Sicht des einzelnen Bürgers, aber auch aus Sicht des Staates so sicher ist wie keine andere je war, haben sich Bestrebungen durchgesetzt, deren Ziel darin besteht, Überwachung und Kontrolle flächendeckend zu etablieren, Bürger- und Menschenrechte fallweise außer Kraft zu setzen und die freiheitlichen Komponenten des Rechtsstaates nach und nach zu demontieren. Wenn man so will, haben die Terroristen ihr Ziel erreicht, nämlich die (teilweise) Beseitigung der westlichen Demokratien bzw. ihrer Prinzipien. Diese Demokratien waren und sind selbst Beihelfer dieser Tat. So lautet, kurz zusammengefasst, die Botschaft des Buches.


    Vorratsdatenspeicherung, intensive Sicherheitskontrollen an Flughäfen, Videoüberwachung, Bundestrojaner, ePass, Fingerabdrucksspeicherung, zentralisierte Datenbanken, Lauschangriff, Mailfilter, verschärfte Waffengesetze, Internetzensur und vieles andere mehr - der Staat hat während der letzten neun Jahre ein ganzes Arsenal von Maßnahmen installiert, die mehr oder weniger mit dem "Kampf" oder "Krieg" gegen "den Terror" begründet werden, der allerdings Deutschland mitnichten erreicht hat. Ein einziger Terroranschlag war geplant, der übrigens auch nicht mit Hilfe dieser Maßnahmen vereitelt oder aufgeklärt worden ist; er scheiterte an der technischen Ausstattung der Terroristen. Die Täter sind schließlich mit Hilfe ganz "normaler" Untersuchungsmethoden festgesetzt worden.


    Sicherheit und Prävention sind die Schlagworte, die als Begründung für diverse Methoden immer wieder angeführt werden. Mithin sind sich selbst honorige Rechtswissenschaftler nicht zu schade, auch Folter als präventive Maßnahme zu favorisieren; sie argumentieren damit im Fahrwasser von Propagandaunterhaltung wie der Fernsehserie "24". Gefoltert wird längst, Menschen werden festgenommen, verschleppt und monatelang drangsaliert, auch Deutsche - es genügt, "Terrorverdächtiger" zu sein, eine sehr diffuse Kategorisierung, unter die viele fallen können; Begründungen sind zumeist nicht erforderlich. An Flughäfen werden Bürger mit "ausländischem" Aussehen oder orientalisch klingenden Namen intensiver durchsucht als andere Staatsbürger. Feindbilder sind entstanden, eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft hat sich etabliert: Der unbescholtene (unverdächtige) Bürger steht dem "Terrorverdächtigen" gegenüber. Letzterer genießt seine Rechte bestenfalls eingeschränkt; in vielen Fällen aber überhaupt nicht mehr. Der Schritt vom einen zum anderen aber wird immer kürzer.


    Gleichzeitig wird ein ganzes Volk unter Generalverdacht genommen. Die Unschuldsvermutung ist ausgehebelt, und während sich Gutmenschen die Verfahrensweise schönreden, indem sie den idiotischen Satz "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten" kolportieren, dringt der Staat mit Videokameras, Abhörmaßnahmen und Internetkontrolle in die Privatsphäre auch Unverdächtiger ein. Der nützliche Idiot liefert willfährig seine Fingerabdrücke ab, ohne einer Straftat verdächtig zu sein, lässt seine biometrischen Daten in Pässe einschweißen (obwohl es keinen einzigen Fall von Terroristen gab, die mit gefälschten Pässen unterwegs waren), nimmt die Speicherung seiner Kommunikationsdaten "auf Vorrat" hin und grinst unentwegt in omnipräsente Minikameras, die mit gewaltigen Datenbanken und hochintelligenter Software verknüpft sind. Okay, dieser nützliche Idiot breitet auch sein Privatleben flächig im Internet aus, präsentiert peinliche Fotos auf MySpace, veröffentlicht private Vorlieben auf Xing und liefert nicht nur demoskopische Daten über Facebook oder Payback-Karten.


    Während die vergleichsweise harmlose Volkszählung in den Achtzigern noch eine Protestwelle auslöste, scheint Angst als Verkaufsargument für haltlose Maßnahmen durchaus zu funktionieren. Obwohl sehr viel mehr Menschen durch Grippe, Verkehrsunfälle und am Rauchen sterben, nimmt der Bürger hin, dass seine Privatsphäre beschnitten wird, um einem Szenario zuvorzukommen, das es weder gab, noch außerhalb der Köpfe von Schäuble und Co. jemals geben wird. Die meisten Terroranschläge finden in jenen Staaten statt, die von den USA aufgrund unhaltbarer Annahmen angegriffen wurden - Massenvernichtungswaffen wurden jedenfalls nicht im Irak gefunden. Das totalitäre Saudi-Arabien erlebt exorbitant mehr Terror als Deutschland und alle anderen westeuropäischen Staaten zusammen - und zeigt damit eindrucksvoll, dass flächendeckende Überwachung keine Prävention gegen Taten sein kann, bei denen die Täter alles zu riskieren bereit sind.


    Die Entwicklung ist auch längst noch nicht beendet. Großbritannien demonstriert, was uns erwartet. Ganz nebenbei dient dort die flächendeckende Videoüberwachung auch noch dazu, "sozialschädliches" Verhalten zu ahnden. Der Verzicht auf Privatsphäre ist aber ein zu hoher Preis für die Aufklärung von Bagatelldelikten. Freiheit ist ein Wert, der nur im extremen Ausnahmefall zur Disposition stehen darf. Menschen dürften und sollen Geheimnisse haben, das ist ein Bestandteil des Menschseins. Der ver-öffentlichte und generalüberwachte Mensch aber ist nicht mehr frei.


    Die wütende, aber keineswegs überemotionale, recht kurze Streitschrift zeigt in elf Kapiteln und ausführlich dokumentierenden Anhängen, wo sich die westlichen Demokratien befinden und wohin sie sich bewegen. Einzig der Versuch, die Motivation der Staatstäter zu erläutern, fällt etwas schmal aus. Davon abgesehen liefern Zeh und Trojanow ein eindringliches, bewegendes und kluges Büchlein über den Ausnahmezustand, der seit fast neun Jahren herrscht und zur manifestierten Normalität zu werden droht - langfristig, denn der "Krieg gegen den Terror" wird, wie auch die Protagonisten gebetsmühlenartig wiederholen, niemals ein Ende haben. Ein Muss für jeden Bürger, der mehr Angst vor dem Verlust der eigenen Freiheit als vor diffusen Angriffsszenarien hat, die an den grünen Tischen der Schreibtischtäter erdacht werden.


    ASIN/ISBN: 3446234187

  • hallo tom,


    danke für die schöne buchvorstellung; aber ich weiß ja nicht, ob ich gerade von juli zeh darüber lesen will.


    das argument, dass die schlimmste auswirkung von 9/11 die völlig irrational große angst vor anschlägen (und deren politischer missbrauch) sei, hat die zeitschrift sceptical inquirer bereits 2002 sehr schön aufgebracht.


    mal sehen, ob schnarri schäuble in die speichen langen kann.
    michael

  • Mama, Hilfe, was ist auf der Welt nicht alles los? Warum habe ich mich in einer Generation, in der Terror, Mord und Totschlag zur Tagesordnung gehören, daran gewöhnt, zumindest vor dem Staat keine Privatsphäre zu haben (selbst den Freund muss man angeben, wenn man irgendein blödes Formular ausfüllt - eindeutig zu viel!)?
    Vor allem - was sollen die ganzen Diskussionen usw. bringen außer einer relativ großen Panikverbreitung in einer Gesellschaft, die weltweit sowieso auf Misstrauen und Angst basiert?
    Einzelne beschuldigen geht nicht, entweder alle oder gar keinen (und nein, auch der liebe Gott ist kein guter Schuldiger ...).


    Genießerin der Meinungsfreiheit,
    Sabrina Saskia

    "Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund." Jan Drees

  • Danke, Tom, für die ausführliche Besprechung. Ich habe beide Autoren vor einiger Zeit im Interwiev gesehen und gehört und schon da hatte ich mir das Buch vorgemerkt.
    Jetzt erst recht.



    Liebe Grüße
    Gerda

  • Jippieh, noch eine Frau! Langsam sind wir fast so viele wie Männer! Muss mich nur doppelt so groß machen, dann ist diese Diskussion fast ausgewogen.


    Hoffnungsvolle Grüße von
    Sabrina Saskia

    "Die Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund." Jan Drees