Warum schreibt ihr?

  • Zitat

    Original von Gerald D.
    Schlimm?


    Aber sowas von schlimm! Junge, Junge oder besser gesagt: Mann oh Mann! :D


    Ich habe weder einen inneren Drang noch möchte ich meine Mitmenschen mit Autobiographischem quälen/beglücken. Ich schreibe nur, weil's mir (meistens) Spass macht. Du siehst, Gerald, es geht noch schlimmer. 8-)

  • Hallo ihr LIeben,


    ne, ich glaube Maren meint "True Stories". Und ja, bei denen wird eindeutig auch auf Voyeurismus, aber ist das bei der Belletristik so anders? Sachbücher sind da anders. Sie bieten keinen Abstand über fiktionale Abfederung. Das wirkt allerdings genau deshalb viel tiefer und erreicht IMHO tatsächlich die Gefühlsebene, die auch im Umgang mit echten Lebewesen entsteht.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Zitat

    Original von Horst Dieter


    Das ist aber ganz schön hart, was du da sagst. Was meinst du jetzt mit "realen Geschichten"? Sicher nicht das, was unter dem Titel "Wahre Geschichten" verkauft wird.


    Nein, genau die ganz sicher nicht, sondern Bücher wie dieses:

    ASIN/ISBN: 3471350403

  • Ich glaube zwar zu wissen, welche Art Bücher zu meinst, Maren, aber deine Argumentation war sehr pauschal. Nicht alle "wahren" Geschichten sind so aufbereitet (obwohl ich das Buch über Natascha Kampusch nicht kenne und daher auch nicht wirklich beurteilen kann).
    Die Frage ist doch immer: Was will so ein Buch?
    Will es den Voyeur in uns befriedigen, der sich nach der Lektüre selbstgefällig zurücklehnen und denken kann: Gott sei Dank, mir geht's gut, ich bin normal?
    Oder möchte es allzu Menschliches mitteilen - eine alltägliche Situation aus einer anderen, vielleicht neuen Perspektive beleuchten? Gedanken teilen? Gar Gedankenanstöße geben? Das kann durchaus auch auf unterhaltsame Weise geschehen.
    Deine Pauschalverurteilung geht mir jedenfalls etwas zu weit.


    LG
    Petra

  • Ich persönlich lese Autobiografisches nicht, vor allem nicht, wenn es düstere Lebensabschnitte betrifft, weil ich mich dann gezwungen fühle, Mitleid zu empfinden, was sich aber nicht immer einstellt. Und dann fühle *ich* mich mies, weil ich ein unempathisches Arschloch bin.
    Ich kann wohl mitleiden - durchaus auch mit fiktiven Figuren - aber es passiert eben nicht immer, und ich bevorzuge das Mitleiden vor dem Mitleid. *Oft* liegt es am Können des Autors, manchmal ist es aber auch davon vollkommen unabhängig und die Figur erreicht mich nicht. Ist okay - im wahren Leben erreichen einen auch nicht alle Menschen gleichermaßen.


    Lese ich nun etwas Autobiografisches, habe ich ein Problem damit, die Hauptfigur *blöd* zu finden. Oder uninteressant, langweilig, flach, jammerig, whatever.
    Weil ich dann keine Figur bewerte, also das Werk eines Autoren, sondern den Autor selbst. Das ist mir unangenehm; ich mag den Autor lieber neutral sehen, statt zu tief in sein Innenleben einzudringen, wo ich nichts zu suchen habe.
    ich sage lieber: Deinen Roman fand ich dramaturgisch nicht so gelungen; statt: Dein Leben war langweilig, also hör auf zu heulen. Zweites kommt bei etwas Autobiografischem aber unweigerlich an, wenn man kritisiert.


    Voyeurismus ist es fast immer, wenn Unterhaltungsliteratur gelesen wird. Wir wollen interessante, tolle, heiße, gequälte, heldenhafte oder abgebratzte Figuren lesen. Das tut keiner der Bildung wegen.


    Mir wird es auch manchmal unangenehm, wenn ich erfahre, dass ein Autor viel von seinen eigenen Erlebnissen in seine fiktiven Romane einbaut. Es gibt eine amerikanische Autorin meines Lieblingsgenres, von der bekannt ist, dass sie mit ihren - teils sehr Folter-lastigen Romanen - ihre Kindheit verarbeitet.
    Ich mag das nicht lesen, weil ich dann Mitleid mit der Autorin bekomme und mir zu viele Gedanken um sie mache, während die eigentliche Geschichte und ihre Figuren mit am Mors vorbei gehen.


    Mit Biografien, die jemand anders geschrieben hat habe ich keine Probleme, solange sie nicht auf der Schiene laufen: "Oh schaut nur - was für ein aaarmer Mensch!"
    Autobiografien laufen leider sehr oft auf der Schiene, nebenbei glorifiziert sich der Autor auch oft selbst, meist ohne es zu wollen. Würde ich aber auch tun ;)

  • Zitat

    Original von Maren


    Nein, genau die ganz sicher nicht, sondern Bücher wie dieses:

    ASIN/ISBN: 3471350403


    Aha! Dann haben wir uns wirklich falsch verstanden. Da sind wir uns sogar weitgehend einig. Ich mache um solche Sachen meistens auch immer einen großen Bogen, sei denn, mit der Veröffentlichung ist irgend ein Faktor verbunden, der mich interessiert - jenseits des persönlichen Schicksals.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Ich für meinen Teil lese sehr gern Autobiographisches - wenn mich das Thema interessiert. Weil ich Tennis-Freak bin, habe ich die Autobiographie von André Agassi verschlungen, die auch noch großartig geschrieben war. Der Junge hat sich einen Pulitzer(sic!)-Preisträger als Ghostwriter geleistet. Don Felders Geschichte über die "Eagles" oder Ron Woods Sicht auf die "Stones" habe ich mir auch nicht entgehen lassen. Da kommt man sich natürlich schon ein bisschen wie ein "Spanner" vor, gebe ich gerne zu ...
    Derzeit liegen auf meinem Nachtkästchen die "Erinnerungen" von Albert Speer, weil mich jüngere Geschichte sehr interessiert. Habe heute früh gesehen, dass das Thema wieder "in" ist: Die ZEIT hat damit aufgemacht.
    Kampusch oder Enke oder Dieter Bohlen oder so würde ich mir jedoch "privat" wirklich nicht reinziehen, weil ich denke, darüber hat man schon alles gelesen. Allerdings bin ich als Agent geradezu dazu verpflichtet, einen Blick auch auf solche Bücher zu werfen, da immer mal wieder Verlagsanfragen bezüglich Ghostwriting kommen - und da muss man schon sehen, wie so was aktuell angepackt wurde. Aber eben im handwerklichen Sinne.

  • Zitat

    Original von Mulle

    Autobiografien laufen leider sehr oft auf der Schiene, nebenbei glorifiziert sich der Autor auch oft selbst, meist ohne es zu wollen. Würde ich aber auch tun ;)


    Ja, zum Beispiel der hier


    Trotzdem sehe ich es bei solchen Biografien etwas anders als bei Bekenntnis- oder Rechtfertigungsbiografien wie die von D.B. Es geht nicht nur um die Person, sondern um noch etwas zusätzliches, im Fall von Clapton um die Musik. Die Konzentration bei diesem Buch auf das persönliche ist deswegen auch die Schwachstelle bei der Autobiografie, deshalb kann ich das zweite eher empfehlen.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Mulle...


    Ich persönlich lese Autobiografisches nicht, vor allem nicht, wenn es düstere Lebensabschnitte betrifft, weil ich mich dann gezwungen fühle, Mitleid zu empfinden, was sich aber nicht immer einstellt. Und dann fühle *ich* mich mies, weil ich ein unempathisches Arschloch bin.


    Nööö, bist du nicht. Es besteht doch keine Verpflichtung zum Mitleiden!!
    Es kann doch einfach nur lehrreich sein und den eigenen Horizont erweitern - psychologische Fallstudien sozusagen.
    Andererseits hast du natürlich Recht: Man wird sich immer für die Bücher entscheiden, die irgendeine Resonanz in uns auslösen. Ich weiß das meistens schon, wenn ich das Buch sehe und den Klappentext lese bzw. ein paar Rezensionen dazu. Das entscheide ich rein aus dem Bauch raus - passt immer. Ich habe mich selten verkauft.


    Zitat

    Original von Horst Dieter...


    Trotzdem sehe ich es bei solchen Biografien etwas anders als bei Bekenntnis- oder Rechtfertigungsbiografien wie die von D.B. Es geht nicht nur um die Person, sondern um noch etwas zusätzliches, im Fall von Clapton um die Musik.


    Das ist wohl der entscheidende Punkt. Reine Selbstbeweihräucherung spricht mich auch nicht an - bin doch kein "Buch-Katatrophentourist" :D


    LG
    Petra

  • - Katastrophentourismus -


    Könnte ja auch sein, dass die Vorstellung von dem was sein könnte, so schlimm ist, dass man hinschauen muss um zu sehen, dass es hoffentlich gar nicht ganz so schlimm ist.




    Gruß
    Barbara

  • (Auto)Biographien über bekannte Persönlichkeiten sind noch mal ein anderes Thema. Wenn ich für einen historischen Roman etwas recherchiere, lese ich dabei natürlich auch viel über die bekannten Personen jener Zeit, wobei das meist eher Sachbücher als Romane sind. Und flechte natürlich auch historisch verbriefte Personen und Geschehnisse mit ein.
    Das ist für mich aber etwas ganz anderes, als z. B. das Buch von Natascha Kampusch, bei dem bei der Kurzbeschreibung schon steht:

    Zitat

    Jetzt spricht Natascha Kampusch zum ersten Mal offen über die Entführung, die Zeit der Gefangenschaft, ihre Beziehung zum Täter und darüber, wie es ihr gelang, der Hölle zu entkommen.


    Der Fall ging durch alle Medien, insofern weiß man, sie wurde gefangen gehalten, das ging über Jahre, ihr gelang die Flucht. Wieso dann also ein Buch, in dem vermutlich in allen Einzelheiten geschildert wird, was sie alles Schreckliches erlebt hat.


    Ich habe dieses Buch jetzt nur als Beispiel rausgepickt, weil es aktuell und sehr bekannt ist, genausogut könnte da auch ein anderes gleicher Art stehen. Dann davon gibt es ja genug, ob Horror-Ehe, Zwangsverheiratung, Sekte, usw.
    Und es ist einfach ein riesiger Unterschied, ob ein Forscher von seiner Reise in ein fremdes Land erzählt (das ist dann eben wie eine Dokumentation nur eben in Buchform, denn darin geht es bei den allermeisten nicht um die Person, sondern eben den Bericht) oder ob bis in alle Einzelheiten menschliche Abgründe geschildert werden.

  • Zitat

    Maren schrieb...


    Und es ist einfach ein riesiger Unterschied, ob ein Forscher von seiner Reise in ein fremdes Land erzählt (das ist dann eben wie eine Dokumentation nur eben in Buchform, denn darin geht es bei den allermeisten nicht um die Person, sondern eben den Bericht) oder ob bis in alle Einzelheiten menschliche Abgründe geschildert werden.


    Menschliche Abgründe müssten vielleicht erst definiert werden, um eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu haben. Ich denke, sie gehören zum Leben und können durchaus in einer Art und Weise dargestellt werden, dass man sich traut hinzugucken.


    LG
    Petra

  • Hab gerade mal nachgesehen: Das Buch über Natscha Kampusch ist unter den Top100 bei Amazon. Verkauft sich offenbar fantastisch, die Leute wollen das lesen, wollen das kaufen.


    Wäre doch blöd, es nicht anzubieten :achsel


    Wie gesagt, ich lese sowas nicht; aber die Nachfrage ist ganz eindeutig vorhanden.
    Ich kann das sogar verstehen. Das, was diese Frau erlebt hat, schockiert. Die Leute können sich nicht vorstellen, was da ablief und wie sie das überstanden hat. Was liegt näher als ihr Buch zu kaufen, in der Hoffnung, es zu erfahren.


    Wie gesagt - ICH kaufe sowas nicht (ich habe auch die TV-Berichte und Zeitungsartikel nicht angesehen), aber ich kaufe auch viele andere Dinge nicht, weil sie mich nicht ansprechen. Das bedeutet nicht, dass ich deren Daseinsberechtigung anzweifeln muss. Ich wäre der letzte Mensch auf Erden, der Verständnis hätte, das Geld liegenzulassen, das mit solchen Büchern regelrecht auf der Straße liegt.


    Solange jeder das findet, was er lesen will, finde ich den gesamten Buchmarkt - fiktiv wie (auto)biografisch - ziemlich geil.

  • Zitat

    Original von Petra1
    Menschliche Abgründe [...] gehören zum Leben und können durchaus in einer Art und Weise dargestellt werden, dass man sich traut hinzugucken.


    Das denke ich auch. Immerhin gäbe es ohne menschliche Abgründe einen ganzen Batzen ziemlich guter Literatur nicht. Tess of the D'Urbervilles von Hardy, Hard Times von Dickens, Der Glöckner von Notre Dame von Hugo, Verwirrungen des Jünglings Törleß von Musil... =)

  • Sind es nicht gerade die menschlichen Abgründe, die das Leben und die Literatur spannend machen. Wer will schon was über, sagen wir: Florian Silbereisen oder Gundula Gause lesen (obwohl die sicher auch ihre dunklen Seiten haben) ...

  • Und ich glaube, das ist das Faszinierende an "wahren Geschichten": Nicht die Abgründe an sich, sondern der Weg da heraus bzw. zum "Happy End" (wenn es denn eins gibt).
    Warum zum Beispiel sind Geschichten von krebskranken Menschen, die geheilt wurden, für andere Krebskranke so wohltuend und heilungsfördernd? Weil sie sehen, dass andere Menschen aus Fleisch und Blut (keine Romanfigur) den Weg erfolgreich gegangen sind.
    Man kann die Beziehung, die Autor und Leser in solchen Fällen eingehen, meiner Meinung nach durchaus vergleichen mit dem "Wissenden Zeugen" Alice Millers.


    LG
    Petra

  • Zitat

    Original von Gerald D.
    Sind es nicht gerade die menschlichen Abgründe, die das Leben und die Literatur spannend machen. Wer will schon was über, sagen wir: Florian Silbereisen oder Gundula Gause lesen (obwohl die sicher auch ihre dunklen Seiten haben) ...


    Du sagst es. Kein Leben ohne den ein oder anderen Abgrund und die ein oder andere Leiche im Keller.(jedenfalls keins, welches schon über 12 Jahre alt ist)
    Manche müssen halt drüber reden, andere können nicht drüber reden und noch mal Andere sehen`s fatalistisch oder ignorieren einfach.
    Darum geht`s doch. Nicht um das -ob-
    sondern um das - wie und was MACHEN die Betreffenden mit ihren Abgründen und Kellern.


    Gruß
    barbara