T. C. Boyle: Riven Rock

  • Amerika, vor dem ersten Weltkrieg. Stanley McCormick ist der Erbe des McCormick-Mähmaschinen-Imperiums. Er ist reich und sieht blendend aus. Als er Katherine Dexter, ebenfalls Mitglied der Oberen Zehntausend, kennen und lieben lernt, ist es eine Verbindung, die brillianter nicht hätte arrangiert werden können. Dem steht nur eins massiv entgegen: McCormick ist geisteskrank.
    Die Ehe wird - trotz massiver Zweifel auf Seiten der Braut - geschlossen, aber nie vollzogen.
    McCormick verbringt Jahrzehnte in einem riesigen Haus, das für seine ebenfalls geisteskranke und mittlerweile verstorbene Schwester gebaut worden ist, die meisten Zeit in Räumlichkeiten mit vergitterten Türen und Fenstern und angeschraubten Möbelstücken, in Gesellschaft seiner Pfleger und wechselnder Psychiater, jahrelang, ohne auch nur ein einziges weibliches Wesen zu Gesicht zu bekommen, seine Mutter nicht und auch nicht seine Frau. Von weiblichem Pflegepersonal hat man tunlichst Abstand genommen, da sich McCormicks Sexualpsychose in gewalttätigen Ausbrüchen gegen Frauen Bahn bricht.
    Trotzdem lässt sich seine Frau nicht beirren. Sie hat einen anderen Stanley kennengelernt und diesen Stanley will sie zurückhaben. Jahrzehntelang wacht sie über seine Behandlungen, unbeirrt klammert sie sich an seine zukünftige Genesung. Während ihr Gatte ein frauenloses Leben führt, führt sie quasi ein männerloses Dasein, immer das fünfte Rad am Wagen bei gesellschaftlichen Anlässen, verheiratet, aber kinderlos, auf dem besten Wege zur alten Jungfer. Sie schließt sich der aufkommenden Frauenbewegung an und unterstützt den Kampf um das Wahlrecht für Frauen wie auch das Recht auf Empfängnisverhütung.

    Stanley McCormick und Katherine Dexter-McCormick sind historisch verbürgte Personen. (Durch die finanzielle Unterstützung letzterer wurde die Erfindung der Anti-Baby-Pille vorangetrieben.) Auch das Anwesen Riven Rock hat es tatsächlich gegeben. T. C. Boyle hat aus der Geschichte dieser beiden Menschen einen Roman gemacht, indem er um dieses Gerüst realer Personen und Ereignisse einen Mantel erfundener oder halb-erfundener Personen und deren Erlebnisse legt.
    Allen voran ist da Eddie O'Kane, McCormicks erster Pfleger. O'Kane ist ein Frauenheld, das, was McCormick auch hätte sein können, wäre er nicht krank. Er sieht blendend aus und kommt gut an bei Frauen. Unglücklicherweise hat er eine davon geschwängert und sah sich genötigt, früh zu heiraten. Als er das Angebot bekommt, McCormick in sein privates Sanatorium nach Kalifornien zu begleiten, nimmt er diese Chance nur zu gern wahr. Weg von der Ostküste, raus aus dem Irrenhaus! Trotzdem hofft O'Kane auf die Genesung seines einzigen Patienten, auf die Dankbarkeit, die der ihm eines Tages erweisen wird. O'Kane, der mit dem "Drei-Uhr-Glück in den Augen", will Weib, Wein und Gesang, ein Leben unter einem blauen Himmel und vielleicht einen Orangenhain. Frauen bekommt er ein paar (seine eigene verlässt ihn mit dem gemeinsamen Sohn), auch wenn sie verheiratet sind oder mit den Jahren an Gewicht zulegen, auch wenn er am Ende McCormick öfter nackt gesehen hat als jede Frau in seinem Leben. Als weitaus tröstender und verlässlicher erweist sich der Alkohol.
    Hinzu kommen mehrere Psychiater, die McCormick in Riven Rock betreuen (mehr oder weniger) und von denen die meisten selbst (mehr oder weniger) einen Psychiater nötig hätten.

    Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, sondern beginnt mit den Vorbereitungen, McCormick nach Riven Rock zu verlegen. Wie es dazu gekommen ist, erfährt man in eingestreuten, episodenhaften Passagen, die diesem Ereignis vorgreifen und die Personen zu dem gemacht haben, was sie sind und dorthin gebracht haben, wo sie sind. So gibt es im Grunde genommen zwei Erzählstränge, einen von McCormicks Einzug in Riven Rock bis zu seinem Tod (in Riven Rock) und einen von seiner Kindheit über seine Jugend, seiner Hochzeit ... bis zu dem fatalen Tag, der seine Einweisung in eine Anstalt bedingt.

    Was mir besonders gut gefallen hat ist Boyles Fähigkeit, Personen originell und bildhaft zu beschreiben, deren Geisteshaltung, wie auch ihre Physiognomie. Wenn er von einem der Pfleger behauptet, sein Kopf sei mit den Jahren immer schwerer geworden, wie das bei den Schädeln von alten Krokodilen der Fall ist, bin ich geneigt, das zu glauben, auch wenn ich nichts von Krokodilen verstehe. Es gibt Stellen beißender Ironie und herrlichen Humors - auch wenn der Roman an sich wenig Raum für heitere Stellen lässt. Überhaupt verfügt Boyle über eine sehr bildreiche und originelle Sprache.

    Manchem Lesern wird vielleicht bitter aufstoßen, dass ja eigentlich nicht viel passiert auf diesen immerhin doch über 500 Seiten. Es gab auch für mich fesselnde Passagen und weniger interessante. Der Wechsel zwischen den beiden Erzählsträngen gibt dem Roman einen eigenen Reiz. Meistens wollte ich mehr über die Zeit lesen, die gerade erzählt wurde - was sich jedoch während der "anderen" Zeit genauso ergab; so sollte es sein. So kam bei mir keine Langeweile auf - was bei einer chronologischen Erzählweise bzw. einem Autor, der mehr Wert auf Vollständigkeit gelegt hätte, leicht hätte passieren können. Boyle lässt mitunter Jahre aus - was unabdingbar ist, wenn man von einem Mann erzählt, der in seinem Haus, aber eigentlich in seinem Kopf gefangen ist.


    ASIN/ISBN: 3423127848


    PS: Ob wohl demnächst einer die Geschichte von Rosemary Kennedy literarisieren wird ...?

  • Danke für die tolle Rezi. Das Buch merke ich mir gleich vor.


    Lg, Manuela :)

  • Hallo Petra,


    Riven Rock ist ein gutes Buch, aber das tollste von T.C. Boyle bleibt auf alle Zeit Wassermusik! Eines meiner absoluten Lieblingsbücher!


    Gruss


    Andreas

  • Mich hat es seinerzeit nicht sonderlich begeistert:


    In Zügen wunderschön, aber irgendwie fleischlos.


    Boyle setzt - wie in "Wassermusik", seinem definitv besten Buch - eine reale Biographie auf seine spezielle Art um, aber bei "Riven Rock" bleibt der Leser ob des handlungsarmen Plots dabei ein wenig auf der Strecke.
    Der Millionenerbe Stanley, Sohn des Erfinders der Mähmaschine, leidet unter schweren Psychiosen, die den vielversprechenden jungen Mann kurz nach seiner Hochzeit zunächst zum Katatoniker und bis in sein hohes Alter zum aussichtslosen Pflegefall werden lassen. Kontakt mit Frauen löst bei Stanley heftige, zutiefst aggressive Reaktionen aus, weshalb seine behandelnden Ärzte - ein bunt wechselndes Sammelsurium von Nervenärzten zu Zeiten der beginnenden Psychoanalyse - ihm den Kontakt mit Frauen völlig versagen.


    Eingesperrt im kalifornischen Herrensitz "Riven Rock", ursprünglich gebaut für die ebenfalls geistesgestörte Schwester, fristet der Protagonist ein armseliges, aber heftig umsorgtes Dasein, während zur Therapierung seiner Krankheit quasi nichts passiert. Seine Frau Katherine, kurz vor dem Zusammenbuch geheiratet, opfert sich in einem jahrzehntelangen Kampf auf, und wird ganz nebenbei Vorkämpferin für die Gleichberechtigung im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, während ihr der mittelbare Kontakt mit dem eigenen Mann versagt bleibt.


    Geschildert wird diese höhepunktearme Geschichte aus der Sicht des kranken Stanley, seiner Frau Katherine und des proletarischen Oberpflegers O'Kane. Die Nebenhandlung um die Lebensgestaltung des entscheidungsunfreudigen, attraktiven und lüsternen Pflegers wird mehr und mehr zum Hauptanziehungspunkt dieses Buches, das zwar mit Detailreichtum, einringlichen und wunderschönen Sentenzen und einer sauberen Erzählstruktur glänzt, dem es jedoch an Witz und Spannung - für Boyles Verhältnisse - massiv mangelt. Boyle erkämpft sich einen Arbeitssieg, der ein wenig fad ausfällt. Zwar Pflicht für Boyle-Fans, aber insgesamt etwas fleischlos.

  • Bin dennoch sehr gespannt drauf, der Plot klingt interessant. Hab mir grade ein gebrauchtes Exemplar bestellt. =)

    Einmal editiert, zuletzt von Manuela K. ()

  • Hab das Buch gerade geliefert bekommen, natürlich gleich reingelesen, freu mich schon drauf. Morgen geht's los, muss mich zuvor noch vonToms Kumpelli, Gonzo, Walter und Henry verabschieden, die mich die letzten beiden Tage begleitet haben. ;)


    Lieben Gruß,
    Manuela :)

  • Es war mein erster Roman von T.C. Boyle, ganz sicher nicht mein letzter.
    Ich fand das Buch beeindruckend geschrieben, vor allem faszinierte mich die bildhafte Sprache. Boyle lässt geradezu ein Feuerwerk von gelungenen Vergleichen und Metaphern auf den Leser los, egal was er erzählt, alles liest sich interessant, er hält diesen Stil ohne Schwächen bis zur letzten Seite durch, ich hab mich keine Sekunde gelangweilt.
    Was mich am meisten beeindruckte, ist die geradezu geniale Profilierung seiner Figuren. Ich weiß, dass viele Amis das gut können, aber so etwas geradezu plastisch Lebendiges habe ich noch kaum irgendwo gelesen.
    Kurz, ich bin echt begeistert von diesem virtuosen Meister des Erzählens, hab mir gleich im Anschluss an diese Lektüre die "Wassermusik" bestellt.
    Boyle gehört für mich in die Reihe der ganz großen Autoren, vor dessen schierer Sprachgewalt ich mich nur in Respekt verneigen kann.


    ... das musste einfach mal raus!


    Lieben Gruß,
    Manuela :)

    2 Mal editiert, zuletzt von Manuela K. ()

  • Hallo Manuela,


    freut mich ja doch, dass meine Begeisterung für meinen ersten Boyle ansteckend gewirkt hat :D Auch für mich war "Riven Rock" der Startschuss, weitere Romane dieses Autors auf meine Leseliste zu setzen, und zwar ganz nach oben.


    Gruß,
    Petra