Haruki Murakami - Hard-boiled wonderland und das Ende der Welt


  • Die Geschichte klang für mich interessant: Im Tokio der Zukunft wird ein Mann, der an die 40 sein mag, als "Zahlenwäscher" von einem alten Professor engagiert. Dieser Professor lässt sogenannte "Kalkulatoren" für sich arbeiten, denn er hat eine Verschlüsselungstechnik entdeckt, die Datenklau im Unterbewusstsein durch die Datenmafia der "Semioten" unmöglich macht. Die Geschichte wird in zwei Strängen erzählt: "Hard-Boiled Wonderland" beschreibt des unterirdische Labor des Professors und "Das Ende der Welt" einen Mann, der eine seltsam beklemmende Stadt entdeckt.


    Leider muss ich zugeben, dass ich nicht über Seite hundert hinausgekommen bin. Irgendwie hat mich das Buch so gar nicht gefesselt. Woran lag's? "Das Ende der Welt" war für mich eine ziemlich handlungsfreie Beschreibung einer Welt mit vielen Details, aber ohne jedes Leben. Es ließt sich durchweg so seelenlos wie die Beschreibung eines Messers: "Es reagiert so scharf wie ein abgerichteter Jagdhund und zerschneidet mit trockenem Zischen die Luft". Ich mochte einfach die Sprache nicht, vielleicht lag's auch an der Übersetzung. Die Sprache ist zwar flüssig, aber für mich völlig einfallslos. Vielleicht fehlte mir auch die Fantasie oder der Wille mich auf Sprache und Erzählweise einzulassen. "Hard-Boiled Wonderland" wird nach etwa 50 Seiten etwas spannender, wenn der Held von dem Professor engagiert wird. Aber auch hier wirkt der Held an der Handlung völig unbeteiligt.


    Ich muss aber insgesamt sagen, dass Zukunftsromane generell nicht unbedingt mein Genre sind, in dem Bereich wissenschaftlicher Zukunftsroman fand ich "42" von Thomas Lehr wesentlich fesselnder.

  • Gegendarstellung - geschrieben, glaube ich, vor fünf Jahren: :D


    Normalerweise hätte ich das Buch mit dem sperrigen Titel, dem seltsamen Klappentext und dem scheußlichen Cover nicht angefaßt - wäre es mir nicht empfohlen worden. Außerdem: Zeitgenössische Belletristik von Japanern? Japan, das ist Sony, Suhi, Sumo, Sado-Maso, Großkonzerne als Familienbetriebe mit tausenden von Geschwistern, Game-Shows, bei denen die Teilnehmer an den Füßen aufgehängt lebende Frösche essen müssen, Wohnungen in Sarggröße, null Individualität, alle fahren die gleichen Kleinwagen. Oder so.


    "Hard-boiled Wonderland" ist allerdings so un-klischeemäßig-japanisch, wie man sich das nur vorstellen kann, der Vergleich mit zeitgnenössischer amerikanischer Literatur liegt weitaus näher, als derjenige mit Haiku und Stäbchenessen. Tatsächlich sind Murakamis Vorbilder hauptsächlich auf dem nordamerikanischen Kontinent zu suchen, einige von ihnen - Updike etwa - hat er selbst übersetzt. Dem Buch ist das deutlich anzumerken. Nicht zuletzt deshalb zählt der Autor zu den maßgeblichsten der "jüngeren" Szene Japans.


    Ein - wie alle anderen Figuren auch - namenloser Mittdreißiger in der "nicht allzu fernen Gegenwart" Tokyos arbeitet als Kalkulator für "Das System", der zentralen Einrichtung für den Schutz von Daten-Copyrights. Kalkulatoren verfügen über außerordentliche kognitive Fähigkeiten, sind dazu in der Lage, im Dialog zwischen beiden Gehirnhälften große Zahlenkolonnen zu "waschen" oder, wie unser Protagonist, gar zu "shuffeln", ein Verfahren, das neu, komplex, geheim und - eigentlich - verboten ist. Wäre da nicht der skurrile Professor mit seinem hochgeheimen Laborkomplex, irgendwo in den Niederungen der Hauptstadt, der unseren Helden für einen Auftrag anwirbt. Eine Kette von seltsamen Ereignissen sucht den eigenbrötlerischen, whiskeytrinkenden und alte Hollywoodfilme verehrenden Protagonisten heim, von denen der Besuch durch die "Firma", der Gegenorganisation zum "System", noch zu den harmloseren gehört - trotz Folter und Zerstörung der Wohnungseinrichtung.
    In einer Jetztzeit-Parallelhandlung erzählt Murakami von einem Menschen, der in eine seltsame, gefängnisartige Stadt kommt, am Tor gar seinen Schatten abgeben muß, in ein stoisches, aber konflikt-, ereignis- und wunschfreies, zielloses Leben gestoßen wird, sich damit aber - in Gegensatz zu den anderen Bewohnern - nicht so recht abfinden will. Diese sehr metaphorisch anmutende Nebenhandlung am "Ende der Welt" steht in direkter Verbindung mit dem Hauptgeschehen ("Hard-boiled Wonderland"), aber mehr zu erzählen würde zu viel vorwegnehmen. Gutes.


    Murakami schreibt lakonisch, fast unterkühlt, enorm witzig, bild- und einfallsreich, und obwohl es sich anhört, als ginge es hier um einen Science-Fiction-Roman, ist "Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt" eine Hommage an das Individuum, ein Manifest gegen die Seelenlosigkeit des Alltags, ein Hilfeschrei gegen Ent-Individualisierung, ein Dokument gegen all jene Werte, die (nicht nur) die japanische Gesellschaft zu prägen scheinen - losgelöst von dem unaufdringlichen SF-Kontext, der die Story lediglich trägt. Das Buch liest sich eigenartig, aber leicht, verwirrt mit originellen Gedankenspielen, verwöhnt mit ungewöhnlichen Metaphern, wärmt mit ehrlichen Liebeserklärungen, beeindruckt mit kreativen Gedankenspielen - und ist einfach gut geschrieben.

  • hi tom,


    ich kannte deine rezension schon (findet man auf position 3 auf leselust.de, wenn man nach "rezension" und "hard-boiled wonderland" googelt). manchmal gehen die geschmäcker halt auseinander. man mag etwas oder nicht, fertig. beim amazon wird mir diese rezension auch nur prügel einbringen, aber so ist es halt.


    viele grüße,
    michael

  • Hallo,


    ich kann Toms Rezension nur unterschreiben. Schon den Anfang fand ich witzig und skurril, und was folgt, ist alles andere als einfallslos, sondern faszinierend, humorvoll und beklemmend. Sicher, vor allem in dem Erzählstrang, der sich mit der Stadt befasst, passiert äußerlich nicht viel; umso eindringlicher ist aber die Atmosphäre und das Innenleben des Protag beschrieben.


    Es ist eine reichlich skurrile Art, sich dieses Themas anzunehmen - ich kann darum nachempfinden, dass es nicht jedem gefällt. Ich glaube, wenn man mit der Erwartung "Zukunftsroman" an das Buch rangeht, wird man sowieso enttäuscht. Es ist nur der originelle Rahmen, um das von Tom schon genannte Thema "Hommage ans Individuum" darzustellen.


    Grüße
    Johanna

    Einmal editiert, zuletzt von Hanna ()

  • Hallo Michael,


    ich verzeih's dir ... :D


    Mich erreicht auch so maches Werk nicht, da kann man nichts machen. Aber es ist immer wieder interessant, wie verschieden die Leute ein Buch empfinden.


    Grüße
    Johanna

  • Zitat

    Original von Michael Höfler
    Ich muss aber insgesamt sagen, dass Zukunftsromane generell nicht unbedingt mein Genre sind, in dem Bereich wissenschaftlicher Zukunftsroman fand ich "42" von Thomas Lehr wesentlich fesselnder.


    Falscher Ansatz -- und damit wohl auch falsche Erwartungshaltung! :zwinker


    Hard-boiled wonderland ist alles andere als ein "Zukunftsroman" -- es ist ein klassischer utopisch-fantastischer Roman, der obendrein mit einer sprachlichen Eigenheit des Japanischen arbeitet, die im Deutschen sprachlich nicht nachvollziehbar ist, den zwei "Ichs" eines Menschen nach japanischem Verständnis, dem "reinen Subjekt" (am Ende der Welt) und dem "Ich als soziales Wesen" (im Hard-boiled wonderland).


    In meinen Augen eine der perfektesten Parabeln über genau dieses Verhältnis. :)

  • Hallo Michael,


    tja, so ist das mit Buchtipps. Dabei war ich mir sicher, dass es dir gefallen würde. Wenn du allerdings schon auf Seite 100 ausgestiegen bist, hast du ja die Geschichte noch gar nicht verstanden, bzw. nicht, was die beiden Geschichten miteinander verbindet.


    Gruß


    Helmut

  • Zitat

    Original von Helmut
    Wenn du allerdings schon auf Seite 100 ausgestiegen bist, hast du ja die Geschichte noch gar nicht verstanden, bzw. nicht, was die beiden Geschichten miteinander verbindet.


    ist korrekt, helmut, aber irgendwie war ich gar nicht mehr so sehr neugierig darauf. mal sehen, ob mir dein zweiter buchtipp besser gefällt. im moment lese ich erst "the dice man" von luke rhinehart zuende, das ist eine bank.


    viele grüße,
    michael

  • Danke für diesen Tipp. Hab einen Hang zu sowas.
    Folgendes Zitat von Murakami hat mich auf ihn mal aufmerksam gemacht:


    "Wir Asiaten agieren nicht so sehr nach den Gesetzen der Logik,
    wie Menschen aus dem westlichen Kulturkreis.
    Unsere Gesellschaft kann Mehrdeutigkeiten, Ungereimtheiten und
    Widersprüche leichter akzeptieren.
    Es muss ja nicht immer zwangsläufig auf ein Ja oder Nein hinauslaufen."




    :achsel Pfaffenkönig, Hard Boiled, klasse Lesetipps in der neuen Federwelt, Calvin-Comics, etc.....weiß gar nicht wann ich das alles lesen soll...

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt