Mark Haddon: "Supergute Tage"

  • Der fünfzehnjährige Christopher leidet am Asperger-Syndrom, er ist Autist. Christopher verfügt über extrem gute visuelle Wahrnehmungsmöglichkeiten, ein fotographisches Gedächtnis und hohe mathematische Fähigkeiten - er kann die Primzahlen bis 8000 auswendig, und wenn er Probleme hat, löst er zur Entspannung quadratische Gleichungen im Kopf. Er scheitert daran, Mimik zu interpretieren, sich in fremden Umfeldern zu bewegen oder mit Menschen direkten Kontakt aufzunehmen. Seine Emotionalität ist eingeschränkt, er haßt die Farben gelb und braun. Um zurechtzukommen, skizziert er seine Umgebung, hält rote Lebensmittelfarbe bereit, um sein Lieblingscurry essen zu können. Obwohl Christopher auf eine Sonderschule geht, wird er bald das Mathematik-Abitur machen. Darauf freut er sich sehr.
    Und dann findet er den Hund der Nachbarin, tot, mit einer Heugabel erstochen. Christopher mag Hunde, und er beschließt, das Rätsel zu lösen, wie Sherlock Holmes das getan hätte, den er sehr verehrt. Unter Anleitung seiner Lehrerin Shioban beginnt er, ein Buch über diese detektivischen Ermittlungen zu schreiben, und um seine Welt zu verdeutlichen, durchsetzt er es mit mathematischen Denkspielen, zuweilen aber auch philosophierenden Abschnitten, die durchaus verblüffen.


    Dieses Buch lesen wir. Christopher entdeckt, daß es zwischen der Nachbarin und seinem Vater Verbindungen gibt, die über Freundschaft hinausgehen, und als er herausfindet, wer der Mörder des Hundes war und daß die totgeglaubte Mutter doch noch lebt, tritt er eine Odyssee an: Er versucht, ganz alleine nach London zu fahren.


    Haddon gelingt es auf eindrucksvolle Weise, eine glaubhafte Sprache und Bilderwelt eines fünfzehnjährigen Autisten zu zeichen; das Buch vermittelt Authentizität, wenn es sie in diesem Zusammenhang überhaupt geben kann. Es liest sich zudem flüssig und spannend, und es baut Nähe zur Figur auf, ohne je weinerlich zu werden. Interessante, lehrreiche Lektüre, nicht nur für Menschen, die von Berufs wegen oder aus familiären Gründen mit dem Thema konfrontiert sind. Ein schönes Buch über besondere Menschen.


    ASIN/ISBN: 344246093X

  • Na gut, dann hier auch noch meine etwas abweichende Meinung zu dem Buch.


    Eigentlich kann ich nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet dieser Roman es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hatte. Es ist eine nett erzählte kleine Familiengeschichte, zwar mit einigen Hindernissen und Wagnissen versehen, aber nicht wirklich etwas Herausragendes. Den Charme bezieht das Buch aus den gut vermittelten Eindrücken und dem daraus resultierenden Sprachstil, der einem die Gedankenwelt des autistischen Protagonisten nahebringt.


    Doch so wie Christopher seine Mitmenschen nicht wirklich in seine Welt hineinlässt, so bleibe ich auch als Leser außen vor, wenn es um Sympathien für die Hauptfigur geht. Das wird durch die Ich-Erzähler-Perspektive sogar verstärkt. Man nimmt zur Kenntnis, verfolgt die Geschichte und merkt recht schnell, daß die vielen erwähnten Details zwar vom Protagonisten registriert werden, sie aber mangels Zugang zu "unserer" Welt letztlich nur eine untergeordnete Rolle spielen und stets spielen werden.


    "Supergute Tage" ist kein umfangreiches Buch. Die Geschichte wird flott erzählt, allerdings ohne besonderen Spannungsaufbau. Die unterschiedlichen Figuren werden zwar gut rübergebracht, nur gibt der Plot einfach etwas zu wenig her. Ein leicht zu lesender Roman, unterhaltend, aber nicht wirklich fesselnd. Ich bin mir nicht sicher, ob die fremde Gedankenwelt eines Autisten durch den Autor vermittelt halbwegs dem entspricht, was solche Menschen wirklich erleben. Letztendlich bleibt es nur die Vorstellung eines "Normalen", wie es im Kopf eines "Autisten" vielleicht aussehen mag.


    Der Autor hat mMn mit der platten Geschichte viel Potential verschenkt. Der Sprachstil hätte durchaus das Zeug gehabt für "mehr", mehr Geschichte, mehr Inhalt, mehr Aussage. Wenn man den Autismus (der eben nur als Träger einer mehr oder weniger belanglosen Familiengeschichte herhalten muss) abzieht, bleibt nicht viel übrig und das Buch hätten die Wenigsten zur Kenntnis genommen, schon gar nicht eine Spiegel-Beststellerliste.


    Gruss,


    Bernd

    "Der erfolgreiche Abschluss infamer Aktionen steigert Ihren Bekanntheitsgrad, was für Ihren Feldzug zur absoluten Weltherrschaft unglaublich wichtig ist." (aus dem Benutzerhandbuch des PC-Spiels Evil Genius)

  • Hallo, Bernd.


    Warum es Bücher auf Bestsellerlisten schaffen, andere aber nicht, das ist mir bei vielen Titel nicht klar. 8) Ich weiß nicht, wie es bei diesem Buch war, ob da der Heidenreich-Faktor gegriffen hat oder ein anderer; ich hab's in der Buchhandlung in die Hände bekommen, den Klappentext gelesen, und ein, zwei Seiten zur Probe - und es dann gekauft. Daß es ein Bestseller war oder ist, war mir nicht klar, und ehrlich gesagt auch schnuppe.


    Dieses Buch ist sicherlich keines, das man eingerahmt in die Lieblingsecke stellt, und ich stimme Dir zu, was die dramaturgischen Mängel anbetrifft, aber der Hauptzweck bzw. die Idee scheint mir auch nicht gewesen zu sein, einen klassischen Unterhaltungsroman vorzulegen. Die Handlung ist tatsächlich bestenfalls Gerüst. Es geht darum, die Wahrmehungswelt der Hauptfigur zu verdeutlichen, und das ist gelungen. Sogar ziemlich gut, innerhalb der naturgegebenen Grenzen: Man kann niemandem in den Kopf schauen, und Haddon ist nur der Autor, nicht die Figur.

  • Hallo Bernd, Tom,


    das Buch lässt durchaus ein klein wenig in den Kopf des Protagonisten blicken.


    Durch die genauen Beobachtungen, die kleinen Illustrationen und die Schilderung seiner Bedürfnisse lässt mich Christopher wenigstens ein wenig teilhaben an seiner Gedankenwelt.


    Mir zumindest hilft es, meine Tochter etwas besser zu verstehen, die an einer wesentlich schwächeren Form des Asperger-Syndroms leidet.
    Wobei "leidet" vielleicht weder bei meiner Tochter noch bei Christopher das richtige Wort ist. Denn es scheint mir nicht so, als würde Christopher unter seiner anderen Art der Weltsicht leiden. Auch bei meiner Tochter ist das ähnlich.


    Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt, auch ohne den privaten Hintergrund.


    Herzlichst


    Wolf P.

    "NOW is the happiest time of your life." Daevid Allen ( :gitarre )