Heute Morgen begann der Tag mit einer Schusswunde - wie Wolf Wondratschek mal sang. Viele Tage beginnen so, und in Bayern beginnen praktisch alle Tage so. Also war ich nicht weiter verwundert.
Ich war eher über die Richtung verwundert, aus der der Schuss kam. Obwohl - vielleicht hätte ich doch nicht verwundert sein sollen, denn die Richtung aus der Schuss kam, wird gemeinhin überschätzt.
Die Kugel kam in Form eines Buches von der SZ Mediathek. In einem, selbstverständlich wunderschönen, sehr seriösen Karton, kam ein Buch über die Fussballweltmeisterschaft 2002. Ich hatte vergessen, dass 2002 eine Fussballweltmeisterschaft (in Asien sogar) gewesen war, und ich hatte auch vergessen, welch glanzvolle Rolle die deutsche Nationalelf, wie ja immer, dabei gespielt hatte.
Schaut mal rein:
Als ich den seriösen Karton unseriös und unzerimoniös auseinanderriss, wunderte ich mich die ganze Zeit, warum ich von der SZ Mediathek ein kostenloses Fußballbuch erhalten sollte. Denn genau das war es: ein Geschenk für einen Premiumkunden.
Ich war also Premiumkunde. Eine unglaubliche Erkentnis, die mich mehr erschüttert hat als das Heideggersche "man". Ich dachte dann wirklich hart nach, so zwei, drei Minuten - so wie man nachdenkt, wenn man z.B. ein Buch von Habermas verstehen will, warum ich Premiumkunde bin. Warum ich? Warum nicht z.B. Billy Idol oder Josef Brunnhuber? Ich kam zu folgendem Schluss:
Der SZ-Verlag hat natürlich eine Customer Relationship Management- Software. Das ist so eine riesengroße Datenbank, in die sie Adressen einspeisen und den Leuten da drin dann Vorlieben und viele andere Charakteristika zuweisen. Ich bin da drin, weil erst ich die Reihe "Große Pianisten des 20 Jhdts." geklauft (Fehlkauf) und dann auch noch die größten Kinderbücher des 20. Jhdts. abonniert habe. Ob das auch ein Fehlkauf war, weiß ich nocht nicht.
Deshalb also! Die dachten sich bei der SZ: dieser Typ mit dem englischen Namen, der hat schon zwei völlig beschissene Premiumangebote gekauft, kann also nicht ganz beo Trost sein - also bieten wier ihm gleich das nächste an. Das war also der erste Grund, warum sie mir diesen Band zugeschickt haben.
Aber es gibt noch einen Grund, und der kommt jetzt. Irgendwie müssen die in den Besitz meines ganzes Profils gekommen sein (Verfassungsschutz? BND? Krankenkasse? Anrufe bei Mitabiturienten?), und dieses Profil hat ihnen gesagt: der steht auf Fußballbücher. Und nicht auf eines - nein, auf 15 gleich. Für jede Weltmeisterschaft seit 1954 eines.
Ich nehme an, mein Profil bei denen in der Datenbank sieht so aus: 44, männlich, qualifizierender Hauptschulabschluss (knapp verfehlt), abgebrochene Ausbildung zum Landmaschinenmechatroniker, ländliche Gegend, katholisch, etwas beschränkt also, trinkt öfter, 4,5 Stunden Fernsehkonsum pro Tag, gebrauchter Passat, ADAC-Mitglied, Bandscheibenprobleme, liest viel (über Fußball) - also genau die Zielgruppe, die wahrscheinlich ein Bilderbuch über eine Fußballweltmeisterschaft kauft.
Trotz der sensiblen Analyse in der CRM-Datenbank der SZ bin ich nicht die Zielgruppe für dieses Buch. Das erstaunt mich auch! Wo doch die CRM-Software mich eindeutig identifiziert hat.
Ich habe das Buch, da kostenslos, beim Mittagessen durchgeblättert und, aus reinem Zufall, gleich Tomatensauce draufgekleckert.
Das Buch ist eine Offenbarung. Riesige Bilder, natürlich Hochglanz, z.B. von diesem ekelhaften italienischen Schiesdrichter, der aussieht, als wäre er gerade aus einem Gefangenenlager geflohen. Und natürlich Ollie Kahn, der einzige noch lebende, genetisch vollkommen intakte, Neandertaler, dessen Gesicht in verschiedenen Stadien der Verzerrung, reingezoomt auf Pickelgröße, zu sehen ist.
Was mich aber am meisten begeistert hat, ist der durchweg philosophische Charakter des Buches. Der Cracks der SZ-Sportredaktion geben dem Leser mit der selben Fruchtbarkeit, mit der manche australische Kröten grünen, tödlichen Schleim absondern, unglaubliche Perlen der Erkentnis zum Besten:
"Unfassbar. Ein Fehler. Oliver Kahn hat einen Fehler gemacht und damit das Finale entschieden." S. 10
"Sind die deutschen Siege hässlich?" S. 83
"Der Ball straft die Hinterhältigen." S. 94
"Das beste Spiel der Deutschen prägt viele Helden". S. 96
Gesamtwertung:
Erotik: *
Stil: **
Philisophischer Ansatz: *********
Spannung: *
Unterhaltung: *
Erkenntnistiefe: ************************************