Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

  • Von „Abschiedsfarben“ heißt es, dass es „ein typisches Alterswerk“ sei.

    Was ist das, ein Alterswerk? Ein Werk, in das all das oder zumindest manches von dem einfließt, was dem Schöpfer im Leben bisher wichtig war? Ist so ein Werk genährt, befeuert, möglicherweise auch getrieben von seinen Erfahrungen? Ein Resümee? Ein Vermächtnis?


    Stellvertretend für die weiteren Erzählungen ein paar Zeilen zu den ersten drei Texten:

    „Künstliche Intelligenz“ erzählt in der Ich-Form von der lebenslangen Freundschaft zweier Mathematiker und Informatiker in der DDR, der allerdings ein großer Verrat innewohnt: Der Erzähler hat die Fluchtpläne des anderen an die Stasi verraten, woraufhin der zuerst ins Gefängnis gesperrt wurde und fortan (zu brillant, um ganz auf ihn zu verzichten) in zweiter Reihe wirkte - zugunsten des Freundes. Der Erzähler wähnt sein Geheimnis bis zum Tod des Freundes gewahrt, bis dessen Tochter Akteneinsicht beantragt.

    In „Picknick mit Anna“, berichtet der Ich-Erzähler vom Mord an einer 17-Jährigen, den er, ein älterer Mann, vom Fenster seiner Wohnung gegenüber beobachtet, aber weder einschreitet noch die Polizei verständigt.

    In „Geschwistermusik“ lernt ein junger Mann aus der Mittelschicht eine junge Frau aus reichem Haus kennen, die ihn mit ihrem querschnittsgelähmten Bruder bekannt macht. Enttäuscht, dass seine Liebe zu Susanne scheinbar nicht erwidert wird, gleichzeitig überfordert von der Rolle, die er für den Bruder spielen soll, flüchtet er sich in ein Auslandsschuljahr nach Amerika. Jahrzehnte später gibt es ein zufälliges Wiedersehen, das zur Offenbarung ihrer Beweggründe führt.


    So und ähnlich haben alle Erzählungen einen Twist in Richtung Rückschau, Lebenslügen, Entscheidungen oder auch begangene Fehler, die das Leben des Protagonisten in eine bestimmte Richtung gelenkt haben.

    Die Erzählungen in „Abschiedsfarben“ handeln, wollte ich es auf einen einzigen Nenner bringen, ja, offensichtlich, von Abschieden - unter Personen, auch vom Leben - aber mehr noch von Verstrickungen. Von gefühlsmäßigen Bindungen, die gekappt werden, von lebensverändernden Entscheidungen, die im Rückblick (länger oder kürzer während) enthüllt, betrachtet, (neu) bewertet werden. Es sind teils dramatische Blicke in die Vergangenheit, Konfrontationen mit verpassten Möglichkeiten, aus Gründen, die der Leser als falsch oder richtig oder irgend etwas dazwischen interpretieren kann, die er womöglich übertragen kann auf selbst erlebte Dinge. Schlink hat seine Erzählungen mit charakterlich tiefgründigen Personen bevölkert, und die Art, wie er von ihnen erzählt, wie er Vergangenheit und Gegenwart miteinander verflicht, ist gekonnt und eingängig. So sieht man sie förmlich vor sich, die Schülerin Susanne und Susanne mit offenen weißen Haaren in der Oper, und erkennt die alte Frau in der jungen wieder. Wiewohl man Geschichten als erfunden betrachten sollte, kann aber wohl niemand, der selbst schreibt, verhehlen, dass auch immer etwas oder sogar viel von eigenen Erfahrungen ins Schreiben miteinfließt. Ob oder eher wie weit das in dieser Sammlung passiert, ist die Frage. Es gibt sie auf jeden Fall, die autobiografischen Bezüge. Man muss das aber natürlich nicht offenbaren, den Leser nicht aufklären.


    Die Geschichten sind nicht alle gleich gut - oder wahrscheinlich sollte ich sagen, sie haben mir nicht alle gleich gut gefallen. Zuletzt gingen mir ein paar betuliche Formulierungen auf die Nerven wie auch der berichtende Stil allgemein. Da wird nur aufgezeigt, zusammengefasst, bewertet, hin und her gewendet - tatsächlich passieren tut mitunter lange nichts. Es sind Resümees, auch mal ein Räsonieren, es plätschert manchmal etwas dahin (besonders wahrscheinlich wenn man das vom Autor selbst eingelesene Hörbuch gewählt hat) in einer Sprache, die Bildung im Kreuz hat, aber gleichzeitig auch etwas blutleer daherkommt - gewählt, höflich, distanziert, sehr gefasst. Mag sein, das bringt das Alter mit sich: Die entscheidenden Dinge sind in der Vergangenheit, in der Jugend passiert. Auch ein zorniger Blick zurück verspräche keine Änderung. Und ja, womöglich denken und sprechen akademisch gebildete Männer um die Siebzig so. Man muss das mögen. Mir wurde es gegen Ende zuviel.


    ASIN/ISBN: 3257246439