Shirley Jackson: Wir haben schon immer im Schloss gelebt

  • Die achtzehnjährige Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, lebt mit ihrer älteren Schwester Constance und ihrem Onkel Julian, der im Rollstuhl sitzt, in einem herrschaftlichen Haus in Vermont. Nach einer Familientragödie, durch die vor sechs Jahren die Eltern der Schwestern, ihr jüngerer Bruder und die Tante umkamen, nach einem Prozess, in dem man Constance einen Giftmord an ihrer Familie nicht nachweisen konnte, leben die Drei ein zurückgezogenes, geradezu einsiedlerisches Leben. Allein Merrycat verlässt das Grundstück für den wöchentlichen Einkauf. Damit begibt sie sich jedesmal auf einen Spießrutenlauf, denn die Dorfbewohner verspotten sie, Erwachsene wie Kinder. Regelmäßig bekommen sie Besuch von einer alten Freundin der Mutter, aber selbst diese verhält sich ambivalent, indem sie zum Beispiel klar sensationslüsterne Freundinnen mit in das Haus der geächteten Blackwoods schleust. Dabei tut Merrycat alles, um sich und die ihren abzuschotten: Sie kontrolliert nicht nur regelmäßig den Zaun, der das Grundstück umschließt, sondern betreibt allerhand Abwehrzauber. Der Onkel schreibt an seinen Memoiren, die Schwestern halten das Haus in all seinem verschwenderischen Überfluss in einer festen Routine peinlich sauber. Constance kocht mit Leidenschaft und kümmert sich um ihren Garten. Es ist ein immer gleicher, aber auch irgendwie idyllisch anmutender Alltag, unter dessen Oberfläche der Abgrund gähnt: Die „überlebenden“ Blackwoods leben - im übertragenen Sinne - mit den Gespenstern ihrer toten Verwandten und verschanzen sich vor Dämonen, die außerhalb ihres Grundstücks darauf lauern, ihnen etwas anzutun.

    Eines Tages wird ihr Leben durch einen Cousin gestört, der sich zunehmend aggressiv bei ihnen einnistet. Constance, die mittlerweile daran zweifelt, dass ihr abgeschiedenes Leben richtig sein kann, zeigt sich aufgeschlossen gegenüber Charles. Merrycat hingegen versucht in einer kindlich-hilflosen Art alles, um ihn zu vertreiben.

    Schließlich kulminieren die Geschehnisse in einem furiosen Akt der Zerstörung.

    Hier beende ich die Zusammenfassung der Handlung, der Roman endet hier nicht.


    Erzählt wird der Roman aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Merrycat. Ihre Sicht auf die Welt ist geprägt von Feindseligkeiten der Außenwelt gegen ihre Familie. Ihre Familie, die wahrscheinlich - Einzelheiten bleiben dem Leser vage - ja selbst nie ein sicherer Ort war, ist geschrumpft auf den Onkel und die geliebte Schwester, die sie, aus der untypischen Rolle der jüngeren Schwester heraus, vor der bösartigen Welt außerhalb ihres Anwesens beschützen möchte.

    Es wird nicht oft klar, dass der Roman (wahrscheinlich) in den 1960-er Jahren spielt, denn es gibt wenige zeittypische Anker im Text. „Modernes“ - Auto, Bus, Taschenlampe … - kommt meistens im Außen vor. Im Haus und darum herum gibt es vornehmlich ältere und nicht eindeutig zu datierende Dinge. Die Schwestern und der Onkel leben mit Gegenständen, die Generationen von Blackwood-Frauen angeschafft haben, mit selbstgezogenem Gemüse und dem Wald, der das Haus umgibt. Das, und die Sprache der Merrycat, welche oft jünger wirkt als sie ist, im Setting der 1960-er-Jahre aber auch tatsächlich noch nicht volljährig war, naiv und klar zugleich, geben dem Roman als solches über weite Strecken etwas Zeitloses.


    „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ gilt als der beste Roman von Shirley Jackson. Er wird dem Mystery-Genre zugerechnet, und dort der (als solches umstrittenen, nicht klar zu umreißenden) Gattung Slipstream. Damit bewegt er sich auf einer Grenze: Es ist kein phantastischer Roman, denn tatsächlich gibt es keine übernatürlichen Elemente. Dafür bedient er sich Methoden wie der eines unzuverlässigen Erzählers und Auslassungen. Die „phantastische“ Welt existiert alleine im Kopf der Ich-Erzählerin Merrycat, die an Magie glaubt und Abwehrzauber praktiziert, um die Realität von ihrer Schwester und sich fernzuhalten, die Realität, die für die eingeschworene Gemeinschaft der Schwestern (mit dem eher nur geduldeten, aber dennoch umsorgten Onkel) aus der tatsächlichen Feindseligkeit und Grausamkeit der Außenwelt, der Einwohner des Dorfes, besteht. Da ist der Zaun um das großzügige Anwesen, den der Vater gebaut hat, die Agoraphobie der Schwester, die zunehmende geistige Eintrübung und der körperliche Verfall des Onkels, das Gefühl der Abgeschiedenheit, aber auch ein großzügiges, vermeintlich sicheres Refugium. Merrycat sucht Halt und Heil in der von dieser erwiderten Liebe zu ihrer Schwester, der Verbundenheit mit Kater Jonas und im Glauben an Magie. Sie sind eine verschworene Gemeinschaft, die fest zueinander steht, obwohl (von innen betrachtet) den beiden „unschuldig“ Beteiligten klar sein muss, dass einer der beiden anderen der Mörder ihrer übrigen Familie ist. Das ist eine gewagte psychologische Konstellation, die eines Autors bedurfte, der dies tatsächlich glaubhaft vermitteln konnte. Oft liest man, der Roman sei in einer einfachen Sprache geschrieben: Dem stimme ich nicht zu. Vielmehr hat die Sprache der Merrycat oft etwas Klarsichtiges und Doppelbödiges. Shirley Jackson ist so ohne Einschränkung gelungen, eine zunächst unwahrscheinlich scheinende Geschichte glaubhaft zu erzählen.


    Würde man Shirley Jackson (1916 - 1965), die hauptsächlich durch Werke bekannt wurde, die im Grusel- und Horror-Genre angesiedelt sind („Spuk in Hill House“) mit dem Etikett einer Autorin von Spukromanen versehen, würde man sie damit deutlich unterschätzen. Andere ihrer Bücher befassen sich (autobiografisch und aus Zeitungskolumnen hervorgehend) mit Familie und Haushalt („Life among the Savages“, in der deutschen Übersetzung weit weg vom Original 1954 betitelt mit „Nicht von schlechten Eltern“, 2022 noch weiter weg mit „Krawall und Kekse“). Tatsächlich hat sie auch früh Topoi, launige wie düstere, behandelt, die sich in späteren Werken anderer Autoren, Filmschaffenden etc. wiederfinden. Wäre Jackson heute eine „Mama-Bloggerin“ und gleichzeitig Autorin besonders düsterer Romane, die Abgründe unter biederen Fassaden enthüllen? Wer weiß.

    Vor zwei Jahren gingen schon Artikel durch die Presse, die darauf hinwiesen, dass hier eine von weiten Kreisen unterschätzte Autorin wiederzuentdecken sei. Dem schließe ich mich an.