John Irving: Der letzte Sessellift

  • Wie ein sehr langer Spaziergang bei herrlichem Wetter, aber durch eine trostlose Landschaft und in Begleitung von Nervensägen


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    Als ich vor über zwanzig Jahren das Manuskript meines Debütromans aus der ersten Lektoratsbearbeitung bekam, waren darin ziemlich viele Stellen gerötet. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, stellte ich fest, dass der Lektor vor allem die vielen kursiv geschriebenen Wörter bemängelt hatte, teilweise gab es davon mehrere pro Satz. „Warum machst du das?“, hatte er an einer Stelle an den Rand geschrieben. Nunwohl, diese Marotte, das Kursive so intensiv einzusetzen, hatte ich mir von John Irving abgeschaut, von dem ich zu jener Zeit ein großer Fan war. Ich bewundere ihn nach wie vor, aber als begeisterten Leser hat er mich irgendwo zwischen „Zirkuskind“ und „Die vierte Hand“ verloren, und mit „Bis ich Dich finde“ hatte er mich sogar verärgert. Dann griff ich ein paar Jahre später und ein bisschen gelangweilt nach „Letzte Nacht in Twisted River“, das mich ziemlich begeistert hat. Okay, „In einer Person“ war wieder schwerer auszuhalten, aber immer noch okay, vor allem thematisch. „Straße der Wunder“ hatte allerdings Killerqualitäten, quälte und mäanderte, und eigentlich wollte ich deshalb einen Riesenbogen um „Der letzte Sessellift“ machen. Irving hat sich selbst kräftig auserzählt, er hat seine Motive und Figurenkonstellationen und Themen inzwischen so oft wiederholt, dass man statt eines Hirns eine Mülltüte im Schädel tragen müsste, um nicht zu verstehen, worauf er hinauswill, was ihm wichtig ist, wozu er mahnt, wovon er spricht. Aber all das (Neu-England, AIDS, das Ringen, Lehrerjobs, skurrile Großfamilien, ein breiter Strauß von sexuellen Orientierungen, Menschen mit eigener Sprache und/oder Sprachbarrieren, Mikrosomie, Schriftstellerei usw.) nun noch einmal auf über tausend Seiten breitzutreten, ohne dass ein marginal neuer Aspekt hinzukäme, gar eine nennenswerte Handlung, etwas wie ein Spannungsbogen – das war in gewisser Weise nicht nötig. Zumal die homöopathische Dramaturgie mit einer massiven Überdosis von irvingscher Maniriertheit kombiniert wird.


    Irving erzählt die Geschichte von Adam Brewster, der sehr klein ist, aber auch recht attraktiv, und er ist quasi der einzige Hetero weit und breit, jedenfalls aus Sicht des restlichen relevanten Romanpersonals. Seine Mutter, die Skilehrerin, ist homosexuell, heiratet aber dennoch einen ebenfalls kleinen und sehr hübschen Lehrer, der nicht Adams Vater und transsexuell ist, was die Mutter (deren Vorname „Rachel“ lautet, was aber höchstens zwei-, dreimal im Roman vorkommt) nicht davon abhält, mit einer burschikosen Bergretterin zusammenzuziehen. Dazu kommt die ebenfalls lesbische Cousine Nora, mit der Adam ein herzliches und vertrautes Verhältnis hat, die mit einer Frau namens Emily lebt, die sich Em nennt, eigentlich aber überhaupt nicht spricht. Sie wird später, genau wie Adam, Schriftsteller. Und irgendwie geht’s auch ein bisschen ums Skifahren, aber eigentlich nicht wirklich. Möglicherweise ist das Skifahren eine Metapher, aber in „Der letzte Sessellift“ gibt es ganze Lagerhallen voll davon, da kommt es auf die eine nicht an.


    Der Roman umspannt mehr als sechs Jahrzehnte, springt von Episode zu Episode, oft übergangslos, fährt eine große Menge von Figuren auf, von denen die meisten, wie immer bei Irving, über irgendwelche Eigenschaften benannt werden („der Schneeläufer“, „die Raupenfahrerin“), obwohl von diesen Eigenschaften nur selten direkt erzählt wird. Teilweise sprechen sich die Figuren gegenseitig so an. Und es geschieht einfach überhaupt nichts, dafür wird alles unaufhörlich wiederholt. Die Episoden mit echter, fortschreitender Handlung ergeben insgesamt vielleicht fünfzig Buchseiten, und auf den restlichen fast tausend wird die Exzentrik á la Irving ausgebreitet. Ja, es geht dabei um wichtige Themen, vor allem um Toleranz, um Diversität, um Respekt vor Menschen, die sich nicht in die patriarchalisch-heteronormative Welt einfügen wollen. Das ist ganz prima und wichtig und voll super, aber so, wie der Altmeister das hier in seinem angeblich letzten Langtext macht, nervt es nur. „Der letzte Sessellift“ ist zum Heulen langweilig, sprachlich völlig überdreht, und wenn ich das Buch abends gegriffen habe, um dort weiterzulesen, wo ich am vorigen Abend aufgehört hatte, hatte ich entweder das Gefühl, den vor mir liegenden Text schon zu kennen oder ein paar Dutzend Seiten ausgelassen zu haben – oder beides zugleich.


    Ich bewundere John Irving immer noch. Er ist ein engagierter und wichtiger Künstler, er gibt vielem eine Stimme, das sonst ungehört bliebe, er trägt das Unkonventionelle über eigentlich recht konventionelles Erzählen in die Furnierwandschrankwohnzimmer. Oder er hat das getan, mit seinen ganz, ganz großen Romanen wie „Owen Meany“ oder „Gottes Werk“ und nicht wenigen anderen. Er ist ein großartiger Erzähler, ein Chronist und ein Geschichtenmann, aber die Entscheidung, sich nun nicht mehr in Ziegelsteinromanlänge zu Wort melden zu wollen, ist die richtige, denn er hat einfach nichts mehr zu erzählen, und das, was er zu erzählen hatte, ist von ihm selbst oft genug wiederholt worden. Das galt allerdings schon vor „Der letzte Sessellift“, dessen Lektüre ich wirklich niemandem ernsthaft empfehlen kann.

    ASIN/ISBN: 3257072228