Claire Dederer: Genie oder Monster

  • Kaum ein Kunstwerk, das „wir“ bewundern, und schon gar nicht jedes Lebenswerk eines Künstlers, lässt sich ohne Verbindung zu seinem Schöpfer wertschätzen - wobei „Kunstwerk“ hier ausdrücklich alles meint, für das es einen kreativen Schöpfungsakt bedurft hat: ein Gemälde genauso wie einen Film, ein Lied, einen Roman. Während für den gelegentlichen Betrachter/Konsumenten eines Werks dessen Schöpfer vermutlich keine besondere Rolle spielt, ist er für den Fan von herausragender Bedeutung. Vielleicht hat ihn der Urheber/die Urheberin mit seinem/ihrem Werk aus der Seele gesprochen, ihn ergriffen, bestätigt, getröstet, gar den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Wenn das erstmalig geschieht - und wahrscheinlich geschieht es nicht oft, dass einen etwas wirklich nachhaltig beeindruckt - wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch neugierig auf die Person hinter dem Werk, möchte ihren sonstigen künstlerischen Output kennenlernen, mitunter beeinflusst der sogar einen eigenen Schaffensprozess.


    Das ist nicht weiter problematisch, solange eigene Wertvorstellungen nicht mit Enthüllungen kollidieren, die den geschätzten Künstler in der Folge vom Sockel stoßen. Anschuldigungen werden erhoben, vielleicht wahr, vielleicht erlogen, vielleicht „ein bisschen wahr“. Was, wenn der Schöpfer des Werks, das man so schätzt, sich als Kotzbrocken oder gar als Straftäter entpuppt, als Mörder, als Antisemit, als Rassist, als Vergewaltiger ...? Der nur gelegentliche „Konsument“ der Kunst mag nur mit den Schultern zucken, für den Fan allerdings bricht mit ziemlicher Sicherheit eine Welt zusammen, sieht er sich doch vor entscheidende Fragen gestellt: „Darf“ er die Kunst weiter genießen? „Muss“ er sich lossagen? Gibt es einen Mittelweg? Man ist (oder war) ja nicht von ungefähr Fan. Warum einer Künstler A oder B gut findet, hat immer auch etwas mit einem selbst zu tun, über bloße Geschmacksgrenzen hinaus. Umso härter also die Entscheidung.


    Claire Dederer berichtet in „Genie oder Monster“ (das im Original schlicht „Monsters“ heißt) vom Publikum, das von „seinem“ Künstler fortan lassen soll, lassen will, nicht lassen kann, und sei es unter Qualen. Wie soll ein solches Dilemma aufzulösen sein? Es gibt schließlich keine Maschine, die den Wert von Kunst gegen menschliche Makel aufrechnet. Jeder Fan steht da vor dem ureigenen Dilemma, jeder muss, will er sich nicht abwenden, mit dem „Fleck“ leben, der sich dann auch auf ihn selbst ausbreitet.


    Dederer ist mit einer eigenen Vorliebe für einen solchen Künstler zum Thema gekommen: Roman Polanski. Sie zählt in ihrem Buch nicht etwa bloß „gefallene“ Künstler oder solche, deren „Monstrosität“ noch still akzeptiert wurden, auf, obwohl es natürlich Namen gibt, die unweigerlich vorkommen müssen: Polanski also, Woody Allen, Picasso, Hemingway … Sie schreibt über Me-too, wie sich die Rezeption von Frauen mit eigenen Gewalterfahrungen grundlegend von einer rein männlichen Sicht auf die Dinge unterscheiden kann, über feministische Blickwinkel, Cancel Culture, auch über hochgradig verstörende Werke, deren Schöpfer sich (nach allem, was man weiß) selbst nicht schuldig gemacht haben, die aber trotzdem in den Ruch geraten sind. Sie schreibt über Werke, die heute ihrer Überzeugung nach so kaum noch erscheinen würden, auch über den Drang, sich entweder über die „Monster“ zu stellen, sich abzugrenzen, oder gerade von ihnen angezogen zu werden. Sie schreibt über eine Art Rückschaufehler, wenn Stephen Fry in die Vergangenheit reisen und Richard Wagner ausreden möchte, so ein „fieses kleines Buch“ zu schreiben, welches fortan sein epochales musikalisches Genie beflecken würde. Sie führt aus, dass, während es viele Verbrechen gibt, deren sich männliche Künstler schuldig machen können, die am schlimmsten bewertete Schuld von Frauen darin bestehe, ihre Kinder zugunsten ihrer Kunst zu vernachlässigen oder gar zu verlassen (was, wie ich anmerken möchte, auch damit zusammenhängen könnte, dass Frauen/Müttern generell weniger Straftaten zugetraut und demnach auch nicht offenbar werden).


    Dass Dederer, was Künstlerinnen angeht, allein vom Verlassen ihrer Kinder spricht, ist meiner Meinung nach zu kurz gedacht, da es auch solche gegeben hat, die ihre Kinder nicht „nur“ zurückgelassen, sondern zum Objekt gemacht haben, um ihr Image zu stärken oder sogar um künstlerischen Ruhm erst zu erlangen - Joan Crawford findet kurz namentlich im Buch Erwähnung, nicht aber z. B. Irina Ionesco, deren Fotografien von/Filme mit ihrer Tochter Eva heute teils indiziert sind (dabei dürfte ihr der Name nicht unbekannt sein, gibt es doch einen Link zu Polanski).

    Nicht vorwerfen kann man der Amerikanerin Dederer, dass Männer wie Klaus Kinski in diesem Buch fehlen, der ansonsten gut in diese Reihe passen und in einer Betrachtung über Künstler im deutschsprachigen Raum nur einer von vielen sein würde.

    Ich gehe nicht mit allen Überlegungen und Schlüssen Dederers konform, bin aber insgesamt angetan von dem Buch, das viele Facetten von Kunst, Künstlern, Kunstschaffenden und Kunstrezipienten, als Autorin auch und gerade über das Schreiben, aufwirft.


    ASIN/ISBN: 3492072275